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Unser Zuhause:
Die Zweite Hand

Eine Wohnung im Wedding finden? Nein, gleich vier im gleichen Haus mieten! So kam unsere Autorin Sulamith mit ihrer WG 1998 in den Wedding.
3. Juli 2021

Wenn man lan­ge an einem Ort lebt, emp­fin­det man die­sen irgend­wann ganz selbst­ver­ständ­lich als Hei­mat. Den Wed­ding kön­nen nur die weni­ge sei­ner Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner als Geburts­ort ange­ben, die­ser Stadt­teil ist schon immer ein Ort der Ein­wan­de­rung und des Tran­sits gewe­sen. In unse­rer Serie berich­ten wir davon, war­um wir in unse­rem Stadt­teil Wur­zeln geschla­gen haben. Heu­te: Unse­re Autorin Sula­mith berich­tet aus der Zeit, in der man im Wed­ding gleich meh­re­re Woh­nun­gen im glei­chen Haus mie­ten konn­te, dann aber Mühe hat­te, alle WG-Zim­mer zu vermieten…

Zeitungsannoncen durchforsten

Ja, im Früh­jahr 1998 gab es schon das Inter­net. Auch für den pri­va­ten Gebrauch. Per Modem wähl­te man sich in die Welt­schalt­zen­tra­le ein und soll­te nicht ver­ges­sen, den Rou­ter nach Gebrauch gleich wie­der zu tren­nen, um spä­ter nicht Unsum­men für die Nut­zung zah­len zu müs­sen. Doch für die digi­ta­le Woh­nungs­su­che waren wir noch ein paar Jah­re zu früh dran. Inse­rats­zei­tun­gen waren vor mehr als 20 Jah­ren eher das Mit­tel der Wahl. Woh­nungs­su­chen­de ver­such­ten schon im Laden eine in Fra­ge kom­men­de Ver­mie­tung beim Durch­blät­tern des Blätt­chens zu erspä­hen, um sich den Ver­kaufs­preis von ca. 2–3 DM spa­ren zu können.

In mei­ner Erin­ne­rung kam die „Zwei­te Hand“, so hieß eine die­ser Zei­tun­gen voll mit Annon­cen, Diens­tag und Don­ners­tag her­aus und am Sams­tag. Oder war es am Mon­tag und Mitt­woch? Auf jeden Fall offen­bar­te einer die­ser Tage immer einen fet­ten Immobilienteil.

Damit zurück zum Anfang. Mein Freund, ein Kum­pel von uns, sowie ich und mein damals 4‑jähriger Sohn hat­ten beschlos­sen, eine grö­ße­re WG zu grün­den. Wir woll­ten mit noch min­des­tens 3–4 wei­te­ren Men­schen zusam­men­le­ben. Jeder soll­te ein eige­nes Zim­mer bekom­men, dazu wünsch­ten wir uns noch einen gro­ßen Gemein­schafts­raum für Tanz und Par­ty, ein Ess­zim­mer und viel­leicht ein Musik­zim­mer. Das wären dann locker mal so um die zehn Zim­mer, die wir da benötigten!

Wohnzimmer

Die Rubri­ken im Woh­nungs­ver­mie­tungs­teil der „Zwei­ten Hand“ wur­den ab der Über­schrift „4 Zim­mer“ immer dün­ner und ab sechs Zim­mer zu „6 und mehr Zim­mer“ zusam­men­ge­fasst. Es schien aus­sichts­los, dass uns jemand acht, neun oder sogar zehn Zim­mer anbie­ten würde.

Dann wur­den wir auf ein Inse­rat auf­merk­sam bzw. auf meh­re­re vom glei­chen Ver­mie­ter. Glei­che Stra­ße, glei­che Haus­num­mer. In der Nähe der Born­hol­mer Stra­ße. Zu die­ser Zeit wohn­ten wir in Schö­ne­berg. Also gefühlt am ande­ren Ende der Stadt. Man kann­te nie­man­den, der in der neu­en Gegend wohn­te, nie­man­den, der dort aus­ging und sich die Näch­te um die Ohren schlug. Kino, Thea­ter, Kunst, Par­ty? Eher nicht.


Aber mutig wie jun­ge Pio­nie­re fuh­ren wir mit der S‑Bahn ins Neu­land, um Nach­for­schun­gen anzu­stel­len, was es mit den Anzei­gen auf sich hat. Wir hat­ten näm­lich bereits eine Idee im Kopf!

Unser zukünf­ti­ger Ver­mie­ter, ein auf­ge­schlos­se­ner Mitt­vier­zi­ger aus Lich­ten­ra­de, zeig­te uns die leer­ste­hen­den Woh­nun­gen. In der drit­ten Eta­ge eine schon vom Vor­mie­ter ver­grö­ßer­te Woh­nung aus zwei Woh­nun­gen bestehend und zwei ein­zel­ne eine Eta­ge dar­un­ter. Wir mie­te­ten alle.

Mühe, Mitbewohner zu finden

Nun fehl­ten nur noch unse­re zukünf­ti­gen Mit­be­woh­ne­rIn­nen. Also schnell eine Anzei­ge schal­ten. Natür­lich in der „Zwei­ten Hand“. Vor 23 Jah­re riss sich, das ver­steht sich für unse­re Gene­ra­ti­on von selbst, noch kein jun­ger Mensch das Herz aus dem Leib, um drin­gend im Wed­ding woh­nen zu dür­fen. Glück­li­cher­wei­se hat­ten wir von unse­rem Ver­mie­ter ein paar Mona­te Miet­frei­heit erhal­ten, in der wir erst mal umbau­en, reno­vie­ren und in Ruhe auf WG-Mit­glie­der­pirsch gehen konn­ten. Wir waren dann auch pünkt­lich zur ers­ten fäl­li­gen Miet­zah­lung start­klar. Unser WG-Leben im Wed­ding nahm sei­nen Lauf.

Als spä­ter die ers­ten WGler aus­zo­gen, konn­ten wir die gera­de ent­stan­de­nen Inter­net­por­ta­le wie „wg-gesucht.de“ und der­glei­chen für Mit­wohn­kan­di­da­ten nut­zen. Doch ich muss euch sagen, der Wed­ding blieb zur dama­li­gen Zeit noch lan­ge beschei­den auf den hin­ters­ten Rän­gen der Bezir­ke, in denen man, vor allem als Ber­lin-Neu­ling, woh­nen woll­te. Ent­we­der lag die Uni zu weit ent­fernt, oder vie­le hat­ten sich in den Kopf gesetzt, par­tout im Fried­richs­hain, in Kreuz- oder Prenz­l­berg woh­nen zu müs­sen; wie­der ande­re ängs­tig­ten sich um die Sicher­heit ihres nächt­li­chen Nach­hau­se­wegs (so wild musss das Groß­stadt­le­ben ja nun auch nicht gleich sein!) oder aber Wed­ding klang ihnen ein­fach nicht ver­hei­ßungs­voll genug in ihren Ohren. Aus die­sen Grün­den gin­gen wir dann irgend­wann dazu über, „Wed­ding“ ein­fach nicht mehr in unse­ren WG-Zim­mer­an­ge­bo­ten zu erwäh­nen. Es war dann die „WG an der Ring­bahn“ oder „zen­tral gele­gen – gut mit den Öffent­li­chen zu errei­chen“, „nur über die Brü­cke bis zum Prenz­lau­er Berg“. In den sie­ben Jah­ren des WG-Lebens stand so man­chen Monat bei uns ein Zim­mer leer und unbe­zahlt trau­rig her­um. Das wäre heu­te ein­fach, abso­lut, total, undenk­bar. Unmöglich.

Doch heu­te woh­nen mein Freund und ich noch in der­sel­ben Woh­nung. Es gibt kei­ne WG mehr, auch unser Sohn ist bereits vor eini­gen Jah­ren aus­ge­zo­gen und wir haben zwei von den vier Woh­nun­gen auf­ge­ge­ben. Vor allem woh­nen wir offi­zi­ell schon lan­ge nicht mehr im Wed­ding, son­dern im Gesund­brun­nen. Doch jetzt, wo der Wed­ding der letz­te Schrei ist, flun­kern wir gern ein bisschen. 

Bis­lang erschienen:

Dzień dobry, Wed­ding! – Oli­wia Nowa­kows­ka am 25. Dezem­ber 2020

Vom Speck­gür­tel in die Mit­te – Char­leen Effen­ber­ger am 15. Janu­ar 2021

Adé Prenz­l­berg, hal­lo Wed­ding! – Joa­chim Faust am 9. Janu­ar 2021

War­um ich in den Wed­ding zog – und hier so gern lebe – Samu­el Orsen­ne am 29. April 2021

Sur­fen auf der Mie­ten­wel­le – And­rei Schnell am 31. Mai 2021

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