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Geschichtsstunde mit “Gott wohnt im Wedding”

Cover Regina Scheer Gott wohnt im Wedding
Cover von Regi­na Sche­ers Roman “Gott wohnt im Wed­ding”. Gra­fik: Pen­gu­in Verlag

11.08.2019 “Gott wohnt im Wed­ding” heißt der in die­sem Früh­jahr erschie­ne­ne Roman der im Wed­ding leben­den Autorin Regi­na Scheer. Ihr Debüt­ro­man “Machan­del” wur­de 2014 viel beach­tet. Der nun vor­lie­gen­de zwei­te Roman der Schrift­stel­le­rin spielt im Wed­ding in der Utrech­ter Sra­ße. Wie schon “Machan­del” ist “Gott wohnt im Wed­ding” so etwas wie ein his­to­ri­scher Gegen­warts­ro­man. Ein genau recher­chier­tes Buch, in dem Geschich­te eine zen­tra­le Rol­le spielt und nicht bloß den Hin­ter­grund schmückt.

Juden, Roma und ein Abrisshaus

Wor­um es in dem Buch geht, das in einem Satz zu sagen, ist unmög­lich. Man braucht zehn bis 20 dazu. “Jetzt kom­men wie­der die Zigeu­ner” lau­tet der ers­te Satz des Buches und mit ihm beginnt einer von min­des­tens drei wich­ti­gen Strän­gen des Buches:  die Aus­gren­zung der Roma. Regi­na Scheer erzählt ver­teilt über die mehr als 400 Sei­ten des Buches die euro­päi­sche Geschich­te der Roma von den 1930er Jah­ren bis zur Gegen­wart. Unter anderem.

Ein ande­rer Strang, ange­legt wie ein Kri­mi, ist die Fra­ge, ob die Figur Ger­trud Rom­berg in der NS-Zeit die Juden Man­fred Neu­mann und Leo Leh­mann an die Gesta­po ver­ra­ten hat. Die bei­den waren als “U‑Boot” unter­ge­taucht und leb­ten als “Ille­ga­le” zeit­wei­se bei ihr versteckt.

Unsicht­bar, nicht erkenn­bar, unbe­ach­tet – mit die­sen Wor­ten lässt sich der drit­te Strang beschrei­ben: das abriss­rei­fe Miet­haus in der Utrech­ter Stra­ße. Wer ach­tet schon auf Häu­ser? Doch auf dem Dach­bo­den des Hau­ses befin­det sich ein Ver­schlag. Die­ser bot einst Leo und Man­fred einen Unter­schlupf, jetzt ent­zie­hen sich dort Roma den Bli­cken der Umwelt: “Im letz­ten Som­mer haben Män­ner dort geschla­fen, die man aus dem Tier­gar­ten ver­trie­ben hat­te, Roma.” Juden, Roma und das Abriss­haus – drei Geschich­ten ver­knüp­fen sich in “Gott wohnt im Wedding”.

Verstrickter Realismus

Utrechter Ecke Groninger
Ein altes Miet­haus in der Utrech­ter Stra­ße ist Fix­punkt in “Gott wohnt im Wed­ding”. Foto: Weddingweiser

Ange­trie­ben wer­den die ver­schie­de­nen Hand­lun­gen von dem Mot­to: alles was pas­siert, hat eine Vor­ge­schich­te. “So hängt alles zusam­men, und alles hat Fol­gen, die man nicht immer gleich erkennt.” Durch einen zäh­le­ri­schen Kniff wird die­ses Mot­to in dem Buch kon­kret und sinn­lich. Eine wich­ti­ge Figur des Romans ist ein Haus, ein Miet­haus in der Utrech­ter Stra­ße im Wed­ding. Doch auch wenn das Haus den Leser direkt anspricht, eine Geis­ter­ge­schich­te nach Vor­bild eines süd­ame­ri­ka­ni­schen magi­schen Rea­lis­ten ist Regi­na Sche­ers Roman nicht. Es gehört eher in die Kate­go­rie “ver­strick­ter Rea­lis­mus”. In dem Buch sind die ein­zel­nen Ereig­nis­se und die unter­schied­li­chen  Figu­ren mit­ein­an­der ver­strickt. Nur auf den ers­ten, ahnungs­lo­sen Blick ver­bin­det sie nichts. Dar­aus ergibt sich am Ende je nach per­sön­li­chen Emp­fin­den ein unent­wirr­ba­res Knäu­el oder ein getreu­es Abbild kom­ple­xer Wirk­lich­keit. Immer­hin: wahr ist, dass auch der rea­le Ablauf von Zeit­ge­schich­te einem roten Faden nur bedingt (und wenn über­haupt, dann nicht gerad­li­nig) folgt.

Historischer Gegenwartsroman

“Gott wohnt im Weding” spielt auf den ers­ten Blick in der Gegen­wart. Es wird erwähnt, dass das Gesund­brun­nen-Cen­ter “vor 20 Jah­ren” eröff­net wur­de. The­men der Gegen­wart sind im Roman die Gen­tri­fi­zie­rung, aber auch jahr­zehn­te­lan­ge Rechts­strei­te um jüdi­sches Eigen­tum oder die dro­hen­de Abschie­bung der Roma.

Zur Gegen­wart gehört auch die Erin­ne­rung. Wobei die Rück­bli­cke in dem Roman viel Platz ein­neh­men, als ob die Ver­gan­gen­heit wich­ti­ger als das Heu­te wäre, als ob es doch ein his­to­ri­scher Roman sei. Als ob die Geschich­te auch eine Roman­fi­gur sei. Wer an span­nen­der Sto­ry inter­es­siert ist, der wird mäkeln, dass in dem Roman Hand­lung und Erzäh­lung sich schnell zur Geschichts­stun­de wandeln.

Die 1950 in Ost­ber­lin gebo­re­ne Regi­ne Scheer hat für den Roman offen­kun­dig aus­gie­big (nicht bloß zur Wed­din­ger Geschich­te) recher­chiert. Für ein Sach­buch zur loka­len und zur euro­päi­schen Zeit­ge­schich­te hat sie wahr­schein­lich aus­rei­chend Mate­ri­al zusam­men­ge­tra­gen. Die Fül­le – vor allem an Details – beein­druckt. His­to­ri­ker wer­den es viel­leicht sogar scha­de fin­den, dass Regi­na Scheer ein­schränkt: “Soweit der Roman sich auf his­to­ri­sche Gege­ben­hei­ten bezieht, erhebt er kei­ner­lei Anspruch, die­se ‘objek­tiv’ dar­zu­stel­len”. Wer an Geschich­te inter­es­siert ist, der muss prü­fen, was Fik­ti­on ist und was Tatsache.

Kei­ne leich­te Lek­tü­re, die ver­gnüg­li­cher Unter­hal­tung dient.

Erschie­nen ist “Gott wohnt im Wed­ding” im Pen­gu­in Ver­lag. ISBN 978–3‑328–60016‑9, 24 Euro, 416 Seiten.

Autorenfoto Andrei Schnell

And­rei Schnell wäre auch mit einem his­to­ri­schen Sach­buch zufrie­den gewesen.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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