Vor zehn Jahren hat “man” nicht einfach so im Wedding gewohnt. Berlin teilte sich in (sehr viele) Menschen, die nicht im Wedding wohnen wollten und (eher wenige) überzeugte Weddinger, die sich nicht vorstellen konnten, woanders zu leben. Um zu verstehen, wie das kam, müssen wir weiter in die Vergangenheit zurückgehen.
Schon seit zehn Jahren begleitet der Weddingweiser das Geschehen im Kiez, gibt Tipps und Empfehlungen für gutes Essen, Trinken oder originelle Produkte und veröffentlicht Liebeserklärungen an den sicherlich spannendsten Stadtteil von Berlin, den Wedding.
Aber nicht nur der Wedding hat sich im Laufe der Jahre verändert, sondern auch die Mitwirkenden und damit auch die Texte.
“Als ich 1988 nach Berlin kam, stand die Mauer fest und der Wedding war sehr Wedding, obwohl schon im Kommen, angeblich. Unbesehen hatte ich zugesagt, als das Zimmer im Weddinger Studentenwohnheim frei wurde, so viele Angebote gab es nicht. Die Linie 9 trug mich Richtung FU zum Studieren, die Linie 6 Richtung Kreuzberg zum Feiern, unterm „Osten“ hindurch. Die Mensa der TFH, die Bäckerei Vatan, der Karstadt, die Pizza- und Döner-Läden sicherten die Nahversorgung. Und die Gemüsehändler: Der eine, eher deutsch, reagierte mürrisch, wenn ich eine Zwiebel kaufte. Für den anderen, eher türkisch, war das kein Problem. Beim einen war zur Ladenschlusszeit alles schon eingeräumt, so dass nichts mehr ging. Der andere fing zu dem Zeitpunkt ganz entspannt an, seine Kisten reinzutragen und bediente weiterhin freundlich. Der eine machte bald dicht, der andere florierte weiter.” (Markus Hesselmann)
Manches bleibt eben immer gleich. Doch im Wedding wohnte “man” damals eher nur, wenn man nichts anderes fand, und es war gar nicht so leicht, Mitbewohner beispielsweise für eine WG zu finden:
“Der Wedding blieb noch lange bescheiden auf den hintersten Rängen der Bezirke, in denen man, vor allem als Berlin-Neuling, wohnen wollte. Entweder lag die Uni zu weit entfernt, oder viele hatten sich in den Kopf gesetzt, partout im Friedrichshain, in Kreuz- oder Prenzlberg wohnen zu müssen; wieder andere ängstigten sich um die Sicherheit ihres nächtlichen Nachhausewegs oder aber Wedding klang einfach nicht verheißungsvoll genug in ihren Ohren. Aus diesen Gründen ging unsere WG dann irgendwann dazu über, „Wedding“ einfach nicht mehr in den Zimmerangeboten zu erwähnen.” (Sulamith Sallmann)
Nach dem Mauerfall bekam der Wedding plötzlich eine zentrale Lage und war umgeben von Ostbezirken, die zusehends schicker, in denen ganz andere Leute heimisch wurden und die auch unseren Stadtteil unter einen gewissen Druck setzten. Im Wedding wurde es irgendwie ungemütlicher. Und nachdem die Gentrifizierung den Prenzlauer Berg und Alt-Mitte überrollt hatte, mussten sich die Weddinger plötzlich darauf gefasst machen, dass auch ihr Stadtteil vielleicht teuer und schick werden könnte.
„Da richten wir uns über Jahre in unserem kuschlig-kaputten Wedding ein, beginnen sogar, ihn wirklich ganz doll zu mögen und entdecken immer mehr auch seine liebenswerten Seiten. Die wir natürlich für uns behalten, damit nicht noch mehr gentrifizierendes Fremdvolk diesen einmaligen, schaurig-schönen Bezirk überrollt.“ (Ingo Scharmann)
Wenn der Wedding etwas war und auch auch heute noch ist, dann ist es ein Stadtteil der Gegensätze:
„Nichts fasziniert mich am Wedding so sehr wie die Tatsache, dass es den einen Wedding gar nicht gibt. Da landet einmal im Jahr das Mode-Ufo Wedding Dress in der Brunnenstraße und schon bekommen einige Mitbürger Angst, dass die Schönen und Hippen das Kommando übernehmen. Doch es fliegt wieder davon und leise plätschern die immer noch unbenannten Degewo-Brunnen vor sich hin. Da hält großstädtisches Sommerflair mit Freilichtkino in den Rehbergen oder Tanz in den Uferstudios Einzug und dann wird einem Mann am U‑Bahnhof Leopoldplatz ins Gesicht gestochen, nur weil er sich darüber beschwerte, angerempelt worden zu sein. Und wenn ich erlebe, wie blöde ein paar Jungen in weiten Hosen zwei kurzberockte Mädchen anmachen, frage ich mich schon, was ich hier zu suchen habe.“ (Ulf Teichert)
Der Wedding ist nicht für jede oder jeden geeignet. Manchmal zog sich die Trennlinie mitten durch Paare:
„Ich nenne meine Freundin jetzt Madame von Robben & Wientjes, aber nicht laut. Sie sammelt Material gegen meine Weddinger Wahlverwurzelung, irgendwelche Listen und Statistiken, die mich davon überzeugen sollen, mit ihr in den Prenzlauer Berg zu ziehen. Ein Beispiel: Unabhängige Umfragen haben ergeben, dass 99% Prozent der Weddinger nicht wissen, was ein Green Smoothie ist. Die Umfragen hat sie natürlich selbst gemacht, vor dem Karstadt, dem H&M, was weiß ich. Meine Gegenstrategie ist zur Zeit, gar nicht auf Defizite des Wedding einzugehen, sondern konsequent Vorteile herauszuarbeiten: “Dafür haben wir so viele Casinos, wie sonst nirgends. Du, wir leben im Grunde im Las Vegas Berlins, ist das nicht cool?” (Marc Dicke)
Wollten viele früher am liebsten gar nicht im Wedding wohnen, änderte sich das peu à peu. Zuerst zeichnete sich schon ab etwa 2013 ab, dass es plötzlich ganz leicht wurde, einen Nachmieter zu finden.
„Das Wort Traumwohnung bekommt in diesen Tagen eine ganz neue Bedeutung. Es geht nicht mehr darum, etwas traumhaft Schönes zu finden. Stattdessen wäre es schon ein Traum, überhaupt noch eine Wohnung zu bekommen. Bereits kurz nachdem ihre Anzeige im Internet stand, bekam eine Freundin, die einen Nachmieter für ihre Wohnung im Brüsseler Kiez suchte, dutzende Mails im Ton eines Bewerbungsschreibens. Bei der Besichtigung, berichtete sie mir später, habe sie dann etliche Leidensgeschichten von Suchenden gehört. Im Wedding, dem einstigen Eldorado für Wohnungssuchende, haben sich wie in der ganzen Innenstadt die vertrauten Regeln geändert. Hatte man sich früher damit arrangiert, nicht im angesagten Szene-Kiez zu leben, wurde man mit einer günstigen Miete belohnt und hatte eine relativ große Auswahl.” (Ingo Scharmann)
2015 dann suchten viele Menschen Zuflucht in Deutschland, auch im Wedding. In diesem Stadtteil, der schon immer ein Ort des Ankommens und der Durchreise war, wurden die Geflüchteten schnell willkommen geheißen.
“Wedding hilft! Einen besseren Namen hätte sich diese Bürgerinitiative gar nicht geben können. Nachdem bekannt wurde, dass im Stadtteil Unterkünfte für Flüchtlinge eingerichtet werden, waren sich sehr schnell sehr viele Weddinger einig: Hier sind wir gefragt! Wir wollen helfen! Hier engagieren sich Menschen, die nicht nur Kleidung, Küchenutensilien oder Schuhe spenden, sondern ganz menschlich versuchen, jenen Zuwendung geben, die vor Unmenschlichkeit flüchten mussten. Wedding hilft ist auch deshalb ein toller Name, weil er so viel Verständnis, so viel Mitgefühl transportiert. Und weil genau damit jene Tugenden des sogenannten christlich-jüdischen Abendlandes transportiert werden, die in Dresden und anderswo zwar beschrieen, aber in Wirklichkeit mit Füßen getreten werden. Das Allerschönste an diesem Namen aber ist: Die Helfer aus dem Wedding selbst repräsentieren die Vielfalt unserer Welt. Und ihnen ist egal, ob sie dem Morgen- oder Abendland entstammen.” (Ulf Teichert)
Für Berlin-Neulinge war es ab Mitte des letzten Jahrzehnts immer noch verwunderlich, welches Bohei in Berlin um das Image des Stadtteils gemacht wird.
“Warum ausgerechnet in den Wedding? Diese Frage war schon der erste Kulturschock, als ich vor einem Jahr von München nach Berlin zog. In München galt für die meisten, die ich kannte: Hauptsache einigermaßen zentral, einigermaßen hübsch und gerade noch bezahlbar. Sich auch noch einen Stadtteil auszusuchen war bei Münchner Preisen eher nicht drin. Das ist in Berlin anders. Ja, vielmehr: Für viele Berliner, die ich traf, ist es ziemlich wichtig, in welchem Stadtteil sie wohnen. Sie reden auf Partys endlos darüber, ob dieser und jener Kiez angesagt ist, dieser und jener nicht mehr oder ob wieder ein anderer gerade „kommt“. Und jetzt? Während ich in München immer Lieblingskneipen und Cafés in der ganzen Stadt hatte, bin ich in Berlin seltsam auf den Wedding fixiert, freue mich über jeden neuen Laden, der aufmacht und beweine jeden, der zumacht. Ich unterhalte mich mit „meinem“ Späti-Besitzer über die Familie und das Leben im Allgemeinen, habe einen Lieblings-Döner, einen Lieblings-Halloumi-Laden, einen Lieblings-Chinesen und einen Lieblings-Italiener. Und ich doziere auf Partys lang und breit, warum der Wedding eh der beste aller Kieze ist – und Kreuzberg und Neukölln total einpacken können.” (Hannah Beitzer)
Wer es hier eine Zeitlang ausgehalten hat, wer die Vorteile des Lebens im Wedding für sich entdeckt hat, wird irgendwann auch in diesem oft ruppigen Stadtteil heimisch. So erging es auch Anja Meyer:
“Letztens ist es mir so ganz natürlich, ohne große Vorüberlegung und doch aus Überzeugung, impulsartig, von den Lippen gegangen. Gemütlich auf der Badstraße den weltbesten Köfte verzehrend, die Szenerie beobachtend – viele skurrile, gleichsam schon gewohnt bekannt erscheinende Menschenexemplare in einem stetigen Gemisch aus Ghetto/Hartz IV/Gangster, Jung/Kreativ/Student, Bürgerlich/Normal, entstand wie so oft die ebenso gewohnt bekannte Diskussion um die Reize und Nichtreize des Wedding. Dass es hier schon irgendwie hart und hässlich ist. Und dann passierte es: “Aber alles in allem”, sagte ich, “ist es doch eben mein Zuhause.”
2019 passierte es dann.
“Wir sind der viertcoolste Bezirk der Welt! Der Wedding ist plötzlich “offiziell” cool, sehenswert und die Mieten sind auch noch richtig günstig. Zumindest sagt das die englische Zeitschrift Time Out. Viele Jahrzehnte lang galt der Spruch „Der Wedding kommt“ als Witz, aber nun haben wir es endlich schwarz auf weiß. Als ich 2016 zum ersten Mal einen Sightseeing-Bus im Sprengelkiez sah, hoffte ich noch, der hat sich nur verfahren. Möglicherweise war es aber auch ein Test. Ob nun die Kieze von Rollkoffern überrannt werden, wird man sehen. Der Druck auf Berlin und den Wedding wird auf jeden Fall nicht weniger – Platz 4 hin oder her. Vielleicht war es genau jetzt an der Zeit, noch einmal daran erinnert zu werden, wie schön es hier bis jetzt noch ist. Das schließt Veränderungen nicht aus, aber man muss aufpassen, dass die Ersten nicht irgendwann die Letzten sind.” (Andaras Hahn)
Ob der Wedding eines Tages unbezahlbar wird oder nicht, über all die Jahre bleibt eine Erkenntnis gleich:
“Ganz allgemein gilt: dieser Ortsteil taugt nicht für Pauschalisierungen. Der Eindruck, den der Wedding hinterlässt, ist nämlich genauso vielfältig ist wie seine Bewohner. Vielleicht sind also die Negativschlagzeilen und Vorurteile dem Wedding gegenüber in gewisser Hinsicht ein Schutzwall, um die genannten Positivbeispiele, welche den Wedding für viele Bewohner so liebenswert machen, zu erhalten.” (Serena Trommer)
Aus unserer Serie “10 Jahre Weddingweiser”. Wir schauen uns in den kommenden Folgen auch noch andere Facetten des Lebens in unserem Stadtteil an und versuchen herauszufinden, was sich verändert hat – und was vermutlich immer gleich bleiben wird.
Hallo Herr Schmitz
Fangen sie endlich an zu LEBEN !!! so lange sie sich im Wedding fühlen wie in einem falschen Körper existieren sie nur !!!!
schöne Weihnachten
Mir steht der Sinn auch nach Schönem und Erstrebenswerten! Ich möchte mich nicht dafür unwohl fühlen, wenn ich sage, ich war im KaDeWe einkaufen. Oder dass ich regelmäßig zu Butter Lindner gehe!
Und über große Autos oder tolle Uhren kann man sich auch nur mit Leuten unterhalten, die dem „chemischen Transportgewerbe“ nahestehen 😁.
Ganz zu Schweigen von all dem Dreck, Müll und Unrat auf den Straßen oder den versifften Fassaden.
Nein, wohnen kann man hier, aber auch „leben“?
Aber ebenfalls schöne Weihnachtstage!
Guten Morgen Herr Schmitz
auch ich sehe – und habe mich hier schon bei diversen Artikeln – über den Müll usw geäussert wie sich der Wedding verändert hat vor über 40 Jahren war das hier ein Anderes Leben … ebenso auch Moabit… aber das kennen all die zugereisten Nicht-Berliner nicht , die scheinen sich damit wohl zufühlen bzw räumen sie gerne den Wedding auf , anstatt die zu finden die den Müll Dreck und Unrat hinter lassen
aber dennoch Lebe ich hier und mache das beste draus … vielleicht liegt es daran das ich in der schöneren Ecke vom Wedding wohne :))))… auf jedenfall aber ist meine innere Einstellung meine Stärke die mich hier im Wedding Leben lässt
in diesem Sinne
Hallo
Zu erst bin ich Mensch ich möchte als solcher wahrgenommen werden … also sollte es völlig egal sein wo ich in dieser Stadt wohne bzw lebe .. wer also aus irgendwelchen Gründen meint nicht sagen zu wollen wo er wohnt , weil man im Wedding nicht wohnt … hat für mich eins an der Waffel
Wenn ich jemanden sage das ich im Wedding wohne und der würde darüber die Nase rümpfen … kann es mich mal kreuzweise
in diesem Sinne und einen schönen 3ten Advent
Ps. Die kommenden Zeiten werden noch heftig werden , da wird es keine Rolle spielen wer wo wohnt oder welche Herkunft oder Religion er hat !!
Im Wedding zu wohnen ist für mich wie bei Menschen, die „im falschen Körper“ geboren worden sind.
Man hat die ganze Zeit das Gefühl, hier gehört man nicht hin – kann sich aber seine Wunschgegend leider nicht leisten!