Wir schauen zehn Jahre zurück. Die Älteren werden sich noch erinnern: Noch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends war der Wedding für Menschen außerhalb des Wedding so attraktiv wie – sagen wir – Nordkorea. Das hatte auch Vorteile. Die Weddinger konnten die schönen Ecken ihres von Auswärtigen gemiedenen Stadtteils unter sich genießen, bei niedrigen Mieten und mit guten Einkaufsmöglichkeiten. Nur wenn es ans Ausgehen ging, musste man wohl oder übel auch schon einmal den Wedding verlassen, meistens jedenfalls.
Aus und vorbei – dank des ungebremsten Zuzugs neuer Berliner aus dem In- und Ausland ist auch der Wedding mit seiner zentralen Lage in den Strudel des Immobilienmarktes geraten. Erst hatten wir kein Glück (selbst hier wurden die Wohnungen knapp), dann kam auch noch Pech dazu (die Mieten und auch die Immobilienpreise stiegen). Alteingessene Bewohner der Kieze können sich die Mieten im Wedding nicht mehr leisten. Statt von einem Lottogewinn träumt man im Wedding heute von einer bezahlbaren Wohnung. Wer umziehen muss, für den heißt es: an den Stadtrand oder weg aus Berlin. Dafür sind ganz neue Nachbarn in die Kieze gezogen, die früher einen großen Bogen um den einstigen Arbeiterbezirk Wedding gemacht hätten. Ein Trostpflaster dieser Entwicklung: Für schicke Geschäfte, Cafés, Bars und Restaurants müssen sie jetzt nicht mehr in den Prenzlauer Berg fahren.
Zehn Jahre: Was weg ist
Bezahlbarer Wohnraum. Den gibt es vielleicht noch bei Genossenschaften, ansonsten wird sich zeigen, ob der vom Senat für nächstes Jahr geplante Mietendeckel wahlweise für das Ende des Mietenwahnsinns oder den Untergang des Abendlandes sorgt.
Abwechslungsreiche Geschäftswelt. Die einstigen Einkaufsstraßen Badstraße und Müllerstraße leben nur noch in der Erinnerung als “Ku’damm des Nordens” oder Bummelmeilen weiter. 2011 schloss C&A in der Müllerstraße (und unzählige Fachgeschäfte folgten). Real schloss die Filiale im Gesundbrunnencenter (und 2020 folgt die andere Filiale im Schillerparkcenter). Einziger Leuchtturm bleibt der Karstadt am Leopoldplatz, dessen Existenz nicht mehr in Frage steht.
Die einzige Markthalle im Wedding ist 2012 verschwunden – mit gemischten Gefühlen denkt man an die abgewrackte Müllerhalle zurück. Hätte sie heute eine Chance, wo sich jeden Sommer und vor Weihnachten die Kunst- und Designszene des Wedding auf dem Weddingmarkt präsentiert? Dort beweisen die Weddinger, dass ihre Produkte ein kaufkräftiges Publikum finden können.
Tausende Weddinger haben in ihm Schwimmen gelernt oder ein Wannenbad genommen – das Stadtbad Wedding. 2009 vom Land für wenig Geld an einen Investor verkauft, hatte es sich in der ersten Hälfte der 2010er-Jahre zu einem Standort für alternative Kultur, Kunst, Musik, Club und Coworking-Space entwickelt. Die baupolizeiliche Sperrung erfolgte 2015 scheinbar aus dem Nichts, doch der lukrative Weiterverkauf ließ nicht lange auf sich warten. 2016 wurde das Gebäude abgerissen und durch ein gesichtsloses Gebäude mit Studentenappartements ersetzt. Diese Appartementkomplexe gibt es mittlerweile an vielen Orten im Wedding.
Um den Mauerpark zu erweitern, hat der Wedding 2017 freundlicherweise ein paar Hektar des Ortsteils Gesundbrunnen an Pankow abgegeben. Damit auch den Flohmarkt am Mauerpark. Bitte, gern geschehen!
Zehn Jahre: Was sich nicht geändert hat
Der Wedding bleibt ein armer Stadtteil. Trotz demographischer Veränderungen bleiben die durchschnittlichen Einkommen niedrig, die Schuldnerquote hoch. Bemerkenswert ist: je zentraler ein Kiez liegt, desto gemischter wird er. Die sozialen Brennpunkte haben sich weiter nach Norden verschoben, in Richtung Reinickendorf.
An der Luxemburger Straße gibt es seit 1983 einen Kinderbauernhof – eine Oase für Großstadtkinder mitten in der Stadt. “Unsere kleine Farm” wechselte den Betreiber, was zu einer Posse ersten Ranges führte, denn der bisherige Träger ließ sich nicht sang- und klanglos vom Hofe jagen. Unter dem Namen “Kinderbunter Bauernhof” ist uns und den Weddinger Kindern zum Glück die Farm erhalten geblieben.
Die Müllerstraße wurde im letzten Jahrzehnt trotz vieler Ankündigungen nicht umgestaltet. Noch immer ist sie vierspurig, ein Geländer oder ein betonierter Mittelstreifen machen sie kaum durchlässig für Fußgänger, die Bürgersteige sind wenig einladend und ohne Sitzgelegenheiten. Ein ausreichend breiter und geschützter Fahrradstreifen? Fehlanzeige, auch wenn das für einen Tag ausprobiert wurde. Dafür hat es jetzt viele Open-Air-Ausstellungen mit Plakatwänden auf dem Mittelstreifen gegeben, die uns über diesen hässlichen Ort hinweggetröstet haben.
Der Autoverkehr ist nicht zurückgedrängt worden. Im Gegenteil, Raserei, illegale Autorennen, Parken in zweiter Reihe gehören immer noch zum Alltag auf Weddings Straßen.
Und zu Stuttgart ist der Wedding auch nicht geworden: Der Dreck auf den Straßen, abgestellter Sperrmüll und überquellende Mülleimer in den Parks gehören irgendwie noch immer zur Folklore in unserem Stadtteil. Anders als von vielen erhofft, hat das den Wedding auch nicht vor Gentrifizierung bewahrt. Nicht so schön, Wedding!
Politisch hat sich auch einiges verschoben. War der Wedding bis Mitte des Jahrzehnts eine sichere Bank für Sozialdemokraten, liefern sich in den meisten Wahlkreisen inzwischen die SPD und die Grünen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Auch der Posten des Bezirksbürgermeisters von Berlin-Mitte, den lange Christian Hanke von der SPD innehatte, ist seit 2016 in grüner Hand.
Zehn Jahre: Was kam und ging
Für eine Saison im Jahr 2017 tauchte ein Holzhaus im Soldiner Kiez auf – aus Hunderten Einzelteilen wurde das Haus der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Rosa Parks aus den USA in den Wedding verfrachtet, aufgebaut und wieder zerlegt.
Ein wunderbarer Gemeinschaftsgarten namens Himmelbeet verzaubert seit 2013 eine Brache an der Schulstraße/Ruheplatzstraße. Nicht nur wegen des Grüns, sondern auch wegen der vielen nachhaltigen KIezprojekte. Leider muss es Ende nächsten Jahres einem sozialen Projekt namens Safe Hub weichen, doch der Bezirk hat es bis jetzt nicht vermocht, eine geeignete Ausweichfläche zu finden und zur Verfügung zu stellen. Hoffnungen auf einen Standort am Mettmannplatz hatten sich zuletzt zerschlagen.
Zehn Jahre: Was gekommen ist
Das Angebot ist mit einer sich verändernden Bewohnerschaft breiter als vor zehn Jahren. Wer Bio-Lebensmittel sucht, findet sie auf dem Ökomarkt, der Bio-Bäckerei Bucco oder Bioläden, zwei denn’s‑Biomärkten und einer Bio Company.
Rund um den früheren Rathausturm Wedding hat sich in den letzten zehn Jahren viel verändert. Der Turm wurde umfassend saniert und ist jetzt Standort des Jobcenters. Im Altbau befindet sich nach wie vor ein Verwaltungsstandort des Bezirks Mitte, auch wenn das Bürgeramt 2013 an den U‑Bahnhof Osloer Straße umgezogen ist. Der “Rathausvorplatz” erhielt zwar keinen Namen, dafür einen neuen Weg mit zwei Namensgebern. Er wurde bis 2018 umgestaltet und zeigt sich jetzt, sagen wir, aufgeräumt. Dafür gibt es an seiner Südseite eine schicke neue Bücherei, die Schiller-Bibliothek.
Ein kleines Wunder an der oberen Müllerstraße: das City Kino Wedding hat es nicht nur geschafft, das traditionsreiche Kino im Centre francais wiederzubeleben. Nein, es bereichert den Wedding auch mit einem ausgesuchten Arthouseprogramm, Festivals und Events. Sogar die Berlinale hat sich zwei Mal in dieses wunderbare Kino verirrt. Und auch die Preisverleihungen der beiden Kurzfilmwettbewerbe des Weddingweisers wurden dort feierlich begangen.
Der zugige Platz auf der Betonplatte über dem 2006 eröffneten Fern- und Regionalbahnhof Gesundbrunnen ist 2015 einer zugigen Empfangshalle gewichen. So richtig gemütlich ist es dort auch jetzt nicht, immerhin gibt es aber ein Reisezentrum, ein paar Einkaufsmöglichkeiten und Imbisse.
Wenngleich die BVG versucht, den Status als Weltkulturerbe zu bekommen – wir im Wedding haben ihn bereits. Die Siedlung Schillerpark ist seit 2008 Weltkulturerbe. Im letzten Jahrzehnt wurden die Plansche saniert und das Toilettenhäuschen zum Café umgebaut. Und jetzt wissen nicht nur wir, sondern zumindest ganz Berlin: Der Wedding ist eigentlich gar nicht so unattraktiv. Sogar stellenweise ziemlich teuer. Wer hätte das vor zehn Jahren geglaubt?