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Mikrokosmos der Großstadt:
Weddinger Mietshaus-Geschichte

Bis heute Alltag für die meisten im Wedding

Jeder im Wedding kennt ihn, den klassischen Altbau. Er ist so prägend für unseren Stadtteil, dass die meisten gar nicht über das Mietshaus nachdenken, so selbstverständlich ist es. Wörter wie Vorderhaus, Seitenflügel, Hinterhaus sind gängige Begriffe in der Weddinger Alltagssprache. Die Weddinger Autorin Regina Scheer lässt in ihrem Roman "Gott wohnt im Wedding" sogar ein Haus erzählen, welche Geschichten sich unter seinem Dach ereigneten. Und wir schauen heute einmal, was ein richtiges Mietshaus auszeichnet - früher und auch noch heute.

Foto: Tilman Vogler

Typisch für den Wedding als Stadtteil, der sich vor allem zwischen 1861 und 1918 explosionsartig entwickelt hat, sind die Mietshäuser, die es fast in allen Kiezen noch in Form der typischen Altbauten gibt. Der Wedding war Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vorstadt mit 7.000 Einwohnern. Als Wohnraum benötigt wurde, hatten Spekulanten freie Bahn. Fast überall wurden niedrigere Gebäude durch die dicht besiedelten Mietskasernen ersetzt. Baupolizeilich gab es keine Einschränkungen, den Raum optimal auszunutzen. Lediglich der Brandschutz zwang zu einer Hofgröße von 5,34 mal 5,34 Meter - die Fläche, die zum Wenden einer Feuerwehrspritze nötig war. Auch durften die Häuser nicht höher sein als die Breite der Straße.

Je weiter man im Wedding nach Norden kommt, desto jünger sind die Gebäude. Die Grundform hat sich aber nur wenig verändert. Üblicherweise bestehen die als „Mietskasernen“ bezeichneten Mietshäuser aus Vorderhaus, Seitenflügel und Quergebäuden, die einen Hof (oder mehrere Höfe) umschließen. Über das Souterrain mit Kellern und Gewerberäumen wurden fünf Stockwerke gesetzt. Die Treppen gingen vom Hausflur aus, der entweder direkt mit einer eigenen Eingangstür von der Straße aus oder über die Toreinfahrt zum Hof erschlossen wurde. Pro Stockwerk im Vorderhaus gibt es zwei oder drei Wohnungen, von denen eine mit einem „Berliner Zimmer“ in den Seitenflügel hinüberreicht. Ein Berliner Zimmer diente dazu, die Wohnungen im Vorderhaus zu vergrößern. Sie haben aber nur ein Fenster zum Hof und sind daher meistens sehr dunkel.

Hinterhof-Fotos: Tilman Vogler

In den Quer- und Seitenflügeln, die heute wegen ihrer Ruhe vor Straßenlärm geschätzt werden, waren die Wohnverhältnisse deutlich schlechter. Dort gab es in eigenen Treppenaufgängen kleinere Wohnungen. Meistens hatten sie keine eigenen Toiletten, sondern ein Gemeinschaftsklo auf der „halben Treppe“. Diese heißen Außenklo, weil sie laut Bauordnung immer ein Fenster zur Außenwand brauchten. Im Westteil Berlins gab es 1968 noch genau 110.785 Wohnungen ohne eigene Toilette - etwa 12 Prozent des damaligen Wohnungsbestandes und rund 24 Prozent der vor 1918 gebauten Wohnungen!

Was war noch typisch? Vielleicht der Hauswart (manchmal auch Portier, Hauswirt oder Hausmeister genannt) oder die Hauswartsfrau. Diese lebten mietfrei im Haus und waren für die Treppenreinigung, das Ein- und Ausschalten des Lichts und das Kassieren der Miete zuständig. Natürlich achteten sie vor allem abends und nachts auch darauf, wer im Haus ein- und ausging. Denn in dieser Zeit sollte das Haus verschlossen sein. Was vielen Hauswarten schließlich den Garaus machte, war der Berliner oder Durchsteckschlüssel, der um die Jahrhundertwende von einem Weddinger Schlosser namens Johann Schweiger in der Gerichtstraße erfunden wurde. Denn diesen zweiseitigen Schlüssel mit zwei Bärten, den man nach dem Eintreten in das Haus durch das Schloss durchstecken musste, bekam man innen nur wieder heraus, wenn die Tür wieder verriegelt war. Somit war die Haustür automatisch immer verschlossen. Doch auch die Zeit der Durchsteckschlüssel ist vorbei, seit es fast überall Gegensprechanlagen gibt.

Der Hausflur

Stiller Portier. Foto: Samuel Orsenne

Kommen wir zum Hausflur, der oft besonders repräsentativ war: Stuck, Putten oder dekorative Motive sollte dem Haus zur Zierde gereichen. Brief- und Zeitungsausträger hatten dafür keinen Blick. Sie waren gezwungen, bis in die oberste Etage hinaufzusteigen, denn Briefkästen im Erdgeschoss gab es nicht. In den Wohnungstüren waren Einwurfschlitze mit der Aufschrift "Briefe & Zeitungen". Statt Briefkästen hing im Flur eine große Holztafel, der man entnehmen konnte, wer in welcher Etage und in welchem Flügel wohnte. Diesen Holzrahmen nannte man „Stiller Portier“. Darauf standen auch der Name des Hausbesitzers, der nächste Fernsprecher und das nächste Polizeirevier. In manchen Hauseingängen gibt es diese Tafeln noch heute.

Fotos: Tilman Vogler

Eine Besonderheit des Berliner Mietshauses war auch die soziale Mischung, denn in den Komplexen wohnten sowohl Bessergestellte (im Vorderhaus, vor allem in der "Beletage" im ersten Stock) als auch Arbeiterfamilien im Hinterhaus. Nur in den Vorderhäusern gab es Balkone und Loggien. Außerdem waren die Häuser keine reinen Wohnhäuser, sondern boten auch Platz für Läden und Handwerksbetriebe. Viele Häuser haben neben den Haustüren auch Toreinfahrten, die genug Platz für Kutschen und Lastenkarren boten. In vielen Höfen waren auch Remisen gebaut, wie man die niedrigen Pferdeställe oder Garagen nannte.

Wie lebten die Menschen ohne die Annehmlichkeiten der heutigen Zeit? Statt Staubsauger gab es Teppichklopfer. Dafür befand sich auf dem Hof eine Teppichklopfstange. Die Wäsche wurde in Gemeinschaftsräumen erledigt, die sich auf dem Dachboden befanden. Dort war ein gemauerter Kohleherd zur Wassererwärmung eingebaut. In Zinkwannen wurde die Wäsche auf dem Waschbrett geschrubbt und anschließend ausgewrungen. Im Speicher konnte die Wäsche dann auch gleich aufgehängt werden. Für jede der Mietparteien gab es feste Waschtage.

Treppenhaus und Keller

Wir gehen nun ins Treppenhaus: Dort befanden sich an den Stufen die unvermeidlichen „Vorsicht, frisch gebohnert!“-Schilder. Denn die Böden wurden regelmäßig mit Bohnerwachs poliert, wofür es eigene Bohnerbesen gab. Das Treppenhaus war das Aushängeschild des Hauses und diente oft auch dazu, potenzielle Mieter für die Vorderhauswohnungen zu beeindrucken.

Doch die Treppen führen im klassischen Mietshaus nicht in den Keller. Dafür muss man durch die Hoftür gehen. Meist befindet sich direkt daneben der Eingang zum Keller, meistens eine steile Treppe, die in muffige Räume mit Holzverschlägen führt. Diese dienten früher jeder Mietpartei als Lager für Kohlen und Kartoffeln. Mit den Kohlen, die es in den zahlreichen Kohlehandlungen gab, heizte jede Mietpartei ihre Wohnung im eigenen Ofen. Nicht nur das Kohlenschleppen, sondern auch das Anheizen des Ofens war harte Arbeit. Aber Kohleheizungen sind vom Aussterben bedroht, deswegen sind die Kellerverschläge heute eher zusätzlicher Stauraum und Abstellplatz für Fahrräder.

Meyer's Hof: Inbegriff der Mietskaserne

Die typischen Mietskasernen gab es natürlich nicht nur im Wedding. Die bekannteste, weil berüchtigste, lag allerdings in der Ackerstraße 132/33: Meyer's Hof. Hier lebten zeitweise bis zu 2.000 Menschen in einem Vorderhaus mit fünf Quergebäuden. Baulich war diese Anlage anders aufgebaut als andere Häuser, denn es gab 280 nicht abgeschlossene Wohnungen mit Stuben auf der einen und die Küchen auf der anderen Seite des Mittelflurs. Wasser war auf jeder Etage verfügbar.

Meyer's Hof, Foto: Bert Sass

1891 beklagte die Polizei die sanitäre Situation: „Auf dem Grundstück befinden sich 4 Closettgebäude, welche zwar an die städtische Kanalisation angeschlossen sind, jedoch der Einzelspülung entbehren; vielmehr haben sämtliche Closetts eines Gebäudes eine gemeinschaftliche Spülung, welche von dem Verwalter des Grundstücks jeden Tag angeblich 2-3 mal vorgenommen wird. Meyer hat im hinteren Teil des Grundstücks ein Wasserreservoir angebracht, von welchem der Wasserbedarf nach den Wohnungen, wie auch zu den Closetts geleitet wird. Wenngleich die besagte Einrichtung in sanitätspolizeilicher Beziehung zu klagen noch keine Veranlassung gegeben hat, so stellt das Revier doch gehorsamst anheim, ob nicht auf Grund der bestehenden Bestimmungen die Einzelspülung der Closetts zu verlangen sein dürfte.“ Doch die Bestimmungen gaben das nicht her.

Mehr und mehr wurden die Höfe als Gewerbehöfe für Handwerksbetriebe genutzt. Nur im Vorderhaus mit seiner Neorenaissance-Fassade befanden sich bürgerliche Wohnungen. Häufig wechselten die Hausbesitzer und Meyer's Hof war schnell überbevölkert und abgenutzt. Nach einer bewegten Geschichte der Überbevölkerung, vollkommen verarmter Bewohnerschaft und miserablen baulichen und sanitären Verhältnissen wurde das Gebäude ab 1970 entmietet und 1972 abgerissen.

Fazit

Galt es bis in die 1980er Jahre als erstrebenswert, aus dem Berliner Mietshaus klassischer Prägung auszuziehen, ist es heute wieder angesagt, im Altbau zu wohnen. Der Wohnungsschnitt, die Lebendigkeit der durchmischten Quartiere und die Optik der Fassaden können viele heute wieder wertschätzen. Meistens sind es auch heute noch die Berliner Altbauviertel, die die schönsten Kieze darstellen und die etwas haben, was jüngeren Siedlungen oft fehlt: Seele.

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

6 Comments

  1. Hallo, ich bin ne weddinger Göre, und es es ist schön zu lesen was der wedding so alles zu bieten hat was man noch nicht kennt.
    Aufgewachsen bin ich in der Liebenwalderstr 50 es war ein schöne Zeit. Wir Kinder fanden auch die Nr 10 toll weil dort ein Hof nach dem anderen gab.

  2. Eine Freundin und ich machen gerne in Steglitz und Friednau Spaziergänge und manchmal stehen die Hausflure offen. Wir schauen uns dann leise die Flure und Hinterhöfe heimlich an, sind aber auch schnell wieder verschwunden, weil wir natürlich nicht groß stören wollen. Die Architektur ist einfach zu schön und viele Hinterhöfe haben kleine Gärten mit ganz viel Charme. Wir wünschten, dass Menschen wieder mehr so schön bauen würde. Ich bin ja der Meinung, dass kleine Wohnungen auf Masse im kalten Bauhausstil unserer Gesellschaft auch nicht viel bringen, da sie depressiv machen.

  3. Hallo Herr Faust!
    Gibt es in Berlin auch ein Museum wo man die Einrichtung und Keller der alten Häuser sehen kann? Als geborenes Kind von der Plumpe hätte ich großes Interesse. Vielleicht auch Führungen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Marina Tkotz

    • Leider nicht dass ich wüsste. Aber: es gibt ja Tausende alte Häuser im Wedding, wo man nur mit etwas Glück eine offene Haus- oder Hoftür findet. Manche Hinterhäuser sind auch offen zugänglich, zum Beispiel zwischen Oudenarder, Groninger und Hochstädter Straße.

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