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Wedding-Buch:
Otto Nagel über das Weddinger Milljöh

7. November 2017
Buchcover
Cover des Eröff­nungs­ban­des “Das nas­se Drei­cke” von Otto Nagel. Gra­fik: promo

Bei den so genann­ten ewi­gen Fra­gen, die die Mensch­heit immer beschäf­tigt hat und immer beschäf­ti­gen wird, denkt man heut­zu­ta­ge an Lie­be, an Tren­nung oder ans Erwach­sen­wer­den. Davon han­deln die Pop-Songs, die Hol­ly­wood­fil­me und die Bücher der Cen­ter-Buch­hand­lun­gen. Dabei gibt es auch ande­re “ewi­ge Fra­gen”. Zum Bei­spiel: Wie ver­hält sich eine Gesell­schaft zu den Ärms­ten unter ihnen? Wal­ter Frey hat in die­sem Jahr Otto Nagels Roman “Die wei­ße Tau­be oder Das nas­se Drei­eck” neu auf­ge­legt. Die­ses Buch spielt wäh­rend der Welt­wirt­schafts­kri­se 1928 in einer Spe­lun­ke an der Panke.

“Die wei­ße Tau­be oder Das nas­se Drei­eck” ist das ers­te Buch einer neu­en Rei­he, die tref­fend “Wed­ding-Bücher” heißt. Der Roman, geschrie­ben in den 1930er Jah­ren, stellt noch heu­te aktu­el­len Fra­gen über Unter­stüt­zung und Hil­fe für Men­schen, die es nicht geschafft haben.

Damit gleich klar ist, wor­um es in dem Buch geht, schickt Otto Nagel dem Buch einen Satz vor­an: “Es geht einer vor die Hun­de”. So woll­te er den Roman ursprüng­lich nen­nen. Und auf einem wei­te­ren Vor­satz­pa­pier folgt eine fünf­zei­li­ge Erklä­rung, die erläu­tert, es gehe um “Aus­ge­steu­er­te, die ohne Anspruch auf Unter­stüt­zung als unsicht­ba­re Erwerbs­lo­se dahin­ve­ge­tie­ren”. Den Begriff Aus­ge­steu­er­te ver­zeich­net der Duden noch heu­te. Der büro­kra­ti­sche Begriff aus der Wei­ma­rer Repu­blik ver­harm­lost das Ver­wei­gern jeg­li­cher staat­li­chen Unterstützung.

Ein Buch über fehlende Solidargemeinschaft

Obdachloser
Ein Obdach­lo­ser schläft an einer Bus­hal­te­stel­le. Foto: And­rei Schnell

Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jah­re gab es in Deutsch­land eine nach heu­ti­gen Maß­stä­ben unvor­stell­ba­re Armut. Sie ist der Hin­ter­grund für Otto Nagels sozi­al­kri­ti­sches Buch. Erzählt wird die Geschich­te des Arbei­ters Wil­helm Thie­le, der sich bet­telnd und steh­lend durch­schlägt. Es eine Geschich­te über das Feh­len von etwas, das heu­te “Soli­dar­ge­mein­schaft” heißt.

Wäh­rend die in der glei­chen Zeit ent­stan­de­nen Bücher von Erich Käst­ner – “Emil und die Detek­ti­ve” oder “Pünkt­chen und Anton” – wie in Grimms Mär­chen stets von der Moral und der Tugend der Armen han­deln, so ist Nagels Buch ein lin­kes Mär­chen über die Ohn­macht der Men­schen ganz unten. Chan­cen­los ist die Haupt­fi­gur Wil­helm Thie­le. Es soll schei­nen als ob es kei­nen ande­ren Weg gäbe, als den – dass der ehr­li­che Thie­le am Ende zer­mürbt “kaputt geht”. Schließ­lich bestimmt das Sein das Bewusst­sein, wie der Lin­ke Otto Nagel glaubt.

Aber die Fra­ge, die das Buch stellt, die geht alle an; auch die Leser, die sich nicht als links ein­ord­nen. Denn nie­mand kann ernst­haft die Fra­ge weg­schie­ben: Was steht den Ärms­ten bedin­gungs­los zu?

Im Roman stößt sich die Wir­tin “Mutt­chen” in ihrem Wed­din­ger Lokal “Das nas­se Drei­eck” an den obdach­lo­sen Bett­lern gesund. Sie lebt von den Pfen­ni­gen der vie­len her­un­ter­ge­kom­me­nen Exis­ten­zen. Ist das noch Hil­fe, wenn sie dabei Geld ver­dient? Ist das bloß Geschäft, wenn sie den ein­zi­gen sozia­len Anlauf­punkt für das “Pen­ner­pack” anbie­tet? Und wie sähe rich­ti­ges Han­deln aus? Was wäre denn eigent­lich heu­te die rich­ti­ge Lösung? Wie zum Bei­spiel umge­hen mit den Woh­nungs­lo­sen vom Tier­gar­ten? Sind das Sozi­al­schma­rot­zer und Kri­mi­nel­le, die aus­ge­steu­ert, das heißt abge­scho­ben gehö­ren? Sind das hilf­lo­se Men­schen, die rein gar nichts für ihre Situa­ti­on können?

Ein Buch zum Berlinisch lernen

Aber Otto Nagels Buch ist nicht nur mora­lisch. Es bie­tet auch eine gute Gele­gen­heit Ber­li­nisch (wie­der) zu erler­nen. Eine Spra­che, die in Ber­lin der­zeit nicht mehr zu hören ist: “Mensch, du bist eener mit Ärmel” – “Er hat ihm sei­nen schee­nen Voll­bart ram­po­niert” – “pam­pi­ge Bur­schen” – “Albert­ken, det is schon ’ne Mar­ke” – “for naß anga­gie­ren” – “Ich kann Sie nicht hel­fen”. Und auch ein­zel­ne Wor­te wie “ver­kün­di­gen”, “kah­le Gei­ge”, “Bol­zen”, “abge­bürs­tet” sind schö­ne ber­li­ni­sche Wen­dun­gen. Otto Nagel, der selbst im Wed­ding auf­wuchs, will mit die­sen O‑Tönen dras­ti­schen Rea­lis­mus ins Buch brin­gen. (wohin­ge­gen Käst­ners Figu­ren immer schön ofen­warm sprechen).

Und – für einen Maler nicht selbst­ver­ständ­lich – gelingt es Otto Nagel ein span­nen­des, gut zu lesen­des Buch zu schrei­ben. Wer sich nicht mit ethi­schen Fra­gen auf­hal­ten mag, der kann das Buch auch a la “Down­ton Abbey” lesen. Statt eines Schlos­ses steht eine Suff­knei­pe im Mit­te­p­lunkt der Serie von Kapi­teln. Jedes der 16 Kapi­tel – nur lose durch das Schick­sal von Wil­helm Thie­le zusam­men­ge­hal­ten – wirft ein neu­es, uner­war­te­tes Seri­en­schlag­licht auf die Welt der Penn­brü­der, für die die Knei­pe “Das Nas­se Drei­eck” ein Wohn­zim­mer ist.

Otto Nagel

Otto Nagel wur­de 1894 im Wed­ding in der Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße 67 gebo­ren. Bekannt wur­de er bereits in den 1920er Jah­ren. Er galt als Arbei­ter­ma­ler. Sei­ne rea­lis­ti­schen Ölge­mäl­de zei­gen die Armut der Pro­le­ta­ri­er (wie man damals sag­te) scho­nungs­los. Für augen­zwin­kern­den Humor, wie in den Zeich­nun­gen sei­nes Freun­des Hein­rich Zil­le zu fin­den, ist in Nagels Dar­stel­lun­gen des Mill­jöhs (also des Pre­ka­ri­ats) kein Platz. Eine Pas­tell­zeich­nung von 1935 zeigt den Innen­raum des “Nas­sen Dreieck”.

Sein poli­ti­sches Leben begann der Maler 1920, nach dem ers­ten Welt­krieg, mit dem Ein­tritt in die kom­mu­nis­ti­sche Par­tei. Für einen Tag war er 1993 Vor­sit­zen­der des Reichs­ver­ban­des der Bil­den­den Künst­ler Deutsch­lands. Doch schon bald folg­ten Ver­haf­tun­gen. 193637 wur­de er im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Sach­sen­hau­sen ein­ge­ker­kert. Nach dem zwei­ten Welt­krieg war Otto Nagel als Prä­si­dent der Aka­de­mie der Küns­te ein wich­ti­ger Kul­tur­funk­tio­när in der DDR. Er starb 1967.

Den Roman “Die wei­ße Tau­be oder Das nas­se Drei­eck” schrieb er von 1928 bis 1932. Kom­plett ver­öf­fent­licht wur­de er aller­dings erst 1978 im Mit­tel­deut­schen Ver­lag (einem der unab­hän­gi­ge­ren Ver­la­ge in der DDR). Die aben­teu­er­li­che Geschich­te des Schreib­ma­schi­nen-Manu­skripts schil­dert Nagels Ehe­frau Wal­li Nagel in einem Vor­wort. Im Nach­wort ver­gleicht Brun­hil­de Wehin­ger den Roman mit ande­ren Büchern der Zeit.

Walter Freys Wedding-Bücher

“Ich habe den Ein­druck, dass es bei vie­len Alt- und ins­be­son­de­re auch Neu-Wed­din­gern ein aus­ge­präg­tes Inter­es­se an der Geschich­te des Wed­ding gibt”, begrün­det Wal­ter Frey den Start der Rei­he “Wed­ding-Bücher”, deren ers­tes Buch Otto Nagels Roman ist. Da passt es, dass Otto Nagels Todes­tag sich in die­sem Jahr zum 50. Mal jähr­te. Wal­ter Frey hält Otto Nagel auch für Wed­dings “berühm­tes­ten Sohn”. Immer­hin gab es zu Ehren des heu­te bei­na­he ver­ges­se­nen Malers bis 2007 in der See­stra­ße eine kom­mu­na­le Otto-Nagel-Galerie.

Der Roman führt die Rei­he der Wed­ding-Bücher an, noch vor einem Buch über Georg Ben­ja­min, dem Bru­der des berühm­ten Wal­ter Ben­ja­min. Georg Ben­ja­min leb­te 1921 a la Gün­ter Wall­raf under­co­ver im Ledi­gen­heim in der Wed­din­ger Schön­stedt-Stra­ße, um die Ver­hält­nis­se aus ers­ter Hand zu erfahren.

Der Her­aus­ge­ber der Rei­he “Wed­ding-Bücher”, Wal­ter Frey, lebt seit sie­ben Jah­ren (wie­der im Wed­ding). Dem einen oder ande­ren ist er bekannt als Spre­cher der Stadt­teil­ver­tre­tung “mensch.müller” (2015−2017). Bücher ver­legt Frey seit 1986.

Neben­bei: Vor­bild für die Knei­pe im Buch könn­te unter ande­ren ähn­li­chen Knei­pen das Lokal “Zum alten Fritz” gewe­sen sein. Wal­ter Frey wür­de sich freu­en, wenn ihm einer der Wed­din­ger His­to­ri­ker schrei­ben könn­te, wo die­ses Eta­b­lis­ment lag.

Wei­ter­füh­ren­de Infos

Otto Nagels “Die wei­ße Tau­be oder Das nas­se Drei­eck” ist im Wal­ter Frey Ver­lag erschie­nen und kos­tet 15 Euro. Es kann mit zusätz­li­chem Por­to direkt beim Her­aus­ge­ber bestellt wer­den und ohne Por­to­kos­ten zum Bei­spiel im Bel­le-Et-Tris­te in der Ams­ter­da­mer Stra­ße mit­ge­nom­men wer­den. Aber auch jede ande­re Buch­hand­lung kann das Buch über www.buchhandel.de bestellen.

Web­sei­te der Buch­rei­he zu “Geschich­te und Gegen­wart des Ber­li­ner Stadt­teils Wed­ding

Bil­der von Otto Nagel auf www.artnet.de

Text: And­rei Schnell, Gra­fik: pro­mo, Foto: And­rei Schnell

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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