Frühere Fabriken, in die neues Leben einzieht, alte Gebäude, die eine künstlerische Nutzung erfahren oder Brachflächen, auf denen Gemeinschaftsgärten entstehen: Der Wedding ist voll von schönen Orten, die Geschichte und Flair haben. Doch erstaunlich viel ist erst in der Nachkriegszeit oder in jüngerer Vergangenheit verschwunden, rücksichtslos abgerissen und durch wesentlich uninteressantere Gebäude ersetzt. Da fragt man sich unwillkürlich: Hat das so kommen müssen, war das wirklich nötig? Wir erzählen euch ein paar Geschichten – mit Tränen in den Augen.
Die Müllerstraße, die über drei Kilometer lange, unangefochtene Hauptschlagader des Wedding, besitzt noch das Format einer Hauptstraße. Ihr bescheidener Anfang als Sandpiste zwischen Tegel und Berlin ist ihr jedenfalls nicht mehr anzusehen, Reste der ländlichen Bebauung vor den Toren Berlins gibt es auch nicht mehr. Wie so viele Magistralen anderer Weltstädte führt sie schnurgerade aus den Vororten direkt ins Herz der Innenstadt.
Ralf Schmiedecke, Autor von inzwischen 13 Büchern über die Historie diverser Berliner Stadtteile sowie der Berliner Feuerwehr, lebt seit seiner Geburt im Wedding. Der Hobby-Historiker arbeitet als Sicherheitsingenieur bei der BSR. Seine Freizeitbeschäftigung ist eher eine Leidenschaft: Er sammelt historische Ansichtskarten, Fotos und Firmenrechnungen. Die meisten Exponate stammen dabei aus dem alten Bezirk Wedding. Über den hat er bereits drei Bildbände zusammengestellt – und das vierte Buch ist schon in Arbeit.
Am 5. Dezember 2013 öffnete die neue Müllerhalle ihre Pforten. Anwohner, die wegen der etwas düster geratenen Klinkerfassade depressiv verstimmt sind, können sich also bald wieder glücklich shoppen. Zugegeben: Auf den Entwürfen der neuen Halle sah das Gebäude irgendwie heller und freundlicher aus. Aber meine Güte, das war eben nur ein Entwurf. Und vielleicht gehörte es ja zum Konzept der Verantwortlichen, das Gebäude von außen so finster zu gestalten, dass man möglichst schnell ins Innere möchte, um sich vor dem Anblick zu schützen. Kann doch sein. Sollte dieses Konzept nicht aufgehen, könnte man zu Marketingzwecken einen Horrorfilm in der Halle drehen. Immerhin war dort wirklich mal ein Friedhof der Kuscheltiere und das Gebäude würde eine geeignete Fassade – pardon – Kulisse bieten. Aber Spaß beiseite, Müllerhalle. Wir wünschen dir einen glücklichen Start und ein gutes Weihnachtsgeschäft. Vergiss aber nicht, ein paar Lichterketten aufzuhängen – möglichst außen.
Berlin verändert sich, der Wedding auch, aber in Sachen “Müllerhalle” ist mehr Wehmut im Spiel als bei anderen Bauprojekten der Stadt.
Nachdem 1950 auf dem Gelände eines ehemaligen Tierfriedhofs die Markthalle errichtet wurde, entwickelte sich der Standort schnell zum Treffpunkt des gesamten nördlichen Wedding. Doch mit dem allgemeinen Niedergang der Müllerstraße und dem Aufkommen anderer Einkaufsmöglichkeiten verkam die Müllerhalle immer mehr zu einem Ramschladen und stand zuletzt größtenteils leer. Auf das Wagnis einer sanierten, lebendigen Markthalle mit vielen kleinen Geschäften wollte sich der Besitzer denn auch nicht mehr einlassen. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die Abrissbirne tätig wurde und 2012 große Teile des Häuserblocks Müller-/Kongo-/Lüderitzstraße in gähnende Leere verwandelte.
Darf man die neue Müllerhalle noch so nennen? Viele Anwohner fremdeln mit dem architektonisch hochwertigen Entwurf, der die obere Müllerstraße wie kaum ein anderes Gebäude prägen wird. Bei einer von der SPD-Fraktion Berlin-Mitte organisierten Veranstaltung am 23. Februar standen Kommunalpolitiker und Abgeordnete sowie eine Vertreterin des Bauherrn Rede und Antwort. Anders als beim städtebaulich missglückten Lidl gegenüber der Einmündung der Kameruner Straße sollen hier die Bürger „mitgenommen“ werden.
Das ist auch dringend nötig, angesichts der Emotionen, die dieser Neubau eines Einkaufszentrums hochkochen lässt. Sogar der RBB hat ein Kamerateam geschickt, um in der Abendschau über die Diskussionsrunde zu berichten. Alle Redner verbinden schöne (Kindheits-)Erinnerungen mit der Markthalle, die seit 1950 einen Kieztreffpunkt darstellte, zuletzt aber einen beispiellosen Niedergang erlebte. Nicht nur ältere Weddinger bekommen glänzende Augen, wenn sie von den drei Fleischern, dem Knöpfeladen und dem Schuster in der alten Müllerhalle erzählen. Die Nachbarn traf man natürlich auch beim Einkaufen und hielt ein Schwätzchen zwischen Fischstand und Currywurstimbiss.
Aus und vorbei. Die Halle ist seit 2012 abgerissen, ein neues Einzelhandelszentrum mit Kaufland als Ankermieter ist seit ein paar Tagen im Bau, nachdem nun die Fundamentbohrungen begonnen haben. Die Vielfalt der Marktstände wird es im autogerechten Neubau nicht mehr geben. „Das Kaufverhalten hat sich geändert“, sagt SPD-Mann Lars Neuhaus. Vergleiche mit den wenigen noch erfolgreichen Berliner Markthallen seien nicht statthaft, findet er: „Wir haben gesehen, dass das alte Konzept in diesem Kiez am Ende nicht funktioniert hat.“
Mehr Lebensmitteleinzelhandel ist nicht mehr zu verkraften
Mit der jetzt gefundenen Lösung sind die anwesenden Politiker Bruni Wildenhain-Lauterbach (MdA), Stefan Draeger, Janina Körper und Martina Matischok zufrieden – das Wort Kompromiss wird noch oft an diesem Tag fallen. Es sei gerade noch zu verkraften, so viel Lebensmittel-Einzelhandel an einem Straßenabschnitt (Real, Reichelt, Aldi, Lidl und eben Kaufland) – mehr werde hier nicht genehmigt. Kleinteiligen Handel im Windschatten von Kaufland (davon als Rückkehrer der alten Müllerhalle Mc Paper, ein Lotto Toto-Laden, das Reformhaus und der Zeitungsladen) wird es an der Straßenfront auch geben und zur Belebung der Müllerstraße beitragen. Überhaupt, die Müllerstraße: „Die neue Müllerhalle soll nicht zum Verkehrschaos führen“, erklärt Janina Körper, Verkehrsexpertin in der BVV. Nur 188 Parkplätze für Autos, kein riesiges leeres Parkhaus mehr wie im nahen Schillerparkcenter, sowie 54 Fahrradstellplätze kämen modernen Mobilitätsbedürfnissen näher. Parkhaus und kleine Läden nehmen das Erdgeschoss ein, während Kaufland die erste Etage belegt, die die Kunden mit Rollsteigen erreichen. Und schließlich könne man in der neuen Müllerhalle kostenlos parken, erklärt die Kaufland-Vertreterin Meltem Cömertbay – natürlich nur, wenn man dort auch etwas kauft. Sie betont, dass Kaufland als Eigentümer und Hauptnutzer zukünftig auch eine Verantwortung für den Standort und somit ein langfristiges Interesse an einer positiven Entwicklung der ganzen Müllerstraße hat. Eine Beteiligung an Aktivitäten der StandortGemeinschaft sei angedacht. Aber am Niedergang der alten Müllerhalle habe das Unternehmen Kaufland keine Schuld; eine Markthalle mit dem entsprechenden Flair lebe eben von den kleinen Kaufleuten, die es mit ihrem Engagement selbst in der Hand haben, ob dieses Konzept heute noch funktioniert. Die Diskutanten blicken nach vorn: „Schön, dass genau dieser Standort wieder eine Chance erhält!“, bringt es die Kaufland-Vertreterin auf den Punkt. Sie hat an der Beuth-Hochschule studiert und kennt den Wedding und seine Besonderheiten gut.
Kaufland sieht sich nicht als Einzelkämpfer
Ein solches Zentrum erzeugt zwangsläufig Müll, Lärm und Verkehr. Die Anlieferung erfolgt getrennt für Kaufland in der Lüderitzstraße, für die anderen Händler in der Kongostraße. „Beide Straßen haben Kopfsteinpflaster“, gibt Peter Arndt von der Stadtteilvertretung zu bedenken, „das wird ganz schön laut für die Anwohner!“ In der Lüderitzstraße erfolgt heute schon die Anlieferung für Reichelt, dort kennt man die Lkws, die beim Rückwärtsfahren piepen. Auf der Positivseite für die obere Müllerstraße bleiben aber die ca. 120–150 Arbeitsplätze zu nennen, die durch Kaufland und die kleineren Einzelhändler entstehen oder wieder zurückkehren werden. Die Kaufland-Repräsentantin sieht auch keine Konkurrenz für das sehr hochwertige Angebot wie die Frischfleisch-Bedientheke bei Reichelt, da Kaufland mit abgepackten Produkten ein anderes Geschäftsmodell verfolge. Das Unternehmen habe das Umfeld genau untersucht und will sich dort langfristig engagieren: „Wir können mit der relativ kleinen Verkaufsfläche von knapp 4500 qm gut umgehen“, sagt Meltem Cömertbay und ist sich sicher: „Wir passen gut in diesen Kiez!“ Wenn alles klappt, könnte noch vor Weihnachten 2013 die Eröffnung gefeiert werden.
Nicht alle Anwohner gewöhnen sich daran, dass für dieses moderne, grau verklinkerte Einkaufszentrum der Begriff „Neue Müllerhalle“ verwendet wird. Nostalgische Gefühle und der immer noch präsente Verlust eines Ortes der Kommunikation im Kiez stehen für viele im Vordergrund. Da kommt manches Gerücht gerade recht, das die Bezirkspolitiker aber umgehend ausräumen: eine Moschee in Nachbarschaft des Einkaufszentrums ist definitiv nicht geplant.
Die Weddingwoche ist eine wöchentliche Kolumne über aktuelle Ereignisse in unserem Stadtteil. Diese erscheint auch samstags im Berliner Abendblatt, Ausgabe Wedding.
Kaufland-Bauschild (Foto: P.Arndt)
Während ich die obere Müllerstraße entlangspaziere, überlege ich, was es bedeutet, dass wir bald nicht mehr Papst sind. Für mich hat es hoffentlich keine großen Konsequenzen, denn ursprünglich wollte ich nie Papst werden. Trotzdem hat man sich doch irgendwie daran gewöhnt. Plötzlich ragt vor mir ein großes, neu aufgestelltes Bauschild in die Höhe und reißt mich aus meinen Gedanken. Auf ihm steht “Kaufland kommt!”, was so kämpferisch klingt, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückweiche. Vermutlich ist es eine Warnung an den nur rund 200 Meter entfernten Real, sich schon mal warm anzuziehen. Ich male mir aus, mit was für einem Schild Real kontern wird, bedauere, dass die Fläche nicht für ein schwedisches Möbelhaus reichte und werde schließlich melancholisch. Denn hier stand sie, die inzwischen abgerissene Müllerhalle. In der Markthalle konnte man außer dem Duft von frischem Obst und Bratfett auch noch die Aura des alten Frontbezirks Wedding atmen. Dieser charmant-schummrige Betonbau war eines der letzten Refugien für Berliner Originale. Es musste ja nicht die Aufnahme ins Weltkulturerbe sein, aber gab es wirklich keine Möglichkeit die Halle samt der Originale zu erhalten? Manche Dinge schätzen wir offenbar erst, wenn sie nicht mehr sind. Ich tröste mich mit einem Fischbrötchen in Moni’s Fischkajüte und beschließe, mich damit abzufinden, kein Papst mehr zu sein. Vielleicht werde ich ja 2014 wieder Fußball-Weltmeister.
Autor: Ingo Scharmann
TIPP: Monis Fischkajüte: Müllerstr. 114, U Rehberge
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Die Weddinger Müllerhalle atmet ihre letzten Züge. Die 62 Jahre alte traditionelle Markthalle des Weddinger Nordens wird derzeit abgerissen. Viele Geschäftsleute aus der Halle haben in der Umgebung neue Läden gemietet – wie zum Beispiel Moni’s Fischkajüte in der Müllerstraße 114 oder “Alles für das Tier” in der Otawistraße.
In der Berliner Zeitung wurde noch einmal die besondere Atmosphäre dieses dunklen Ortes an der Müllerstraße gewürdigt; auch die letzten Geschäftsleute äußern sich noch einmal:
Sogar die Süddeutsche Zeitung widmet dieser Institution eine melancholische Fotoserie.
Im Oktober 2012 beginnt der Bau des zweistöckigen Neubaus, in den Kaufland als Ankermieter und einige kleinere Läden als Beigabe einziehen sollen. Schon im September 2013 könnte die Eröffnung des neuen Einkaufszentrums an der Stelle der alten Markthalle gefeiert werden.
Ja, sie ist hässlich, und ihr Quasi-Leerstand trägt nicht zur Schönheit dieser traditionsreichen Markthalle bei. Ihren herben Charme (und den ihrer Stammgäste) haben die Macher des Magazins “Die Müllerstraße” im Jahr 2011 noch einmal fotografisch dokumentiert. Doch nun steht fest: die Baugenehmigung wird für diesen Monat erwartet und im Mai 2012 wird die Müllerhalle abgerissen. An ihrer Stelle wird ein Neubau errichtet, der schon im September 2013 eröffnet werden könnte (3).
»Die alte Markthalle kann an dieser Stelle nicht wieder belebt werden«, erklärte der baden-württembergische Investor Holger Merz im März 2011 vor der BVV Berlin-Mitte . »Solche Konzepte können heutzutage nur noch in Top-1a-Lagen funktionieren.«(1) Die nördliche Müllerstraße habe nicht die nötigen Standort- Erfolgsfaktoren wie innerstädtische Haupteinkaufslage oder hohe Passantenfrequenz, so die Investoren. (3)
Nun wird es also etwas ganz Originelles geben: ein Einkaufszentrum! Dabei wird den Großteil des Erdgeschosses eine offene Parketage mit 200 Stellplätzen ausmachen, mit Einfahrten an der Müller- und an der Kongostraße. Im rückwärtigen Teil soll die Anlieferung stattfinden.
Ein neuer “Ankermieter” soll sich dann im Obergeschoss der künftigen Halle auf ca. 4.500 Quadratmetern – das entspricht in etwa der Fläche der heutigen Markthalle – ausbreiten. Offiziell wurde nun auch bekanntgegeben, dass die Firma “Kaufland” dieser Ankermieter sein und das Obergeschoss in Beschlag nehmen wird (3). Im Obergeschoss sind dann noch weitere 950 qm für den kleinteiligen Einzelhandel und im Erdgeschoss entlang der Müllerstraße 550 qm vorgesehen.
Die Architektur soll “hochwertig” sein – das Konzept für den klar strukturierten Baukörper sieht großzügige geschlossene Flächen in dunkelgrauem Klinker und Schaufenster zur Müllerstraße vor. Damit soll die Müllerstraße in ihrem oberen Teil optisch aufgewertet werden – keine große Herausforderung angesichts der Trostlosigkeit der alten Halle. Das Baukollegium der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat sich die Architektur noch einmal näher angeschaut, damit das Allerschlimmste verhindert wird. Das vorgestellte Werbekonzept untersagt Neonwerbung auf der Fassade und schreibt stattdessen auf den Glasflächen liegende Schriftzüge mit Einzelbuchstaben vor. Farbige Firmenlogos dürfen nur von Innen an den Scheiben befestigt werden. Einen schmalen halböffentlichen Durchgang, zur hinter der Halle gelegenen Wohnbebauung kritisierten das Baukollegium und der Bezirk. Hier entsteht ein ”Angstraum”. Der Eigentümer, die Merz Objektbau und sein Hauptmieter haben die Anregungen des Baukollegiums, das markante Fassadenkonzept auch in den Details umzusetzen und für einen schmalen Durchgang, einem potentiellen Angstraum, eine andere Lösung zu suchen, aufgenommen.(2)
Die letzten Mieter sind nun gekündigt und sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. „Klar ist, dass nicht alle zurückkehren werden“, erklärte der Mitarbeiter von Merz Objektbau schon im März 2011. Es gebe Mieter, die unbedingt bleiben wollen und andere, die für sich keine Zukunft an dem Standort sehen. (3) Wieder andere, wie der Suppen-Treff, haben schon jetzt an einem neuen Standort neu angefangen.
Die Geschichte der Müllerhalle ist übrigens ziemlich schillernd. An diesem Standort befand sich bis 1928 eine Tierarztpraxis mit Hundefriedhof, wo bis zu 400 Hunde bestattet waren (1). Nur böse Zungen dürften nun behaupten, dass in der Müllerhalle der Hund begraben liegt.…