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Eine eigene Finca im Wedding

2. September 2017
Gartenzwerg in der Kolonie Sandkrug. Foto: Andreas Oertel
Gar­ten­zwerg in der Kolo­nie Sand­krug. Foto: Andre­as Oertel

Es ist Sams­tag­vor­mit­tag. Ich öff­ne die Tür, lau­fe an den Brom­beer­sträu­chern vor­bei und setz­te mich mit einem Kaf­fee auf die Ter­ras­se. Nun wür­de man ver­mu­ten, die Sze­ne­rie spielt sich in einer Ein­fa­mi­li­en­haus-Sied­lung in Hei­li­gen­see oder im Vil­len­vier­tel Gru­ne­walds statt. Aber nein – ich befin­de mich zwi­schen der Born­hol­mer Brü­cke und dem Gesund­brun­nen­cen­ter – mit­ten im Wed­ding. Will­kom­men in der Kolo­nie Sandkrug!

Spie­ßig – na und!

In der Kolo­nie Sand­krug, ein­ge­tra­ge­ner Ver­ein seit 1925, ist die Welt noch in Ord­nung. Die Wege sind sau­ber und die Hecken sind ent­spre­chend der Gar­ten­ord­nung gestutzt. Ein­mal im Jahr fin­det eine Bege­hung statt und wenn der Kirsch­baum mal zu weit über den Zaun ragt, kann schon mal eine schrift­li­che Ermah­nung im Brief­kas­ten lie­gen. Es gibt fes­te Müll­zei­ten und Mit­tags­ru­he ist von 13 bis 15 Uhr. Was sich jetzt unheim­lich spie­ßig anhört, ist eine Not­wen­dig­keit, um das Leben von ca. 350 Par­zel­len­be­sit­zern unter einen Hut zu krie­gen. Und ganz ehr­lich: So regel­hö­rig sind die Lau­ben­pie­per auch nicht. Da drückt der Nach­bar schon mal ein Auge zu, wenn es bei der Geburts­tags­fei­er etwas lau­ter wird.

Suche Rent­ne­rin, die mei­nen Hund ausführt

Über kleine Wege kommt man zu den Parzellen. Hier und da wehen Fahnen. Foto: Andreas Oertel
Über klei­ne Wege kommt man zu den Par­zel­len. Hier und da wehen Fah­nen. Foto: Andre­as Oertel

Nach­bar­schafts­hil­fe wird in der Gemein­schaft groß­ge­schrie­ben. Bevor ich wegen einer feh­len­den Schrau­be extra in den Bau­markt fah­ren muss, gewährt mir mein Nach­bar einen Blick in sei­ne Krab­bel­kis­te. In der einen Woche gibt es Erd­bee­ren von Fami­lie Tetzlaff und als das Bier beim Bar­be­cue aus­ging, sprang Herr Kamin­ski in die Bre­sche. Fri­sche Eier gibt es vom kau­zi­gen Rent­ner in der Karl­stra­ße. Dafür sage ich auch nichts, wenn der Hahn mal um vier Uhr kräht. Die Anteil­nah­me geht weit über eine flo­rie­ren­de Waren­wirt­schaft hin­aus. Als mein Vater starb, mach­ten die Nach­barn die Hälf­te der Trau­er­ge­sell­schaft aus. Jedes Jahr Sil­ves­ter hängt ein klei­nes Fläsch­chen Pic­co­lo an mei­ner Gar­ten­tür und der Bus­fah­rer von gegen­über fegt im Win­ter auch schon mal den Schnee vor mei­nem Gar­ten weg. Mit­un­ter bil­den sich auch Zweck­ge­mein­schaf­ten. So hält sich eine Rent­ne­rin fit, indem sie mei­ne Labra­dor-Hün­din Gas­si führt, wenn ich auf Arbeit bin. Da soll noch­mal jemand sagen, es sei anonym in der Stadt zu leben!

Über sibi­ri­sche Klein­fich­ten und Heckenabstände

Eingang zu den Parzellen des Kleingartenvereins Sandkrug. Foto: Hensel
Ein­gang zu den Par­zel­len des Klein­gar­ten­ver­eins Sand­krug. Foto: Hensel

Klar ist nicht alles Frie­de, Freu­de, Son­nen­schein. Als Teil der Schlich­tungs­kom­mis­si­on rücke ich regel­mä­ßig aus, um hit­zi­ge Gemü­ter zu beru­hi­gen. Stein des Ansto­ßes dies­mal: eine sibi­ri­sche Klein­fich­te, die mit fünf Metern nicht mehr so klein ist und über die Grund­stücks­gren­ze her­aus­ragt. Das letz­te Mal war es der neue Sicht­schutz, der nicht den nöti­gen Abstand zum Zaun hat­te. Die meis­ten Strei­tig­kei­ten las­sen sich mit der Gar­ten­ord­nung und dem Bun­des­klein­gar­ten­ge­setz schlich­ten. Was sich nicht aus­räu­men lässt ist der Nasen­fak­tor. Wenn mir die Nasen­spit­ze des Nach­barn nicht gefällt, dann kön­nen sich jah­re­lan­ge Feind­schaf­ten ent­wi­ckeln – so wie auch in jedem Mietshaus.

Deut­sche Flag­gen überall

Die Kolonie Sandkrug, Lageplan. Foto: Hensel
Die Kolo­nie Sand­krug, Lage­plan. Foto: Hensel

Auch wenn der Schre­ber­gar­ten eine urdeut­sche Erfin­dung ist – Namens­ge­ber ist der Arzt Dani­el Gott­lob Moritz Schre­ber – so erfreu­en sich auch ande­re Natio­na­li­tä­ten an der eige­nen Schol­le. Polen, Fran­zo­sen und Tür­ken leben in der Kolo­nie Sand­krug genau­so wie Liba­ne­sen, Chi­ne­sen oder Dänen. Grund­vor­aus­set­zung ist ein deut­scher Pass, damit der Vor­stand in Kon­flikt­si­tua­tio­nen nicht mit unter­schied­li­chen Gerichts­stän­den kämp­fen muss. Auch homo­se­xu­el­le Pär­chen haben sich in der eher gedie­ge­nen Atmo­sphä­re nie­der­ge­las­sen und leben im Ein­klang mit jun­gen Fami­li­en, Tau­ben­züch­tern und Kat­zen­lieb­ha­bern. Ein­mal im Jahr kom­men dann alle zum Som­mer­fest zusam­men und zele­brie­ren Tole­ranz und Völ­ker­ver­stän­di­gung. Eine Unart, die sich seit der Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft im eige­nen Lan­de ein­ge­schli­chen hat, sind die deut­schen Flag­gen. Gefühlt hisst jeder fünf­te Lau­ben­pie­per die Far­ben Schwarz, Rot, Gold. Zum Glück gibt es Hasan, der mit sei­nem Mond­stern für etwas Abwechs­lung sorgt. Auch wenn es den einen oder ande­ren rechts­ge­rich­te­ten Nach­barn gibt kann ich aber nicht bestä­ti­gen, dass es über­durch­schnitt­lich vie­le Rechts­ge­sinn­te gibt.

Kann man da denn das gan­ze Jahr leben? 

Füße hoch. Foto: Andreas Oertel
Füße hoch! Foto: Andre­as Oertel

Wenn ich Leu­ten erzäh­le, ich lebe in einer Kolo­nie im Wed­ding das gan­ze Jahr, so lau­tet die meist gestell­te Fra­ge: „Kann man denn das?“ – Ja, das kann man. Die Kolo­nie Sand­krug ver­fügt über einen Son­der­sta­tus als Ver­ein klei­ner Grund­ei­gen­tü­mer. Gut die Hälf­te der Lau­ben­ko­lo­nis­ten macht von dem ganz­jäh­ri­gen Wohn­recht Gebrauch. Um der zweit­häu­figs­ten Fra­ge zuvor­zu­kom­men: „Ja, es gibt auch flie­ßen­des Was­ser, einen Anschluss an die Kana­li­sa­ti­on und WLAN.“ Wer Lust auf das Ver­eins­le­ben bekom­men hat, dem sei ein Gang in die Son­der­bur­ger Stra­ße 10 zum Ver­eins­haus ans Herz gelegt. Am Schwar­zen Brett ste­hen hier in unre­gel­mä­ßi­gen Abstän­den Grund­stü­cke zum Ver­kauf. Wer nicht gleich kau­fen will, kann auch eine Fin­ca pach­ten. Egal ob Pacht oder Eigen­tum – wer dem Unkraut jäten etwas Medi­ta­ti­ves abge­win­nen kann, wird sich hier wohlfühlen.

Text: Andre­as Oer­tel, Fotos: Andre­as Oer­tel, Domi­ni­que Hensel

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