Das Erste, was neue Bewohner oder Besucher unseres Stadtteils feststellen werden: Den einen Wedding gibt es gar nicht. Hat man beispielsweise ein Bild von endlosen tristen Mietskasernen vor Augen, von mit Spielcasinos, türkischen Gemüseläden und Wettbüros überbordenden Straßen oder langweiligen Gewerbegebieten mit Döner-Produktionsstätten, so blendet man den größten Teil des Weddings aus. Der ist nämlich grün (Parks!) und blau (Panke! Schiffahrtskanal! Plötzensee!). Außerdem unterscheiden Bürokratie-Fans seit 2001 zwischen den beiden Ortsteilen Wedding (der westliche Teil des ehemaligen Bezirks Wedding) und Gesundbrunnen (rund um den gleichnamigen Bahnhof). Den Unterschied im Lebensgefühl beider Ortsteile hat noch keiner wissenschaftlich erforscht, daher lassen wir das einmal beiseite.
Zwischen Parks und Gewässern
Der westliche Wedding wird von Straßenschneisen zerschnitten, die die Kieze scharf voneinander abgrenzen. Nördlich der extrem breiten Seestraße liegen die beiden grünsten Teile des Wedding, denn das „Parkviertel“ wird von den beiden größten Parks eingefasst. Industrie hat es hier auch nie gegeben, sodass der Norden des Wedding ein bisschen luftiger wirkt als der Rest des Stadtteils. Dafür ist die Anzahl der Geschäfte, Cafés und Arbeitsplätze sehr viel niedriger und lässt kaum Innenstadt-Feeling aufkommen. Die Straßen sind fast alle rechtwinklig zueinander angeordnet. Westlich der Müllerstraße liegt das Afrikanische Viertel, dessen Straßennamen ursprünglich auf die koloniale Begeisterung der Kaiserzeit zurückgehen. Es liegt nah am riesigen Volkspark Rehberge und es wimmelt dort von Gärten, Kleingartenvereinen und luftigen Mittelstreifen. Östlich der Müllerstraße liegen die Straßen des Englischen Viertels, dessen Straßen tatsächlich aber auch nach schottischen und irischen Städten benannt sind. Neben – beeindruckend großen – Betriebshöfen für die U‑Bahn und Busse sind die meisten Häuser hier aus den 1920er-Jahren. Auch eine mustergültige Backsteinsiedlung ist dabei, die mittlerweile sogar den Status Weltkulturerbe führt. Dazwischen liegt der zweigeteilte Schillerpark, der dazu führt, dass es sich hier sehr angenehm wohnen lässt – ein meist weiter Blick inklusive. Im Übergangsbereich zu Reinickendorf gibt es mit der Schillerhöhe auch eine Siedlung, die vollständig nach dem Krieg erbaut wurde.
Altbauten südlich der Seestraße
Südlich der Seestraße beginnen die innenstadtnahen Kieze, die überwiegend in der Kaiserzeit entstanden sind. Bildung und Wissenschaft sind hier aber auch zu Hause: Denn die einzige Hochschule im Wedding, die Berliner Hochschule für Technik und die Uniklinik Virchow-Krankenhaus prägen den Brüsseler Kiez. An seinem Rand liegt auch die moderne, glänzende Schiller-Bibliothek. In diesem entspannten Altbauviertel westlich der Müllerstraße gibt es mit dem Zeppelinplatz einen grünen Mittelpunkt mit Riesen-Spielplatz und Sportgeräten für alle Altersgruppen. In der namensgebenden, multi-kulturellen Brüsseler Straße kann man auch in einigen Cafés und Restaurants einkehren. Durch das neu gestaltete Rathausumfeld rund um das Jobcenter und die Schiller-Bibliothek ist der Kiez jetzt auch eng mit dem Leopoldplatz verbunden.
Südlich der Hochschule und des Klinikums liegt der kleine, sympathische Sprengelkiez, der das Gebiet bis zum grünen Ufer des Schiffahrtskanals einnimmt. In den repräsentativen Altbauten am Wasser wohnte schon immer das Weddinger Bürgertum, doch die Bewohnerschaft im Rest des von Altbauten und sozialen Wohnbauten gemischten Kiezes rund um die Osterkirche verändert sich gerade. Eine breit gefächerte Gastronomie, eine lebendige Nachbarschaft und viele Grünflächen wie der Treidelpfad am Wasser oder der Sprengelpark haben dazu beigetragen, dass die Gentrifizierung den Wedding zuerst hier erreicht hat.
Fast schon dörflich
Überqueren wir einmal die Müllerstraße, inzwischen das “Schmuddelkind” des Wedding, dem man aber immer noch ansieht, dass sie früher einmal eine richtige Einkaufsstraße war. Zwischen den Osramhöfen an der Seestraße und der Ringbahn liegen rund um den Leopoldplatz vor allem Altbauquartiere. Ein schöner und lebendiger Teil des Wedding ist der Malplaquet- oder Osramkiez. In seinen teilweise verkehrsberuhigten Straßen geht es fast schon dörflich zu; trotzdem lassen sich hier die typischen Großstadtprobleme auch nicht übersehen. Die Bergmannsche Fabrik (später Osram) beeindruckt noch heut emit ihren verklinkerten Bauten. Ein weiterer Kiez zieht sich von Karstadt am Leopoldplatz bis zum Nettelbeckplatz, neuerdings Antonkiez genannt. Dieses früher wenig beachtete Altbauviertel verfügt mit dem zum silent green-Kulturquartier ausgebauten ehemaligen Krematorium Wedding über einen Kristallisationspunkt, der weit über den Kiez hinaus bekannt ist.
An den Ufern der Panke
Östlich der Reinickendorfer Straße ist die Kiezeinteilung schwieriger. Vom Nauener Platz bis zur Panke gruppieren sich Alt- und Neubauten rund um das frühere Fabrikgelände Ex-Rotaprint und die heute künstlerisch genutzten BVG-Werkstätten (Uferhallen und Uferstudios). Südlich der Ringbahn wechselt die Atmosphäre von der pulsierenden Gerichtstraße rund um den Standort des abgerissenen Stadtbades – direkt zu unscheinbaren Wohnquartieren im Schatten des Pharmaindustriestandorts BAYER. Dazwischen schlängelt sich die Panke, ein natürlicher Fluss im Gewand eines Kanals, dessen Ufer nach dem Krieg zu einem durchgehenden Grünzug ausgebaut wurden. Ein widersprüchlicher, zerrissener, aber zentral gelegener Kiez, von dem aus man schnell in Mitte ist.
Citynah, aber etwas unscheinbar
Rund um den wunderbaren Volkspark Humboldthain bis zur Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße wurde nach dem Krieg Kahlschlagsanierung betrieben. Altbauten kann man hier im Brunnenviertel mit der Lupe suchen, obgleich es sie vereinzelt noch gibt. Das beeindruckende Industrieareal der historischen AEG-Fabriken hat seinen Charakter total gewandelt, hier sind heute Forschung, Wissenschaft und Medien zu Hause. Im citynahen Brunnenviertel ist die Wunde der Berliner Mauer besonders erlebbar, denn den sozial geförderten Plattenbauten (West) stehen die durchgentrifizierten Altbauten (Ost) unmittelbar gegenüber. Die wenig beeindruckende Brunnenstraße steht für diese beiden Gesichter, denn es gibt sie auf beiden Seiten des immer kleiner werdenden Mauerstreifens. Nur langsam wachsen ihre Nachbarkieze wieder zusammen.
Quirliges Herz: die Plumpe
Das Herz des Gesundbrunnen schlägt eher nördlich des modernen Bahnhofs. Die größte Shopping Mall des Nordens liegt direkt am eher ruhigen Altbaukiez, der sich an der leicht abfallenden Bellermannstraße bis zur Osloer Straße erstreckt. Hohe oder niedrige Altbauten und gesichtslose Neubauten wechseln sich hier munter ab. Einst war hier das Stadion an der Plumpe, Keimzelle des Bundesligavereins Hertha BSC. Die Grüntaler und die Eulerstraße haben sich zu lebendigen Nebenstraßen gemausert, während sich der Autoverkehr durch die gewundene Badstraße und die Prinzenallee quält. Einer der wunderbarsten Orte im ganzen Wedding liegt etwas abseits rund um die Bibliothek am Luisenbad, wo sich mit der Pankemühle und dem einstigen Heilbad eine der Keimzellen des Wedding befindet.
Rund um das Pankeufer
Ebenfalls an der Panke liegen die ehemaligen BVG-Werkstätten an der Uferstraße, die heute in Form der Uferstudios ein Epizentrum des modernen Tanzes in Berlin darstellen. Auch auf dem Gelände der früheren Rotaprintfabrik haben sich Kunst und Gewerbe angesiedelt und geben dem bunten Kiez zwischen Nauener Platz und Badstraße/Schwedenstraße ein ganz eigenes Gepräge. Das imposante Gebäude des Amtsgerichts Wedding ist eine Art Wahrzeichen dieses Kiezes.
Immer ein bisschen im Schatten
Zwischen der autobahnartigen Osloer Straße und der Nordbahn liegt der überschaubare Soldiner Kiez, das vielleicht schönste geschlossene Altbauviertel des Wedding. Sozial stand das im Schatten der anderen Kieze liegende Viertel immer am Abgrund, doch hat sich durch die gezielte Förderung von Kunstateliers und den Zuzug von Studenten das Straßenbild zwischenzeitlich verändert.
Toll geschriebener Spaziergang durch einen besonderen Bezirk