Mastodon

Was tun gegen die Armut im Wedding und Gesundbrunnen?

18. Juli 2018
1
Klassische 1920er Jahre am Rathaus-Altbau
Rat­haus Wed­ding – hier befin­det sich das Amt für Soziales.

Mei­nung Alle zwei Jah­re legt die Senats­ver­wal­tung für Stadt­ent­wick­lung zeit­ver­setzt neue amt­li­che Zah­len­ko­lon­nen über die letz­ten zwei Jah­re vor, die Aus­kunft geben sol­len, wie es um die sozia­le Lage in unse­ren Kiezen steht. Wie vie­le  Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner sind arbeits­los? Wie vie­le leben von Trans­fer­leis­tun­gen, weil sie nicht von ihrer Arbeit leben kön­nen oder weil sie zum Bei­spiel auf­grund gesund­heit­li­cher Ein­schrän­kun­gen nicht arbei­ten gehen kön­nen? Wie vie­le Kin­der und Jugend­li­che unter 15 Jah­ren leben in Haus­hal­ten, in denen das Geld der Eltern am Ende des Monats nicht zum (Über)leben für alle reicht und wo ergän­zen­de Trans­fer­leis­tun­gen bezo­gen wer­den? Und wie vie­le Men­schen lei­den unter Altersarmut?

Für den Wed­ding und den Gesund­brun­nen wird zwar ein Rück­gang an Arbeits­lo­sen und armen Kin­dern und Jugend­li­chen ver­zeich­net. Ich bezweif­le jedoch, dass dies aus­schließ­lich der guten wirt­schaft­li­chen Lage in Ber­lin geschul­det ist oder ob nicht eher ein erheb­li­cher Anteil des Rück­gangs durch den „Fak­tor Ver­drän­gung durch stei­gen­de Mie­ten“ bedingt ist. Wer kennt nicht wen, der Post vom neu­en Haus­ei­gen­tü­mer bekom­men hat? So ver­än­dern sich auch Sta­tis­ti­ken zum Posi­ti­ven, da dort nur die Leu­te erfasst sind, die im Wed­ding und Gesund­brun­nen auch tat­säch­lich wohnen.

Die soziale Lage vor Ort bleibt ernst

Moni­to­ring Sozia­le Stadt­ent­wick­lung 2017

Mehr als die Hälf­te aller Kin­der und Jugend­li­chen mit Quo­ten von bis zu 70 Pro­zent rund um die Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße leben in Armut und kom­men ohne staat­li­che Unter­stüt­zung nicht über die Run­den. Eben­so sieht es aus bei zir­ka einem Drit­tel aller erwach­se­nen Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner, die ergän­zen­de Trans­fer­leis­tun­gen vom Staat bekom­men, weil sie trotz Arbeit arm sind oder weil sie zum Bei­spiel aus gesund­heit­li­chen Grün­den nicht arbei­ten kön­nen. Auch der Anteil der Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner, die arm im Alter sind, liegt um bis zu 200 Pro­zent höher als der Ber­li­ner Durch­schnitt. Und das alles sind nur die Zah­len derer, die staat­li­che Hil­fe bekom­men, weil sie die­se bean­tragt haben (dafür müs­sen sich vie­le erst ein­mal über­win­den). Ins­be­son­de­re bei der Grup­pe der armen Senio­rin­nen und Senio­ren ist fest davon aus­zu­ge­hen, dass die­se Zahl tat­säch­lich höher sein dürf­te, da nach­weis­lich vie­le Senio­rin­nen und Senio­ren aus Scham kei­ne Sozi­al­leis­tun­gen nach einem lan­gen Arbeits­le­ben beantragen.

Hin­ter all die­sen Zah­len ste­hen Men­schen, die tag­täg­lich dar­um kämp­fen müs­sen, über die Run­den zu kom­men. Sei es wegen stei­gen­der Mie­ten, die die weni­gen Ein­nah­men fres­sen. Sei es, weil neue Anschaf­fun­gen auf das Aller­nö­tigs­te redu­ziert wer­den müs­sen  oder sei es, weil der Kon­to­stand schon Mit­te des Monats wie­der in eine bedroh­li­che Schief­la­ge gerät.

Was gegen Armut getan werden muss

Es muss des­halb mehr unter­nom­men wer­den, um die Armut vor Ort zu bekämp­fen. Das pas­siert bereits jetzt schon, ist aber deut­lich aus­bau­fä­hig. Natür­lich müss­te man hier­für auf der Bun­des­ebe­ne anfan­gen: Hartz 4 kräf­tig erhö­hen und die Sank­tio­nen abschaf­fen, eine finan­zi­el­le  Kin­der­grund­si­che­rung für alle Kin­der ein­füh­ren, den Min­dest­lohn wei­ter erhö­hen und und und … Auf Lan­des­ebe­ne muss die ein­ge­setz­te Kom­mis­si­on zur Bekämp­fung von Kin­der­ar­mut end­lich kon­kre­te Vor­schlä­ge vor­le­gen, wie die Benach­tei­li­gung armer Kin­der und Jugend­li­cher spür­bar abge­baut wer­den kann. In die­ser Kom­mis­si­on ist auch die Jugend­stadt­rä­tin des Bezirks­amts Mit­te vertreten.

Die Möglichkeiten des Bezirks Mitte

Auf Bezirks­ebe­ne pas­siert schon eini­ges. Ein­schrän­kend muss hier­bei vor­an­ge­stellt wer­den, dass der Bezirk die direk­ten Aus­wir­kun­gen von Armut am ehes­ten bemerkt, ihm jedoch recht­lich zum Teil die Hän­de gebun­den sind. So bestimmt zum Bei­spiel nicht der Bezirk die Höhe von Sozi­al­leis­tun­gen. In den Berei­chen, wo Mit­te etwas tun kann, tut es aber was: So setzt sich das Bezirks­amt gegen­über dem Senat dafür ein, ein neu­es  Quar­tiers­ma­nage­ment im Gesund­brun­nen ein­zu­rich­ten, um über ver­schie­de­ne För­der­pro­gram­me quar­tiers­be­zo­ge­ne Benach­tei­li­gun­gen der Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner abbau­en zu kön­nen. Auch wird beim Job­cen­ter eine neu­tra­le Ombuds­stel­le ein­ge­rich­tet, die bei Strei­tig­kei­ten zwi­schen dem Job­cen­ter und Betrof­fe­nen ver­mit­teln soll, sodass im Zwei­fel Strei­tig­kei­ten ums Geld schnel­ler geklärt wer­den können.

Mit der Ein­rich­tung neu­er Milieu­schutz­ge­bie­te im Wed­ding wer­den Mie­te­rin­nen und Mie­ter vor Luxus­sa­nie­run­gen geschützt und  auch wird kräf­tig in den Aus­bau der Schuld­ner­be­ra­tung inves­tiert, denn ein Groß­teil derer, die die Schuld­ner­be­ra­tun­gen auf­su­chen, bezie­hen Trans­fer­leis­tun­gen. Der Wed­ding hat eine der höchs­ten Quo­ten ver­schul­de­ter Men­schen im Ver­gleich zu den ande­ren Ber­li­ner Kiezen. Zwangs­räu­mun­gen tref­fen ins­be­son­de­re arme Men­schen. Hier ist es geplant, Sozi­al­ar­bei­te­rin­nen und Sozi­al­ar­bei­ter zu beschäf­ti­gen, die Per­so­nen, die eine Räu­mungs­mit­tei­lung wegen Miet­schul­den erhal­ten haben, per­sön­lich auf­zu­su­chen, damit nicht die Men­schen zum Amt, son­dern das Amt zu den Men­schen kommt mit dem Ziel, über Bei­hil­fen oder Dar­le­hen die Miet­schul­den zu über­neh­men und den Wohn­raum zu erhalten.

Kampf gegen Armut: Aufgaben

Dies alles ist gut, genügt jedoch nicht: Nicht die wahl­lo­se Ver­mitt­lung von Kun­din­nen und Kun­den des Job­cen­ters in schlecht bezahl­te Call­cen­ter­jobs, son­dern ihre stär­ke­re beruf­li­che Qua­li­fi­zie­rung ist sinn­voll, damit nie­mand am Ende eines Monats wie­der zum Job­cen­ter gehen muss, um das mick­ri­ge Gehalt auf­zu­sto­cken. Denn von der beruf­li­chen Qua­li­fi­zie­rung hängt direkt ab, wel­chen Job jemand aus­übt. Auch muss das Bezirks­amt  die Bear­bei­tungs­zeit beim Wohn­geld dras­tisch ver­kür­zen und Antrag­stel­le­rin­nen und Antrag­stel­lern einen Vor­schuss ein­räu­men, wenn dies gewünscht wird (ja, das geht. Mir teil­te das Bezirks­amt mit, dass dies bis­her aber 0 Mal der Fall war …). Denn was nützt einem die Wohn­geld­nach­zah­lung, wenn bis dahin die Woh­nung wegen Miet­schul­den gekün­digt wur­de? Zu guter Letzt muss mehr gegen die Kin­der­ar­mut unter­nom­men wer­den. Hier gibt es gute Kon­zep­te aus ande­ren Kom­mu­nen, von denen Mit­te noch eini­ges ler­nen kann.

Taylan Kurt, Bezirksverordneter der Grünen

 

Taylan Kurt ist Bezirks­ver­ord­ne­ter in Ber­lin-Mit­te. Er gehört der Par­tei Bünd­nis 90/Die Grü­nen an. Er  ist Spre­cher für Sozia­les, Wirt­schaft und Ord­nungs­amt und Ange­le­gen­hei­ten des Jobcenters.

Gastautor

Als offene Plattform veröffentlichen wir gerne auch Texte, die Gastautorinnen und -autoren für uns verfasst haben.

1 Comment

  1. Wei­te­re Auswirkung:
    Auch wenn es immer wie­der vehe­ment abge­strit­ten wird – es deu­tet doch vie­les dar­auf hin, dass auch die Rating-Unter­neh­men wie z.B. Schufa eine Geo­lo­ka­li­sa­ti­on beim Scoring vor­neh­men. Kon­kret bedeu­tet dies, dass Men­schen, die im Wed­ding leben und einen Kre­dit in Anspruch neh­men wol­len, deut­lich schlech­ter gestellt wer­den, als Bewoh­ner ande­rer Stadtteile.
    Oder: Wer Geld für einen (Anschaffungs-)Kredit braucht, bezahlt dies im Wed­ding teue­rer als anderswo.…

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

MastodonWeddingweiser auf Mastodon
@[email protected]

Wedding, der Newsletter. 1 x pro Woche



Unterstützen

nachoben

Auch interessant?