Wie kommt es, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Wedding so stark mit ihrem Wohnort identifizieren? Vielleicht liegt es daran, dass es hier alles gibt, was eine kleine Stadt auszeichnet.
Für Kinder gibt es Teppiche mit stilisierten Städten. Häuser, Parks, Kirchen, öffentliche Gebäude und vor allem Straßen sind aus der Vogelperspektive anhand kindgerechter Zeichnungen dargestellt. Da können die Kleinen hervorragend ihre Spielzeugautos und –busse hin- und herschieben. Schnell erfasst das Kind, wie so ein Straßennetz funktioniert und wie die einzelnen Bereiche der kleinen Stadt miteinander zusammenhängen.
Der Wedding lässt sich ähnlich leicht als Stadt erleben. Nicht nur, weil er Teil einer vielgliedrigen, ausgedehnten Millionenstadt ist. Sondern auch, weil der Aufbau des Wedding, aus historischen Gründen, viele Elemente einer eigenen Stadt besitzt.
Eine städtische Entwicklung
Wie so viele Siedlungen ist der Wedding an einem Fluss entstanden. In diesem Fall handelt es sich um die Panke, den 30 Kilometer langen letzten Nebenfluss der Spree. Eine Mühle war wohl die Keimzelle des Gutshofs “Vorwerk Wedding”, der sich an der Stelle des Häuserblocks zwischen Pank‑, Reinickendorfer und Weddingstraße befand. Auch der Gesundbrunnen geht auf eine Mühle zurück, deren Nachfolgebau gegenüber der Travemünder Straße zu finden ist. An der Stadtmorphologie des Wedding ist noch heute ablesbar, dass vor der planmäßigen Anlage von Häuserblöcken schon ein älteres Wegenetz existierte. So gab es die Müllerstraße, die Reinickendorfer Straße, die Triftstraße, die Seestraße und die Gerichtstraße schon vor dem großen Bauboom der Kaiserzeit, der aus der Vorstadt mit ein paar hundert Einwohnern einen dichtbebauten Teil der Innenstadt Berlins machte. Die wichtigsten Kreuzungen des historischen Wegenetzes sind noch als Plätze auf dem Stadtplan erkennbar: Weddingplatz, Nettelbeckplatz, Louise-Schroeder-Platz. Der Hobrecht-Bebauungsplan von 1862, der das rasante Wachstum Berlins in planmäßige Bahnen lenkte, fügte den Sparrplatz und auch den Leopoldplatz hinzu. Damit war schon ein städtisches Straßenraster festgelegt. Durch den Bau zweier sich am Leopoldplatz kreuzender U‑Bahnlinien und die Lage im Schatten der Berliner Mauer kristallisierte sich eine neue “Mitte des Wedding” heraus. Zahlreiche weitere Maßnahmen, wie der Bau des Rathauses und des Karstadt-Kaufhauses am Leopoldplatz, aber auch die Umbauten der letzten Zeit, trugen dazu bei, dass der Wedding heute so etwas wie eine City besitzt.
Eine richtige Innenstadt
So verfügt der zentrale Bereich des Wedding heute über nahezu alle Einrichtungen, die für eine moderne mittelgroße Stadt charakteristisch sind: ein Hauptplatz, der vordere Leopoldplatz, eingerahmt von Rathaus, Bibliothek, zwei Kirchen und einem Kaufhaus. Dazu kommt noch das Job-Center als wichtige zentrale Anlaufstelle vieler Weddinger. Auf dem Platz selbst finden Wochenmärkte und immer mehr kulturelle Veranstaltungen statt, viele Linien des Nahverkehrs sorgen Tag und Nacht für Gewusel. Die baumbestandene Promenade vom vorderen Platzteil in Richtung Maxstraße entspricht der „Fußgängerzone“ so mancher Provinzstadt und führt in die urbanen und lebendigen Altbaukieze rund um die Malplaquetstraße. Dort gibt es inzwischen auch eine beachtliche Auswahl an Kneipen, Cafés und Restaurants. Alles, was sonst zu einer typischen Stadt dazugehört, kommt im Wedding ebenfalls vor: ein Amtsgericht, das (Prime Time-) Theater, eine Eisbahn (Erika-Heß-Stadion), ein ICE-Bahnhof (Gesundbrunnen) – eben Attribute einer veritablen Stadt!
Ein richtiger Stadtrand
Wie auf dem Verkehrsteppich für Kinder sind etwas außerhalb des Zentrums weitere wichtige Einrichtungen angesiedelt: mit der Berliner Hochschule für Technik, dem Virchow-Klinikum und dem Robert-Koch-Institut hat der Wedding in seinem westlichen Bereich eine Art „Wissenschaftsviertel“. Außerdem gibt es auf dem AEG-Gelände am Humboldthain zahlreiche Medien und wissenschaftliche Einrichtungen. Und alle Institutionen, die gerne am Rand von Städten angesiedelt werden, befinden sich auch im Wedding an der Peripherie. So schwärmen die Busse vom Betriebshof an der oberen Müllerstraße aus, die Julius-Leber-Kaserne liegt fast schon in Reinickendorf und im Westhafen werden Güter umgeschlagen. Auch die Industrie, in Form der Bayer AG, liegt – wie es sich für eine richtige Stadt gehört – am “Stadtrand”. Auf der anderen Seite der „Stadt Wedding“ im Norden wird eher gewohnt als gearbeitet. Dort befinden sich denn auch mit dem Strandbad Plötzensee und dem Kombibad Seestraße sowie vielen Sportplätzen die meisten Einrichtungen für die Freizeit der Weddinger. Dazu zählt auch das Alhambra-Kino an der markanten Kreuzung von Müller- und Seestraße. Und der Schillerpark, der Humboldthain sowie der Volkspark Rehberge haben für den Wedding die Funktion von riesigen städtischen Grünanlagen. Tretbootfahren auf dem Plötzensee – genau so stellt man sich doch auch einen Stadtpark vor.
Eine richtige Stadtgrenze
Für die Wahrnehmung des Wedding als „kleine Großstadt“ ist sicher auch die Topographie verantwortlich. Im Südwesten und Westen ist der Wedding durch den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal und die Autobahn A 111 abgeschottet. Weil die Stadtstruktur Berlins durch die Mauer nachhaltig zerschnitten wurde, sind zudem Wedding mit Gesundbrunnen bis heute baulich und sozial stark von Alt-Mitte, dem Prenzlauer Berg und Pankow abgegrenzt. „Durchlässig“ ist der Wedding höchstens in Richtung Reinickendorf, wo die Bezirksgrenze nicht als solche wahrnehmbar ist.
Aber auch unsichtbare Grenzen führen dazu, dass der Wedding eine „starke Marke“ ist, wenngleich sie oftmals auch negativ besetzt wird. Die Bewohner des 2001 aufgelösten Bezirks haben jahrzehntelang unter einem „Underdog-Image“ gelitten, war der Wedding klischeebeladen als Arbeiterbezirk, als Kommunistenhochburg, sozialer Brennpunkt und vernachlässigter Teil Berlins verschrieen. Heute entfaltet das Gefühl, in einem unterschätzten Stadtteil zu leben, auch eine positive Kraft. Das trägt dazu bei, dass „der Wedding“, im Guten wie im Schlechten, im Häusermeer der Millionenstadt wie eine eigene Stadt in der Stadt wahrgenommen wird.