eDen schick sanierten und modern wirkenden Altbau an der Brücke über die Panke hat der Wedding schon auf seine Art begrüßt. “65 Berlin” steht dort aufgesprüht, sozusagen als Hinweis, mit wem es die neuen Hausbewohner hier zu tun kriegen. Die Gerichtstraße ist, trotz der schönen Altbauten und Gewerbehöfe, keine gediegene Adresse. Noch nicht.
Jürgen Reicherts Atelier befindet sich schon seit dreißig Jahren im Hof der Gerichtstraße 12⁄13. Der 60-jährige Künstler hat die Entwicklung des Kiezes miterlebt und durch seine Arbeit auch mitgestaltet. “Wenn Künstler da sind”, sagt er, “erhöht das die Attraktivität eines Kiezes.” Die sechs Fabrikhöfe, von der GESOBAU seit 1983 unter dem Namen “Gerichtshöfe” an circa 70 Künstler vermietet, sind zwar nach eigener Aussage eines der größten Kunstquartiere Deutschlands. Doch für die jetzigen Bewohner der Gerichtstraße könnte die räumliche Nähe zu Luxuswohnprojekten an der Chausseestraße, dem BND-Neubau und dem Entwicklungsgebiet Heidestraße zum Verhängnis werden. “Häuser werden saniert, Dachterrassen ausgebaut, Touristenbusse fahren durch die Straße”, erzählt Reichert, “ich beobachte hier eine neue Klientel.” Genau das ist die Krux: Menschen, die hohe Mieten oder Kaufpreise zahlen können, schätzen häufig die Nähe zu Künstlern und haben jetzt auch die Gegend rund um die Gerichtstraße für sich entdeckt.
Die Heimat von “N 65”
Die heutige Gerichtstraße ist im Moment noch eine experimentelle Spielwiese mit vielen Freiräumen. Eine gute Gegend war die in zwei Abschnitte zerrissene Straße aber nie. Schon ihr Name verweist nicht, wie man denken könnte, auf einen repräsentativen Justizpalast. Vielmehr wurden zwischen 1749 und 1840 am heutigen Gartenplatz Gerichtsurteile vollstreckt – durch den Galgen. Ihr westliches, verkehrsberuhigtes Drittel reicht bis an die Müllerstraße heran. Das markante, 1926–28 errichtete, sachlich gehaltene Backsteingebäude (Nr. 50⁄51) beherbergte bis vor einigen Jahren die Post – hier war das Amt “N 65″ beheimatet. Noch heute symbolisiert die postalische Nummer, später “1000 Berlin 65”, ein Stück Weddinger Identität.
Im Moment ist dieser Teil der Gerichtstraße eine ziemlich “tote Ecke” – gegenüber der Post lag der älteste kommunale Friedhof Berlins, der heutige Urnenfriedhof. Direkt am Rand des Friedhofs wurde – mancher Weddinger dürfte sich die Augen vor Verwunderung reiben – ein Neubau mit teuren Eigentumswohnungen errichtet. Das etwas abseits der Gerichtstraße liegende, eigenwillige Krematorium mit seiner achteckigen Halle – vor hundert Jahren der erste Berliner Ort für Feuerbestattung – wurde an einen privaten Investor verkauft, der die Gebäudeteile unter dem Label “silent green Kulturquartier” als Galerie- und Ausstellungsort nutzt. Dass der Ort eine makabre Ausstrahlung besitzt, dürfte der neuen Nutzung eher zuträglich sein. Erste Nutzer sind schon eingezogen: das Restaurant MARS im Silent Green beispielsweise oder das Filmarchiv des Kinos “Arsenal” im Keller, die würdevolle Trauerhalle ist ein Ausstellungs- und Eventort.
Ein paar Meter weiter östlich. “Tanz auf dem Vulkan” heißt die Bronzeskulptur mit einem Mann am Klavier in der Mitte des baumbestandenen Nettelbeckplatzes. Arm, unprätentiös, jedoch bunt gemischt – das Straßenbild strahlt die für den Wedding immer noch typische Unaufgeregtheit und Lässigkeit aus. Erst 1988 wurde der einst vom Verkehr umtoste Platz verkehrsberuhigt und mit Neubauten eingegrenzt. Mit dem Mirage-Bistrot ist jetzt auch ambitionierte französische Bistroküche an einer Ecke des Platzes eingezogen.
Altes neu genutzt
Hinter der Kreuzung mit der Reinickendorfer Straße/Pankstraße und einer brutal-hässlichen Beton-Bahnbrücke geht die Gerichtstraße weiter und wechselt ihr Gesicht. Ihr östlicher Abschnitt liegt schon innerhalb des S‑Bahn-Rings und ist der wesentlich dynamischere Teil der Straße. Hier konzentriert sich das Potenzial der Gerichtstraße, bevor sie sozusagen im Nichts endet. Vielerorts kann man die frisch eroberten Freiräume noch mit Händen greifen: es genügt, sich durch die sechs Höfe der Gerichtstraße 23 treiben zu lassen. Der Club “PANKE”, die Kunst-Bar “Anita Berber”, die Bar THE FORSBERG, das Dark & Twisty-Café und der Burgerladen Louis Alfons sind Vorboten einer sich entwickelnden Gastro- und Nachtlebenkultur. Das “Tangoloft” gibt es in einem der Seitenflügel aber schon länger. “Kochende Welten” im Wortsinne bietet Event-Gastronomie, die gastronomische Einflüsse aus allen Ecken des Planeten für Kochevents nutzt.
Das Stadtbad, Hausnummer 65, war 1956 trotz Kriegszerstörungen wieder in Betrieb. Damals diente die Schwimmhalle als Kulisse für den stilprägenden Film “Die Halbstarken” mit Horst Buchholz. Die im Wedding geborene Karin Baal wurde durch diesen Film überhaupt erst entdeckt und startete eine erfolgreiche Karriere als Schauspielerin. Das Bad selbst hatte mit seinen beiden Schwimmbecken und 85 Badewannen natürlich eine wichtige Funktion für die Hygiene der Weddinger Bevölkerung, für die ein eigenes Bad oft ein unerreichbarer Luxus war. 1999 musste es im Zuge von Sparmaßnahmen schließen und wurde an einen Investor verkauft. Bis Mai 2015 wurde die stillgelegte Badeanstalt als “Stattbad” genutzt – ein Ort für Kreativwirtschaft, Ausstellungen, Urban Art – und leider auch für ungenehmigte Parties. Das führte zur baupolizeilichen Schließung. Damit fehlte plötzlich ein Anziehungspunkt für die neue kreative und feierfreudige Klientel, die auf einige im Wedding wie ein Fremdkörper wirkte. Vorbei. Das Stadtbad Wedding wurde kurzerhand abgerissen, um Platz für Studentenwohnungen zu machen. Wie ein Fremdkörper steht dort nun ein Neubau mit ziemlich teuren Appartments, die bei uns Weddingern einen fragwürdigen Eindruck hinterlassen.
Schon immer erfinderisch
Ein Alltagsgegenstand, der im Berlin der Mietskasernen zeitweise sehr weit verbreitet war, ist der Durchsteckschlüssel – ein Schlüssel mit zwei Bärten, der im Jahr 1912 in der Gerichtstraße 12 von Johannes Schweiger ausgetüftelt wurde. Dieser vom Aussterben bedrohte Schlüssel muss auf der Innenseite der Tür wieder herausgezogen werden und zwingt den Benutzer dazu, eine Haustür auch wieder von innen zu verschließen. In der Gerichtstraße war man offenbar auch früher schon erfinderisch.
Wenn man die Gerichtstraße stur geradeaus läuft, könnte man die Panke fast übersehen. Dabei stellt der Grünzug am Ufer des 30 Kilometer langen Spree-Nebenflusses, der die Gerichtstraße kurz vor der Einmündung der Kolberger Straße quert, eine Verbindung zur wild-romantischen Ruine des einstigen Obdachlosenasyls “Wiesenburg” und zum Südpankepark her. Besonders an diesem Abschnitt des Rad- und Wanderwegs erkennt man, dass sich Urbanität und Natur hervorragend verbinden können. Hier ist die Gerichtstraße trotz ihrer Citylage grün und luftig.
Lauter als woanders
An den Gerichtshöfen, Hausnummer 12⁄13, könnte ein Besuch der Straße getrost enden, denn in ihrem weiteren Verlauf verpasst man nichts. Lange lag diese Gegend im Schatten der Mauer. Dass es mit dieser Randlage allmählich vorbei ist, lässt sich hier kaum noch bestreiten. Doch kann man sich eine vollständige Aufwertung der bunt gemischten Straße im Moment schwer vorstellen. Christine Kummer hat bis vor kurzem in der Gerichtstraße gewohnt. “Ich spürte zwar die positive Entwicklung der Straße, aber mich hat gestört, dass sich hier immer mehr Gruppen zusammenrotten”, sagt die Designerin. Als werdende Mutter hat sie sich in diesem Umfeld, in dem Razzien im Rockerclub zum Alltag gehören, nicht mehr sicher gefühlt. Denn hier wird es auch schon mal laut. “Konflikte werden hier auf der Straße ausgetragen”, berichtet der Maler Jürgen Reichert. Er glaubt, dass in dieser Gegend die Toleranz der Anwohner für ein intensives Nachtleben größer ist als in den “ruhebedürftigen” Stadtteilen wie Prenzlauer Berg (der seine wildesten Zeiten längst hinter sich hat). Noch ein vermeintlicher Pluspunkt für den Kiez, der sich verhängnisvoll auswirken könnte. “Der Wedding dürfte aber farbig und lebendig bleiben”, glaubt Jürgen Reichert, dessen Atelier in den Gerichtshöfen letztendlich auch von Spekulation bedroht ist. “Vor allem eines passiert im Wedding mit Sicherheit”, sagt der langjährige Kenner der Verhältnisse im Kiez: “Es wird teurer.”
Das Auf und Ab der letzten Jahre zeigt: An der wechselhaften Entwicklung der Gerichtstraße wird sich ablesen lassen, wie lange das wehrhafte “65 Berlin” seinen heutigen Charme bewahren kann…
aktualisiert 2017
[…] Weltkrieg von der gründerzeitlichen Bebauung nicht stehengeblieben. Erst ab der Kreuzung mit der Gerichtstraße beginnt ein geschlossenes […]
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Ihr habt die Hells Angels, die ihren Sitz in der Gerichtstr. haben, vergessen!
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