Dienstag, 08.03.2022 und Mittwoch, 09.03.2022
Vor einigen Tagen hörte ich von einem Grenzübergang am südöstlichsten Zipfel Polens, im Karpatenvorland auf etwa 400m. Da muss ich hin, denke ich mir an diesem Dienstagmorgen beim Frühstück im Hotel in Jarosław, und kann mich auch dort für einige Tage einschneien lassen. Denn die Wettervorhersage kündigt an, dass es noch mal richtig weiß werden wird.
Nach einem kurzem Zwischenstopp in der 60.000-Einwohner-Stadt Przemyśl, die inzwischen zu einem Zentrum für die Ankunft und Durchreise von Flüchtlingen vor allem aus Lwiw geworden ist, wird es hügelig. Ein Straßenschild empfiehlt Schneeketten. Es folgen Tannenwälder, beeindruckende Aussichten, dann die Ankunft im kleinen Dorf Krościenko. Dort miete ich mich bei einem Ehepaar ein, das einige Zimmer im Obergeschoss anbietet. Krościenko besteht lediglich aus einigen verteilten Gehöften und ein paar Gewerbebetrieben, wie einem Sägewerk und einem Großhandel für Chemieprodukte. Und dann ist da noch die Eisenbahnlinie, die einige Meter hinter meiner Unterkunft verläuft und scheinbar stillgelegt ist. Rundherum Berge.
Links: Blick aus meinem Zimmer. Rechts: Starker Schneefall entlang der Straße.
Am nächsten Morgen wache ich früh auf. Draußen ist alles weiß und es herrscht weiterhin Schneegestöber. Warm angezogen und mit Rucksack laufe ich los in Richtung Osten. Bis zur Grenze ist es eine knappe halbe Stunde. Nach einigen Minuten stechen plötzlich grelle Farben aus dem Wintergrau hervor: es sind die orangefarbenen Anzüge von Gleisarbeitern. Zunächst sehe ich ein Schienenfahrzeug, von dem Arbeiter Schwellen abladen. Einige Hundert Meter weiter sind mehrere Dutzend Arbeiter damit beschäftigt, die alten Schwellen auszutauschen.
Gleisarbeiter gehen auf dem Bahndamm.
Ich gehe die Straßenböschung hinunter, klettere den Bahndamm hinauf und spreche die Arbeiter an. Sie sind sehr zögerlich mit Auskünften und einer von ihnen verweist darauf, dass ich mich hier aus Sicherheitsgründen nicht aufhalten darf. Ich schaffe es jedoch einen kurzen Moment zu bleiben und einem von ihnen, Stefan, der etwas Englisch spricht, ein paar Worte zu entlocken. Mit Beginn des Krieges und der Ankunft der ersten Flüchtlinge wurde die seit langem stillgelegte Zugverbindung in das nächste Dorf auf ukrainischer Seite reaktiviert und Menschen werden schon seit Tagen mit Zügen bis zur polnischen Grenze gebracht. Jetzt wird die Strecke auf der polnischen Seite auf einer Länge von etwa 30 Kilometern bis in eine nächstgrößere Stadt wieder fit gemacht. Dafür werden nicht sämtliche, sondern nur alle etwa 5–7m die Schwellen ausgetauscht.
Oben links: Gleisarbeiter bewegen mit einem Baggerfahrzeug den Schotter.
Oben rechts: Teil der Strecke mit neu verlegten Schwellen.
Unten links: Eine neu verlegte Schwelle.
Unten rechts: Gleisarbeiter lösen die Schrauben der alten Schwellen.
Nach dem kurzen Gespräch wird mir klargemacht, dass ich hier wirklich nichts verloren habe. Also gut. Ich halte mich an vertrockneten Pflanzenhalmen fest und rutsche den verschneiten Bahndamm herunter. Zurück auf der Straße sehe ich die ersten parkenden Autos – fast alle mit ukrainischen Nummernschildern. Viele Flüchtlinge halten an, nachdem sie die Grenze überquert haben, atmen einen Moment durch bzw. klären das nächste Ziel ab. Manche wissen, wohin es gehen wird, beispielsweise zu Verwandten oder Bekannten irgendwo in Polen, Tschechien oder Deutschland. Andere wissen nicht einmal, wo sie die nächste Nacht verbringen werden.
Neben einem Wagen steht eine junge Frau, Tanya, 28. „Wir kommen gerade aus Lwiw, wo wir nach zwei Tagen Reise eine Pause einlegten. Nach weiteren 24 Stunden sind wir jetzt hier. Ich fühle mich okay. Wir sind jetzt sicher. Wir, das sind meine Mutter, die Frau meines Bruders und ihre Schwester. Mein Vater und mein Freund sind weiterhin Zuhause im Dorf.“
Im Auto sitzen Maria, 31, Anna, 28 und Olena, 54. Maria hat bisher im Tourismus gearbeitet, ist auch viel in Südosteuropa rumgekommen. Sie erzählt enttäuscht, wie frühere Kolleginnen aus Russland der Propaganda Putins verfallen sind. „Wir kennen uns teilweise seit 10 Jahren und jetzt sagen sie zu mir: ‚Ihr attackiert doch eure eigenen Städte. Das sind nicht wir. Ihr denkt euch das doch aus!’“
Links: Tanya. Rechts: Ein Feuerwehrmann begleitet ankommende Flüchtlinge über die Grenze.
Ich frage sie, ob es diese unterschiedlichen Perspektiven schon immer gab. „Nein, das hat sich dieses Jahr verändert. Wir haben viel zusammengearbeitet. In Griechenland und an anderen Orten. Sie waren nicht sonderlich politisch. Als wir damals über die Krim geredet haben, hieß es von ihnen nur: ‚Ach, das ist Geopolitik. Natürlich ist das euer Land. Wir wissen auch nicht, warum Putin es sich einverleibt hat.’ Aber jetzt stehen sie voll hinter Putin.“
„Meine Bekannten sind selbst in der Ukraine gewesen, sogar im westlichen Teil. Sie redeten natürlich Russisch und hatten dort keinerlei Probleme, sondern wurden im Gegenteil sehr herzlich empfangen. Aber jetzt erzählen sie vom Rassismus in der Ukraine, von einer Diskriminierung russisch-sprechender Menschen.“ Maria klingt enorm frustriert; in ihrer Familie wird auch Russisch gesprochen. Sie erzählt und erzählt, sodass sich ihre Stimme manchmal fast überschlägt. Sie sagt, dass sie dankbar ist, dass ich hier bin, dokumentiere und ihnen zuhöre.
„Sie sehen in Russland teilweise die gleichen Bilder wie wir, aber mit anderen Beschreibungen. Da heißt es dann: ukrainische Truppen bombardieren ihre eigenen Städte. Und sie glauben es. Sie lesen keine Nachrichten aus dem Ausland und halten das für wahr, was im Fernsehen gesagt wird. Als ich nach den Auswirkungen der Sanktionen fragte, meinte eine Bekannte, dass zwar die Preise etwas stiegen, aber es nicht so schlimm sei. Das Land sei stark genug. Sie haben ja viel Gas und wenn Europa der Ukraine weiterhin hälfe, erhöhen sie halt im nächsten Winter die Preise und Europa werde die Seite wechseln.“
„Wir hängen hier den ganzen Tag vor den Nachrichten und verfolgen, wo Bomben einschlagen. Auch auf dem Weg hierhin. Wir sind in Kyiv losgefahren in Richtung Lwiw. Fünf Stunden standen wir im Stau. Abends um 21 Uhr realisierten wir, dass wir seit 16 Stunden unterwegs waren und eine kurze Schlafpause brauchten. Also hielten wir im Nirgendwo in einem Dorf an. Gegen 3 Uhr morgens hörten wir die Sirenen. Wir dachten nur: Scheiße, wo sollen wir uns verstecken? Und dann hörten wir die Geräusche explodierender Bomben. Am nächsten Morgen fanden wir heraus, dass wir genau zwischen den beiden Städten gehalten hatten, die bombardiert wurden. Wir hatten so viel Glück, dass wir nicht eine Stunde früher oder später gehalten hatten.“
Maria, Anna und Olena (v.r.n.l.)
Maria und Anna schildern aber auch Momente der Menschlichkeit, Solidarität und Einigkeit. Als Maria vor kurzem in Kyiv in einen Supermarkt ging, sah sie eine weinende Angestellte, umarmte sie und redete ihr in motivierenden Worten gut zu „Der Krieg wird vorbeigehen. Wir werden gewinnen. Alles wird gut!“ Leute helfen sich, nehmen Bekannte und deren Haustiere mit, wenn sie noch Platz im Auto haben. Es gibt die Geschichten über Roma, die russische Panzer klauen und der ukrainischen Armee übergeben. Sie erzählen davon, dass viele Menschen Molotowcocktails anfertigen und sagen dann lachend, dass diese nun auch „Russian smoothie“ genannt werden. Sie zeigen mir, dass es auch in diesen schweren Zeiten Humor geben kann.
Ihr Bruder versorgt Menschen in Bunkern mit Essen, ein Freund transportiert Munition zu den Wachposten. Ihr Vater habe nun endlich auch eine Sicherheitsweste bekommen können. Menschen schicken Geld. „Wir glauben, dass wir gewinnen können. Im Endeffekt wollen wir einfach leben.“
Über Selensky sagen sie, dass er die Wahl mit großer Zustimmung gewann. Er kündigte an, gegen das bisherige, korrupte System und russische Einflussnahme in der Regierung zu kämpfen. Unter anderem ging Selensky 2021 gegen Wiktor Medwetdschuk, ein Putin nahestehender Oligarch und Besitzer mehrerer Fernsehsender, vor. „Er ist der erste Präsident, der etwas für die Leute tut und eben auch die Verbindungen nach Russland einschränkt.“ Das, meint Maria, habe Putin ziemlich wütend gemacht und in Russland heißt es jetzt „Selensky ist böse, installiert von Europa. Er ist gegen die Menschen und ein Monster.“
Was für sie persönlich jetzt kommt, wissen sie nicht. Wahrscheinlich werden sie zunächst einige Nächte bei Bekannten in Polen verbringen. Es ist unklar, wo sie danach bleiben können. Sie sind unglaublich dankbar für die Hilfsbereitschaft und all die Angebote. „Wir können jetzt überall leben, aber wir wollen das eigentlich gar nicht. Wir wollen eigentlich nur zurück. Wir sollten jetzt eigentlich Polnisch lernen. Aber wir wollen doch gar nicht da bleiben. Das ist doch keine Perspektive.“
Oben links: Flaggen an einem Zelt.
Oben rechts: Suppenküche.
Unten links: Ein Feuerwehrmann steht auf dem matschigen Boden.
Unten rechts: Kisten mit frischen Äpfeln.
Wir verabschieden uns und ich gehe weiter. Kurze Zeit später erreiche ich den Übergang. Um mich herum weiß-bepuderte Tannen und Zelte. Schnee und Matsch am Boden. Hilfsorganisationen, Grenzbeamte, flüchtende Menschen. Der Rauch der vielen wärmespendenden Feuertonnen liegt in der Luft. Gelegentlich das Rattern der Maschinen der Schienenarbeiter. Ich verspüre eine melancholische Ruhe trotz des Treibens um mich herum. Gelegentlich tauchen Menschen zu Fuß oder Autos aus der Grenzanlage auf. Kleintransporter der Feuerwehr nehmen Menschen aus der Warteschlange mit und bringen sie in die nächste Stadt.
Ich laufe umher und bleibe immer wieder stehen, beobachte einfach. Als ich gegenüber der auf die Kleintransporter wartenden Menschen stehe, nehme ich drei Frauen wahr, davon eine ältere Dame im Rollstuhl, die eine Katze auf dem Schoß hat. Ich gehe zu ihnen hinüber, weil ich die nackten Hände der alten Frau sehe und meinem Impuls folge und ihr meine Handschuhe anbiete. Sie nimmt diese dankend an und ich ziehe sie ihr über. Veronika, Wita und Zhanna sind aus Charkiw geflohen und berichten von Raketen, Bomben, zerstörten Wohnhäusern, fehlender Elektrizität, Bunkern und vollen Krankenhäusern.
Links: Veronika, Wita, Zhanna (v.l.n.r.)
Etwas weiter abseits, hinter den Zelten am Rand des Waldes, sehe ich einen jungen Mann, der mit einer Schippe Kohle in Kisten packt. Mark, 20, spricht sehr gutes Englisch. Er redet von sich und den anderen Freiwilligen immer in der Wir-Form: „Am frühen Morgen gibt es die meiste Arbeit, weil die Busse nachts nicht so häufig fahren und die Flüchtlinge dann teilweise stundenlang am Terminal gewissermaßen im Niemandsland zwischen den Ländern warten. Darüber sind viele verärgert. Und sie haben ein Recht das zu sein! Aber wir geben unser Bestes. Wenn wir gegen 6 Uhr ankommen, schauen wir, was direkt am Terminal benötigt wird und liefern Essen und Getränke. Dann organisieren wir so viele Busse wie möglich, um Menschen weiter zu bringen und den Druck hier von dem Ort zu nehmen. Mittlerweile läuft die Organisation ziemlich gut.“
Nach knapp drei Stunden bin ich voller Eindrücke. Der Schneefall hat nachgelassen. Ich gehe zurück ins Dorf. Vorbei an den Gleisarbeitern, den parkenden Autos. Tanya, Maria, Anna und Olena sind mittlerweile abgefahren.
Links: Mark. Rechts: Der Waldrand hinter den Hilfszelten.
Bildredaktion: Liane Geßner
Auf dieser Seite haben wir ein paar Informationen zusammengestellt, wie man von Berlin und Wedding aus helfen kann. Die Seite wird nach und nach befüllt.
Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7 und Teil 8 der Serie nachlesen.