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Ein Hauch von Vorwahlen bei den Grünen

26. September 2020
Mitgliederversammlung
Mit­glie­der­ver­samm­lung unter Coro­na-Bedin­gun­gen. Grü­ne wäh­len im Post­sta­di­on. Foto: And­rei Schnell

26.09.2020 In einem Jahr steht die Drei­fach­wahl an. Im Herbst 2021 wählt Ber­lin die zwölf Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lun­gen (BVV), das Abge­ord­ne­ten­haus und den Bun­des­tag. Vor der Wahl kom­men jedoch erst ein­mal die Vor­wah­len, sprich die Par­tei­en stel­len auf, wer über­haupt zur Wahl steht. Heu­te, am 26. Sep­tem­ber, war der Wed­ding­wei­ser live dabei, als die Grü­nen in Ber­lin-Mit­te ihren Kan­di­da­ten für das Amt des  Bür­ger­meis­ters in Mit­te und ihre Direkt­kan­di­da­ten für das Abge­ord­ne­ten­haus gewähl­te haben. Par­al­lel stellt die CDU in Ber­lin-Mit­te ihre Namen für das Abge­ord­ne­ten­haus und für die Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung auf. (Berich­te zu den Nomi­nie­run­gen bei CDU, SPD und Lin­ke folgen).

In den USA ist es üblich, dass die Vor­wah­len manch­mal genau­so span­nend sind, wie die eigent­li­chen Prä­si­dent­schafts­wah­len. In Deutsch­land ist das sel­te­ner der Fall und Kampf­kan­di­da­tu­ren gel­ten in man­chen Par­tei­en als Zei­chen feh­len­der Geschlos­sen­heit. Bei den Grü­nen wur­de es die­ses Mal span­nend, sie stell­ten ihre Kan­di­da­ten für die Wah­len 2021 nicht ein­fach auf, son­dern mach­ten aus der Mit­glie­der­ver­samm­lung zur Nomi­nie­rung des Kan­di­da­ten für das Amt des Bezirks­bür­ger­meis­ters ein Duell. Bei eini­gen weni­gen der sie­ben Wahl­krei­se in Mit­te ermit­tel­ten die Grü­nen ihren Direkt­kan­di­da­ten eben­falls per Stich­wahl, die aller­dings ein­deu­tig aus­ge­fal­len sind. Immer­hin: ein Hauch von Vor­wah­len in Mitte.

Die ande­ren Par­tei­en fol­gen mit ihren Nomi­nie­run­gen spä­ter, man­che erst im nächs­ten Jahr. Die Kan­di­da­ten für den Bun­des­tag und die Lis­ten wer­den auch bei den Grü­nen spä­ter gewählt.

Lest hier den Liveticker direkt von der Wahlversammlung der Grünen in Mitte.

Tatsächliche Wahl

14:37 – Die Wah­len im Lau­fe des Tages waren auf­grund des Wahl­ge­set­zes nur ein “Mei­nungs­bild”. Die eigent­li­che gesetz­mä­ßi­ge Wahl fin­det nun per Wahl­zet­tel statt. Das Stim­mungs­bild wird offi­zi­ell bestä­tigt. Im nun­mehr strö­men­den Regen ver­las­sen die Mit­glie­der das Post­sta­di­on in Moabit.

Laura Neugebauer für Brunnenviertel und Wedding

Laura Neugebauer
Lau­ra Neu­ge­bau­er tritt im Brun­nen­vier­tel und im Wed­ding direkt an. Foto: And­rei Schnell

14:16 – Lau­ra Neu­ge­bau­er: Man müs­se sich sei­nem kolo­nia­len Erbe stel­len. Stra­ßen­um­be­nen­nun­gen müss­ten ver­ein­facht wer­den, post­ko­lo­nia­le Initia­ti­ven müss­ten es an die­ser Stel­le ein­fa­cher haben. “Ich habe es satt, Erin­ne­rungs­kul­tur wie einen Fli­cken­tep­pich anzugehen.”
Biblio­the­ken sind für Bil­dung wich­ti­ge Orte, es brau­che neben Lan­des­bi­blio­the­ken auch Biblio­the­ken in vie­len Stadt­tei­len. “Chan­cen­gleich­heit muss Rea­li­tät werden.”

Sie gewinnt mit 96 von 116 Stimmen.

Tuba Bozkurt für Soldiner Kiez und Gesundbrunnen

Tuba Bozkurt
Tuba Bozk­urt tritt im Sol­di­ner Kiez und Gesund­brun­nen direkt an. Foto: And­rei Schnell

14:05 – Tuba Bozk­urt for­dert glei­che und gerech­te Chan­cen für alle Kin­der in einem Kiez, in dem die Mehr­heit “von ihnen einen so genann­ten Migra­ti­ons­hin­ter­grund” haben. Das Neu­tra­li­täts­ge­bot müs­se über­dacht wer­den, das Kopf­tuch gehö­re zur Gesell­schaft dazu. “Ob Mini­rock oder Kopf­tuch, jede Frau muss selbst­be­stimmt ent­schei­den dür­fen.” Das Klein­ge­wer­be, gera­de im Gesund­brun­nen in migran­ti­scher Hand, müs­se gestärkt wer­den. Die Ver­wal­tung müs­se digi­ta­ler wer­den und die Digi­ta­li­sie­rung nut­zen, um dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er zu werden.

Sie gewinnt ohne Gegen­kan­di­da­ten 92 von 130 Stimmen.

Ario Mirzaie für Afrikanisches und Englisches Viertel

Ario Mirzaie
Ario Mir­zaie tritt als ein­zi­ger Kan­di­dat an. Foto: And­rei Schnell

13:44 – Ario Mir­zaie bewirbt sich als ein­zi­ger Kan­di­dat mit einer schwung­vol­len Rede. Sein The­ma ist Ras­sis­mus, Dis­kri­mi­nie­rung und Rechts­ra­di­ka­lis­mus. “Jede Sil­be für Ver­ständ­nis für die AfD ist eine zu viel.” Er for­dert einen Innen­po­li­tik, die Men­schen­rech­te in den Mit­tel­punkt stellt und ein Demokratiefördergesetz.

Er gewinnt ohne Gegen­kan­di­da­ten mit 112 von 132 Stimmen.

Brüsseler Kiez – Taylan Kurt gegen Armin Schäfer

Taylan Kurt
Taylan Kurt tritt im Wahl­kreis (mit Brüs­se­ler Kiez) als Direkt­kan­di­dat an. Foto: And­rei Schnell

13:37 – Taylan Kurt gewinnt mit 124 von 155 Stim­men und tritt damit im Brüs­se­ler Kiez und in Moa­bit als Direkt­kan­di­dat für das Abge­ord­ne­ten­haus an.

13:27 – Für Armin Schä­fer ist aus fami­liä­ren Grün­den Inklu­si­on ein Her­zens­the­ma. Als Gewerk­schaf­ter will er sich für fai­re Bezah­lung für “Kran­ken­schwes­ter und Poli­zist” einsetzen.

13:21 – Taylan Kurt bewirbt sich mit dem The­ma Armut. Er sei ein “Arbei­ter­kind” und “Gast­ar­bei­ter­kind.” Grü­ne soll­ten “Anwalt der armen Men­schen wer­den.” Immo­bi­li­en­kon­zer­ne, die auf Shop­ping­tour gehen, sind längst die Regel, “Mie­ten sol­len bezahl­bar sein.” Der Fahr­stuhl der sozia­len Mobi­li­tät sol­le “end­lich  nach oben und nicht nach unten fahren.”

Der Wahl­kreis 4 umfasst vor allem vie­le Stra­ßen in Moa­bit und hat einen Zip­fel im Wed­ding:  den Brüs­se­ler Kiez.

Stephan von Dassel knapp Bezirksbürgermeisterkandidat

Tilo Siewer
Tilo Sie­wer will Bezirks­bür­ger­meis­ter wer­den. Foto: And­rei Schnell

11:52 – Zwei­ter Wahl­gang wird nötig. Nun gibt es 251 abge­ge­be­ne Stim­men. Ste­phan von Das­sel erhält 127, Tilo Sie­wer 115 Stim­men. Im star­ken Applaus für den Amts­in­ha­ber waren die genau­en Zah­len zunächst nicht zu hören. Rest­li­che Stim­men sind ungül­tig und Enthaltungen.

11:49 – Ergeb­nis lau­tet: es gibt kein Ergeb­nis. 257 Stim­men wur­den abge­ge­ben. Ste­phan von Das­sel erhielt 124 Stim­men, Tilo Sie­wer 117 Stim­men. Damit wur­de ein bei den Grü­nen vor­ge­schrie­be­nes Quo­rum von 50% für den Gewin­ner nicht erreicht. Rest: ungül­tig und Enthaltungen.

11:30 – Wäh­rend Ste­phan von Das­sel Bezirks­bür­ger­meis­ter blei­ben will, möch­te Tilo Sie­wer es wer­den;  und dafür zum Spit­zen­kan­di­da­ten der Grü­nen gewählt wer­den. Stärks­ten Applaus erhält Sie­wer nach sei­ner Rede im Fra­ge­teil für: “Mit­te soll viel­fäl­tig blei­ben, in Mit­te geht mehr.” Das aus sei­ner Sicht stärks­te Argu­ment für ihn und Begrün­dung für die Kampf­kan­di­da­tur: “Der Bezirk Mit­te hat vie­le grü­ne Wäh­ler ver­prellt, ich möch­te zusam­men­füh­ren.” Er spielt damit auf den Umgang Ste­phan von Das­sels mit obdach­lo­sen Men­schen in öffent­li­chen Parks an (sie­he Bericht im Tages­spie­gel).

Tilo Sie­wer bewarb sich bei den Mit­glie­dern zunächst mit dem The­ma Jugend und Kin­der­ar­mut. 25.000 Kin­der in  Mit­te sei­en arm. “Wir Grü­nen haben uns dafür ein­ge­setzt, den Jugend­club Bad­stra­ße nicht zu schlie­ßen”, so Sie­wer. “Wir haben es geschafft, dass Men­schen, die in der Jugend­ar­beit arbei­ten, bes­ser bezahlt wer­den”, und: “Ich will kein Kind zurücklassen.”
Zwei­tes The­ma sei­ner zehn­mi­nü­ti­gen Rede waren bezahl­ba­re Mie­ten. “Hier ist auch der Bezirk gefragt. Der Bezirk muss den Kampf gegen Feri­en­woh­nun­gen ver­schär­fen, mehr Milieu­schutz­ge­bie­te auf­stel­len, wir müs­sen im Stadt­pla­nungs­amt mehr tun.” Für Tilo Sie­wer braucht Mit­te eine Diver­si­ty­ma­nage­ment, das heißt, die Ver­wal­tung muss mehr für Anti­dis­kri­mi­nie­rung tun. “80 Pro­zent der Schul­ab­gän­ger in Mit­te haben Migra­ti­ons­hin­ter­grund, unter den Neu­an­fän­gern im Amt sind es nur 20 Pro­zent. Das geht so nicht.”

Zum ers­ten Mal einen mehr als höf­li­chen Applaus erhält Tilo Sie­wer für sei­nen per­sön­li­chen Hin­weis, in den 1990er Jah­ren “mein Coming out gehabt zu haben.” Des­we­gen sei er “sen­si­bi­li­siert” für die Fra­ge, dass “Dis­kri­mi­nie­rung im Bezirk kei­nen Platz  haben darf.”

Nicht feh­len durf­ten Kli­ma­schutz und Ver­kehr – The­men, die in bei­den Reden den größ­ten Zuspruch der Grü­nen Mit­glie­der erhielt.

Stephan von Dassel
Ste­phan von Das­sel will Bezirks­bür­ger­meis­ter blei­ben. Foto: And­rei Schnell

11:20 – Nach tech­ni­schen Vor­pro­ben star­tet der Kampf um die Fra­ge, wer für die Grü­ne das Amt des Bezirks­bür­ger­meis­ters anstre­ben soll. Zuerst spricht Ste­phan von Dassel.

Zunächst erin­nert er dar­an, dass er noch als Sozi­al­stadt­rat vor mehr als fünf Jah­ren, Flücht­lin­ge schnell und unbü­ro­kra­tisch in Hos­tels unter­ge­bracht hat. Für den Satz “Moria darf sich nicht wie­der­ho­len” sam­melt er den ers­ten Applaus ein. Wei­te­ren Applaus gab es auch für den Hin­weis, dass er die Arbeits­be­din­gun­gen in Mit­te fami­li­en­freund­lich gestal­tet hat und fle­xi­ble Arbeits­mo­del­le ein­ge­führt hat. “Ich will, dass Mit­te Modell­be­zirk für loka­le Beschäf­ti­gung wird.” Zur Zeit arbei­te­ten dank ihm 50 Lang­zeit­ar­beits­lo­se im Bezirk.

Modell­be­zirk soll Mit­te auch bei der Ver­kehrs­wen­de wer­den. Es brau­che einen Sicher­heits­be­auf­trag­ten. Neben der auto­frei­en Fried­rich­stra­ße schlägt Ste­phan von Das­sel eine auto­freie Naza­reth­kirch­stra­ße vor. Er habe die Cat­cher­wie­se geret­tet (Applaus) und das Him­mel­beet wer­de “am Mett­mann­platz zu neu­er Blü­te kommen.”

Die SPD greift Ste­phan von Das­sel beim The­ma bezahl­ba­re Mie­ten an. “Wir müs­sen das Pla­nungs­recht im Bezirk für öko­lo­gi­schen Woh­nungs­bau nut­zen – als Gegen­ent­wurf zum sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Betonplan.”

Das The­ma, das in sei­ner Par­tei auf ein geteil­tes Echo trifft, ist sein Umgang mit Obdach­lo­sig­keit. “Sie­ben von zehn Obdach­lo­sen kom­men aus Ost­eu­ro­pa, sie leben hier ohne Anspruch auf Sozi­al­hil­fe.” Den­noch habe er ver­sucht, ihnen zu helfen.

Unwirtlicher Ort und verspäteter Start

09:30 – Statt Beginn der Ver­an­stal­tung zunächst Ton­pro­be am Mikro­fon und Schlan­ge stehen.

Vorwahl im Poststadtion
Um 9.00 Uhr ist es kühl. Die Mit­glie­der­ver­samm­lung beginnt in einer Stun­de. Foto: And­rei Schnell

09:00 – Der Tag bei den Grü­nen wird mit der Ent­schei­dung begin­nen, wer sich dem Wahl­volk als Spit­zen­kan­di­dat für das Amt des Bezirks­bür­ger­meis­ters stel­len soll. Auf dem Pro­gramm steht das Duell Ste­phan von Das­sel (zur­zeit Bezirks­bür­ger­meis­ter) und Tilo Sie­wer (seit 2006 in der BVV). Spä­ter fol­gen die Wah­len der Direkt­kan­di­da­ten für die Wahl­krei­se eins bis sie­ben. Auch hier gibt es auf eini­gen Plät­zen Kon­kur­renz. Für den Wed­ding inter­es­sant sind dabei die Krei­se fünf (Eng­li­sches und Afri­ka­ni­sches Vier­tel), sechs (Sol­di­ner Kiez und Pank­stra­ße) und sie­ben (Brun­nen­vier­tel und Wed­ding-Zen­trum). Der Wahl­kreis vier liegt in Moa­bit und streift den Wed­ding, indem er den Brüs­se­ler Kiez einschließt.

Coro­na zwingt zu unge­wöhn­li­chen Lösun­gen, damit vie­le Mit­glie­der einer Par­tei für die Wahl ihrer Kan­di­da­ten zusam­men­kom­men kön­nen. Die Grü­nen in Mit­te nut­zen die küh­le, aber fri­sche Luft auf der Tri­bü­ne des Post­sta­di­ons in Moa­bit, die CDU in Mit­te bevor­zugt einen gemüt­li­che­ren  Ort und trifft sich in einem Hotel im MOA-Bogen in der Ste­phan­stra­ße in Moabit.

Dreifachwahlen 2021

Grund für die Nomi­nie­run­gen ist die Drei­fach­wahl 2021. Im Herbst wer­den der Bun­des­tag, das Ber­li­ner Abge­ord­ne­ten­haus und die Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung neu gewählt. Die Par­tei­en begin­nen nun ihre Kan­di­da­ten auf­zu­stel­len. Wie vor fünf Jah­ren beglei­tet der Wed­ding­wei­ser die aus­sichts­rei­chen Direkt­kan­di­da­ten für das Abge­ord­ne­ten­haus in den Wed­din­ger Wahl­krei­sen 4, 5, 6 und 7.

Am 26. Sep­tem­ber 2020 stell­ten die Grü­nen Mit­te und die CDU Mit­te ihre Direkt­kan­di­da­ten auf. SPD und Lin­ke fol­gen später.

Autorenfoto Andrei SchnellAnd­rei Schnell friert wäh­rend der Mit­glie­der­ver­samm­lung der Grü­nen, die ihren Kan­di­da­ten für den Bezirks­bür­ger­meis­ter per Kampf­wahl ermitteln.

 

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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