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Buchbesprechung:
Erinnerungen an den “vergessenen” jüdischen Alltag

8. November 2022
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84 Jah­re liegt die Schre­ckens­nacht vom 9. auf 10. Novem­ber 1938 zurück. Zum Jah­res­tag die­ses Datums steht die Fra­ge im Raum: Wie an etwas erin­nern, bei dem nur sehr weni­ge der heu­te leben­den Men­schen dabei waren? Das jüngst erschie­ne­ne Buch “Am Wed­ding haben sie gelebt” hat eine Ant­wort auf die­se Fra­ge. Es erin­nert, es hält Erin­ne­run­gen fest und in einem gewis­sen Sin­ne ist es selbst eine Erin­ne­rung. In Sum­me ist das Buch eine Zeit­ma­schi­ne, mit der der Leser in den jüdi­schen All­tag der 1930er Jah­re (und teil­wei­se der Nach­kriegs­jah­re) reist. 

Die Erinnerungen der Zeitzeugen

Autor – prä­zi­ser der Her­aus­ge­ber – der Samm­lung jüdi­schen All­tags­le­ben ist der Ber­li­ner Geschichts­werk­statt e.V. Im ers­ten Teil ver­öf­fent­li­chen die sechs Autorin­nen der Geschichts­werk­statt Erin­ne­run­gen jüdi­scher Bür­ge­rin­nen (und eines Bür­gers). Sechs Men­schen kom­men zu Wort und erzäh­len von Eltern, Schul­zeit, Gebäu­de, Geschäf­te im Wed­ding. Aber eben auch vom Schul­r­aus­wurf, der Aus­wan­de­rung, den mit­lei­di­gen Bli­cken und der “aus­weg­lo­sen Angst, die sich nicht beschrei­ben lässt”. Die Erin­ne­run­gen der Zeit­zeu­gen holen den Blick von Kin­dern auf die Zeit der Unter­drü­ckung ins Heu­te. Ihre Erin­ne­run­gen “ver­lau­fen sehr genau an den Daten der offi­zi­el­len Poli­tik, an den Daten der Geschich­te ent­lang”, fas­sen die Her­aus­ge­ber zusam­men. Unter nor­ma­len Umstän­den nut­zen per­sön­li­che Erin­ne­run­gen meist Groß­ereig­nis­se wie Hei­rat, Geburt der Kin­der, Krieg als Zeitanker. 

Der zwei­te Teil des Buches – rekon­stru­ier­te Geschich­te genannt – ist das Ergeb­nis von Archiv­ar­beit. Hier erfährt der Leser weni­ger über das jüdi­sche All­tags­le­ben, dafür mehr über das Vor­ge­hen des Unter­drü­ckung-Appa­ra­tes. Ein Bei­spiel ist die Ent­eig­nung der Fami­lie Apt. Bedrü­ckend ist die tro­cke­ne Spra­che des Ober­fi­nanz­prä­si­den­ten, die so tut, als ob es um juris­ti­sche Fein­hei­ten gin­ge und nicht um plum­pen Staats-Dieb­stahl. Es ist die sehr eige­ne Spra­che der Beam­ten der NS-Zeit, die ver­rä­te­risch ist. Gera­de­zu Atem ver­schla­gend ist das Kapi­tel über den Mord an Pan­ke­brü­cke. Es beschreibt anschau­lich die nack­te Lust am Mor­den. Und es erzählt von der pein­lich gering­fü­gi­gen “Ver­ur­tei­lung” durch ein Gericht nach dem Krieg.

Wie eine geöffnete Schatztruhe

Das Buch selbst ist auch ein Stück Erin­ne­rung, ist ein zeit­his­to­ri­sches Doku­ment. Denn die Anfän­ge der Arbeit an dem Buch “Am Wed­ding haben sie gelebt” rei­chen bis in die 1980er Jah­re zurück. Damals begann der Ber­li­ner Geschichts­werk­statt e.V. All­tags­ge­schich­te zu betrei­ben. Das ist ein kaum zu über­schät­zen­des Glück, dass der Ver­ein damals auf ein noch neu­es Her­an­ge­hen setz­te, um Geschich­te auf­zu­schrei­ben. Die For­scher nah­men Men­schen wie du und ich als Quel­len. Heu­te ist es nicht mehr unge­wöhn­lich, Zeit­zeu­gen zu befra­gen, vor 40 Jah­ren schon. Die in “Am Wed­ding haben sie gelebt” geraff­ten Pro­to­kol­le der Gesprä­che mit sechs Zeit­zeu­gen sind ein Schatz. Denn schon damals, in den 1980er Jah­ren, sag­ten die Zeit­zeu­gen “vor zwan­zig Jah­ren hät­ten sie for­schen müs­sen”. Heu­te, in den 2020er Jah­ren, ist die Zahl derer, die sich per­sön­lich erin­nern kön­nen, noch ein­mal dras­tisch gesun­ken. Des­halb ist das Buch mit den Erin­ne­run­gen wie eine Schatz­tru­he, die nach vie­len Jah­ren erneut geöff­net wird und deren Inhalt unver­än­dert unschätz­bar ist.

Die Mit­glie­der des Ver­eins waren in West-Ber­li­ner Zeit irri­tiert über die kol­lek­ti­ve Amne­sie, “sobald die Ver­fol­gung der jüdi­schen Wed­din­ge­rin­nen und Wed­din­ger wäh­rend der NS-Zeit zur Spra­che kam.” Gegen das Nicht-Drü­ber-Spre­chen-Wol­len stell­te der Ver­ein in den 1980er Jah­ren das “Aus­gra­ben vor der eige­nen Haus­tür”. Statt gro­ßer Poli­tik ein­zel­ner Staats­män­ner und Staats­ver­bre­cher began­nen sie den All­tag jüdi­schen Lebens zu erfor­schen. Klein­tei­lig. Genau. Dar­aus ent­stand 1990 eine Aus­stel­lung und 1998 die ers­te Auf­la­ge von “Am Wed­ding haben sie gelebt”. Nun folgt die eine zwei­te Auf­la­ge im Ver­lag Wal­ter Frey. “Wir haben das Manu­skript aktua­li­siert und über­ar­bei­tet”, schrei­ben die sechs Autorin­nen der Pro­jekt­grup­pe im Vorwort.

Gegen das Ver­schwei­gen wäh­rend der Nach­kriegs­jah­re half das Spre­chen und Erin­nern. Das Spre­chen hilft auch heu­te gegen das Rela­ti­vie­ren, das von bestimm­ten Inter­es­sen­grup­pen in letz­ter Zeit stär­ker vor­ge­tra­gen wird. Gegen die Absicht, das wah­re Schick­sal der jüdi­schen Bür­ger zu ver­drän­gen, hel­fen Erin­ne­run­gen; hilft die Lek­tü­re der Wahr­heit, hilft das nah­ba­re Geschichts­buch “Am Wed­ding haben sie gelebt”. 

Verlag Walter Frey

Auch wenn das Wort “erin­nern” meist auf etwas Per­sön­li­ches zielt, so erlaubt die Spra­che doch auch, das Wort “erin­nern” als eine Auf­for­de­rung zu ver­wen­den. Ein Bei­spiel dafür ist der Satz: “Ich erin­ne­re dich an …”. Eine Erin­ne­rung in die­sem Sin­ne hat­te Wal­ter Frey vor als “Am Wed­ding haben sie gelebt” in sein Ver­lags­pro­gramm und die Rei­he Wed­ding-Bücher auf­nahm. An die­ser Stel­le ein Dank an ihn.

“Am Wed­ding haben sie gelebt. Lebens­we­ge jüdi­scher Bür­ge­rin­nen und Bür­ger” erschien Ende Sep­tem­ber im Ver­lag Wal­ter Frey als Band 8 der Rei­he Wed­ding-Bücher. Das Soft­co­ver kos­tet 20 Euro. Das Buch hat über 280 Sei­ten und zahl­rei­che Abbildungen. 

Der Wed­ding­wei­ser hat die vor­her­ge­hen­den sie­ben Bän­de bespro­chen: 1: Otto Nagels Roman “Die wei­ße Tau­be”, 2: Wal­li Nagel “Das darfst du nicht”, 3: Bio­gra­phie Georg Ben­ja­min, 4: Bio­gra­phie Kurt Stef­fel­bau­er, 5: Das Buch zum Film Mut­ter Krau­sens Fahrt ins Glück, 6: Geschich­te der Wed­din­ger SPD und 7: Geschich­te des Wed­dings von Bernd Schimm­ler. Die Rei­he – eine Mischung aus Roma­nen, Bio­gra­phien und geschicht­li­chen Dar­stel­lun­gen – gehört in jeden Wed­din­ger Haus­halt. Wem noch Bän­de feh­len, der kann sich die­se zu Weih­nach­ten wünschen ;-).

Link zum Verlag

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

3 Comments

  1. guten mor­gen
    es wäre super­schön, wenn ihr in euren arti­keln (exter­ne) links (z.b. auf den ver­lag o.ä.) hin­ter­le­gen wür­det. kei­ne ahnung, war­um das nicht gemacht wird, mag sein, dass es da regeln gibt, die das aus­schlie­ßen. aber für mich als lese­rin wäre das ein ech­ter kom­fort­ge­winn und ein zusätz­li­cher “mehr­wert”…
    LG

    • Hal­lo und guten Morgen

      ach Esther das Lebe kann so leicht wie eine Feder sein oder so schwer wie eine Loko­mo­ti­ve … oder eben Yu Wei oder Wu Wei !!!!

      Ein­fach Ver­lag Wal­ter Frey mar­kie­ren und kopie­ren und in eine Such­ma­schi­ne dei­ner Wahl ein­ge­ben und voi­la!!! man lan­det bei https://www.tranvia.de , dann links am Rand run­ter gerollt und … Bin­go , da fin­det man Wed­ding-Bücher und klick .… tra­ra , da hat man alle Bücher auf einer Sei­te um die es hier im Arti­kel geht 

      soooo ein­fach !!!

      son­ni­ge Woche noch

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