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Szenische Lesung mit Musik bei Berliner Unterwelten:
Fluchttunnel, Kognak, Kafka und falsche Zigaretten

10. Juli 2023

Tag um Tag lau­fen Men­schen aus aller Welt die Ber­nau­er Stra­ße ent­lang. Sie lau­fen die Gedenk­stät­te Ber­li­ner Mau­er ab, vom U‑Bahnhof Ber­nau­er Stra­ße zum Nord­bahn­hof, schau­en sich den Beton an, der die Bür­ger der DDR von West­ber­li­nern trenn­te, die ehe­ma­li­ge Todes­zo­ne. Sie lau­fen auch über Mar­kie­run­gen auf dem Boden, die die Flucht­tun­nel andeu­ten, die hier unter der Erde ver­lie­fen: von Ost­ber­lin in die Frei­heit, in den Wes­ten. Ob die Besucher:innen der Gedenk­stät­te das Licht im Tun­nel noch bren­nen sehen? Das ist zumin­dest die Fra­ge oder die Behaup­tung, die eine sze­ni­sche Lesung über die Tun­nel­fluch­ten in den Raum gestellt hat: Im Tun­nel brennt noch Licht!? Das Stück hat­te am Frei­tag (7.7.) Pre­mie­re in den Räu­men der ehe­ma­li­gen Oswald Braue­rei an der Brunnenstraße.

Bei der szenischen Lesung "Im Tunnel brennt noch Licht!?" bei den Berliner Unterwelten in der Brunnenstraße. Foto: Schnell
Bei der sze­ni­schen Lesung “Im Tun­nel brennt noch Licht!?” beim Ber­li­ner Unter­wel­ten e.V. in der Brun­nen­stra­ße. Foto: And­rei Schnell

Es ist ein klei­nes Ensem­ble, das in den immer küh­len Räu­men der frü­he­ren Braue­rei die deut­sche Tei­lung the­ma­ti­siert. Mathi­as Bin­ner, Anja Fliess, Petr Man­teuf­fel und Susan­ne Men­ner lesen, spie­len und sin­gen die Zuschauer:innen zusam­men mit Frank-Wolf­gang Rosen­thal und Chris­ti­na Irr­gang in eine ande­re Zeit. Eine Zeit, die an genau die­sem Ort so statt­ge­fun­den haben könn­te. Wie bei einem Mosa­ik fügen sich die Sze­nen anein­an­der, die die Geschich­te eines Tun­nel­baus erzäh­len. Es geht um den Abschied von gelieb­ten Men­schen, Ver­rat, Sta­si-Ver­hö­re, Erleb­nis­se im Gefäng­nis, die Hoff­nung auf eine bes­se­re DDR. Als Klam­mer für die Mosa­ik­stein­chen dient ein Lese­kreis, wie er in den 1970er Jah­ren popu­lär war.

Gespielt wird im his­to­ri­schen Braue­rei­kel­ler, Gast­ge­ber sind der Ber­li­ner Unter­wel­ten e.V. und das stad­Thea­ter Kas­sel, etwa 20 Men­schen haben im Publi­kum Platz. Sie schau­en auf einen Tisch mit drei Stüh­len, eine alte Schreib­ma­schi­ne, Bücher von Kaf­ka, eine Fla­sche mit Kognak, ein Ein­kaufs­netz mit Apfel­si­nen. Es wird gele­sen, es wer­den fal­sche Ziga­ret­ten geraucht und es wird gesun­gen, viel gesun­gen. Der Gesang ist über­haupt das Bes­te, ruft er doch die Emo­tio­nen am stärks­ten und unmit­tel­bars­ten her­vor. Fast mit­ge­sun­gen hät­ten sie, sag­ten im Anschluss an die Vor­stel­lung eini­ge Zuhörer:innen. Zu hören waren Lie­der von Ren­ft, Wolf Bier­mann, Vero­ni­ka Fischer, Bet­ti­na Weg­ner und auch das rus­si­sche Kampf­lied „Par­ti­sa­nen von Amur“, das in der DDR von den Schul­kin­dern gelernt wer­den musste.

Das Publikum wartet auf den Beginn der szenischen Lesung "Im Tunnel brennt noch Licht!?" bei den Berliner Unterwelten in der Brunnenstraße. Foto: Schnell
Das Publi­kum war­tet auf den Beginn der sze­ni­schen Lesung “Im Tun­nel brennt noch Licht!?”. Foto: Schnell

Der beson­de­re Ort spielt eben­falls eine Rol­le in der sze­ni­schen Lesung mit Musik. Ganz am Schluss wird das Publi­kum zum Teil­neh­men­den an der Tun­nel­flucht, erhebt sich von den Plät­zen und wird has­tig durch die Gewöl­be der ehe­ma­li­gen Oswald Braue­rei geführt, tief hin­ab in die Gän­ge, vor­bei an einem ech­ten Flucht­tun­nel, eine schma­le Wen­del­trep­pe hin­auf und direkt in die Arme eines Sta­si-Offi­ziers. Hier enden Flucht und sze­ni­sche Lesung.

Bei der szenischen Lesung "Im Tunnel brennt noch Licht!?" bei den Berliner Unterwelten in der Brunnenstraße. Foto: Schnell
Bei der sze­ni­schen Lesung “Im Tun­nel brennt noch Licht!?” beim Ber­li­ner Unter­wel­ten e.V. in der Brun­nen­stra­ße. Fotos (4): And­rei Schnell

Zuge­ge­ben, die sze­ni­sche Lesung fand nicht im Wed­ding statt. Brun­nen­stra­ße 143, das ist vom Stadt­teil aus gese­hen schon knapp hin­ter der Ber­nau­er Stra­ße, Alt-Mit­te. Der ganz klei­ne Aus­flug raus aus dem Wed­ding hat sich aber gelohnt für die­se Rei­se in eine Zeit, die his­to­risch betrach­tet noch sehr nah, aber gleich­zei­tig bereits auch sehr weit ent­fernt ist. Die mar­kier­ten Lini­en der Mau­er­ge­denk­stät­te haben an dem Abend einen Klang bekom­men, einen Flucht­tun­nel-Sound, sie haben lite­ra­ri­sche und per­sön­li­che Tex­te bekom­men. Ein Bild und zwei Stun­den guter Unter­hal­tung an einem sehr authen­ti­schen Ort. Auch das ist Erinnerungskultur.

Service

Wer sich auch auf die­se klei­ne Zeit­rei­se bege­ben will, hat dazu im Sep­tem­ber noch­mals Gele­gen­heit. Die sze­ni­sche Lesung mit Musik „Im Tun­nel brennt noch Licht!?“ fin­det am 8. und 9. Sep­tem­ber jeweils um 20 Uhr statt (Ein­lass 19.15 Uhr). Der Ein­tritt kos­tet 15 Euro. Kar­ten­vor­be­stel­lun­gen sind bereits jetzt per E‑Mail unter [email protected] mög­lich. Weil es im Braue­rei­kel­ler immer kühl ist, soll­te man einen Pull­over oder eine Strick­ja­cke mitnehmen.

Dominique Hensel

Dominique Hensel lebt und schreibt im Wedding. Jeden zweiten Sonntag gibt sie hier den Newsüberblick für den Stadtteil. Die gelernte Journalistin schreibt für den Blog gern aktuelle Texte - am liebsten zu den Themen Stadtgärten, Kultur, Nachbarschaft und Soziales. Hyperlokal hat Dominique es auf jeden Fall am liebsten und beim Weddingweiser ist sie fast schon immer.

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