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Vom Wedding nach Amsterdam:
Rabbiner Mehler: Ein jüdischer Junge aus der Badstraße

11. Januar 2024
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Am 11. Januar 1944 kam einer der unzähligen Deportationszüge vom Durchgangslager Westerbork im Konzentrationslager Bergen-Belsen an. Im hermetisch verriegelten Waggon waren der 36-jährige Rabbiner Ludwig Mehler, seine fünf Jahre jüngere Frau und die beiden kleinen Kinder. Wir begeben uns auf Spurensuche nach der Kindheit und dem kurzen, intensiven Leben von Rabbiner Mehler in die Badstraße, in Frankfurt am Main und Amsterdam. Wie konnte ein jüdischer Junge aus dem Wedding für kurze Zeit zum gefürchtetsten Reform-Rabbiner von Amsterdam werden?

Blick aus der Exerzierstraße auf das Haus Badstraße 40, Aufnahme um 1900, Quelle: Sammlung Ralf Schmiedecke.
Blick aus der Exerzierstraße auf das Haus Badstraße 40, Aufnahme um 1900. Foto: Sammlung Ralf Schmiedecke.

Eine Kindheit im roten Backsteinhaus Badstraße 40

Julius und Frieda Mehler, geborene Sachs, die Eltern von Rabbiner Mehler, wohnten in der Demminer Straße (Berliner Adressbuch 1899). Er war zwölf Jahre älter, es war eine arrangierte Ehe, zunächst erblickte am 10. Dezember 1903 die Tochter Helene, genannt nach der Mutter von Frieda, das Licht der Welt. Dann zog die kleine Familie 1905 in das rote Backsteinhaus Badstraße 40. Dort kam am  4. Mai 1907 der spätere Rabbiner, Ludwig Jakob Mehler, zur Welt - benannt nach den Vätern der Eltern. 

Ludwig wurde in einen jüdischen Haushalt im Badstraßen-Kiez des Arbeiterbezirks Wedding hineingeboren. Sein Vater und seine Mutter - er war Kaufmann und sie begann Gedichte und kurze Texte zu verfassen - lebten in einfachen Verhältnissen. Die Wohnung in der Badstraße war klein, die Einrichtung bescheiden. Im Haus gab es weitere jüdische Mieter, die im Verein Ahawas Achim eine religiöse Heimat gefunden hatten. Während die Geschwister Helene und Ludwig aufwuchsen, verfasste ihre Mutter Heftchen für Kinder zu den jüdischen Feiertagen. Der kleine Ludwig erlebte eine Kindheit und Jugend der Gegensätze: die sorgende Mutter, ein jüdisch geprägtes Umfeld und dazu der raue Wedding mit Armut und Gewalt. Unmittelbar neben dem Wohnhaus floss die dreckige Panke, vor dem Haus ratterten die Straßenbahnen und Pferdekarren über das Kopfsteinpflaster in Richtung Jüdisches Krankenhaus oder zum Bahnhof Gesundbrunnen. Es gab kaum Orte zum Spielen und Toben. 

Die Weddinger Badstraße um 1903. Foto: Sammlung Ralf Schmiedecke
Die Weddinger Badstraße um 1903. Foto: Sammlung Ralf Schmiedecke.

Auf den Ersten Weltkrieg folgten Revolution und schwindelerregende Inflation. Vor allem die Menschen im Arbeiterbezirk bekamen die wirtschaftliche Katastrophe zu spüren. Ludwigs Vater war da schon über 60 Jahre alt; seine Mutter besserte mit ihren Dichtungen für Familienfeste, Frauenvereine und andere Gelegenheiten die Haushaltskasse auf. In der Wohnung der Mehlers war immer viel los, denn es gab eine Kleiderkammer vom Jüdischen Frauenverein Wedding-Gesundbrunnen. Vor allem Frauen und Kinder bekamen hier warme und ordentliche Kleidung. Frieda Mehler kümmerte sich um die Ärmsten des Viertels. Besser waren die Lebensbedingungen in den USA, wo eine Schwester von Frieda lebte und sie ihren Sohn hin schickte. Dort begann Ludwig im Alter von 19 Jahren ein Studium am Hebrew Union College in Cincinnati, das er nach 9 Monaten im Jahr 1927 beendete und zurück nach Berlin, in die Badstraße 40, kehrte. Seine Schwester Helene machte in Berlin eine Ausbildung zur Apothekerin. Ihre Mutter vermittelte ihr das Interesse an Dichtung und Literatur (1).

Auszug aus der Akte von Ludwig Mehler vom Hebrew Union College (USA), 1927.
Auszug aus der Akte von Ludwig Mehler vom Hebrew Union College (USA), 1927. Foto: AJA.

Auf dem Weg zum Jung-Rabbiner

Wer den jungen Ludwig Mehler davon überzeugte, Rabbiner zu werden, ist unbekannt. Seine Mutter gab ihm die Liebe zum Judentum und zur Nächstenliebe mit auf den Weg. Auch die jüdisch geprägte Badstraße und die kleine Gemeinde Ahawas Achim dürften sein Weltbild mitgeformt haben. Zurück aus den USA, setzte er 1928/1929 das Studium an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin fort. Er war Zionist, interessierte sich sehr für Geschichte und liebte das Spiel der Gedanken im gemeinsamen Austausch. 

In den Jahren 1930 bis 1933 hielt er als Rabbiner-Kandidat Gottesdienste und Jugendgottesdienste bei liberalen Gemeinden wie beispielsweise in der Liberalen Synagoge Norden (Schönhauser Allee 162) und Liberalen Synagoge Westend (Leistikowstraße 7-8). Ebenfalls predigte er in der Liberalen Synagoge Osten (Kaiserstraße 30) beim Freitagsgottesdienst und am 10. März 1933 in der Aula Ofener Straße 6 im Wedding. Vermutlich bestand er im Frühjahr 1933 seine Rabbiner-Prüfung. Anschließend wirkte er weiterhin in den Synagogen Schönhauser Allee und Kaiserstraße. Daneben engagierte er sich innerhalb der jüdischen Jugendbewegung im „Verband der jüdischen Jugendvereine“ und leitete die Gruppe Berlin-Ost. Der Verband beschäftigte sich unter anderem 1930 mit den Themen: „Kampf gegen den Nationalsozialismus“ und „Überparteilicher Palästina-Aufbau“. 

Nach wie vor wohnte Ludwig in der elterlichen Wohnung: Badstraße 40. Sein Vater starb am 10. Mai 1931. Man beerdigte ihn auf dem jüdischen Friedhof Weißensee. Ein sehr einfach gehaltener Grabstein spiegelt womöglich die finanzielle Situation der Familie wider. Die Mehlers hatten engen Kontakt zur Gemeinde Ahawas Achim im Gesundbrunnen, wo seit 1924 Rabbiner Siegfried Alexander wirkte. Hier war man jedoch gegenüber der liberalen Strömung nicht sonderlich aufgeschlossen. Ludwigs Mutter hingegen gründete die erste liberale Frauengruppe Wedding-Gesundbrunnen, war Mitglied im Jüdischen Frauenbund, interessierte sich für die jüdische Friedensbewegung und entwickelte in den 1930er Jahren eine noch intensivere schriftstellerische Tätigkeit mit zahlreichen Anzeigen und Buchvorstellungen in sämtlichen jüdischen Tageszeitungen.

Grabstein Julius Mehler, Jüdischer Friedhof Berlin-Weißensee, Aufnahme Carsten Schmidt, Dezember 2023.
Grabstein Julius Mehler, Jüdischer Friedhof Berlin-Weißensee im Dezember 2023. Foto: Carsten Schmidt.

Zwischen Berlin und Amsterdam

Ende 1933 / Anfang 1934 folgte Ludwig Mehler, nun als Jung-Rabbiner, dem Ruf nach Frankfurt am Main an die Westendsynagoge und die Hauptsynagoge mit liberalem Ritus. Nach Berlin sollte es seine zweite Wirkstätte in einer nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten für die Gemeinde immer schwieriger werdenden Zeit sein. Auch hier war er für verschiedene Jugend- und Erwachsenenvereine tätig. Unter anderem hielt er im März 1934 zwei Vorträge in der Westendsynagoge für die Jugendorganisation „Freie Arbeitsgemeinschaft“: „Moses Mendelssohn und die Emanzipation der Juden“ (6.3.1934) und „Deutsches Judentum und jüdischer Nationalismus“ (20.3.1934).

Zur Pessachfeier 1934 hatte Rabbiner Mehler gleich mehrere Verpflichtungen. Bereits vor dem Fest hielt er am 26. März für die "Gesellschaft für jüdische Volksbildung” einen Vortrag über das Pessachfest. Für den “Verein Westendsynagoge” hielt er am Sederabend (2) einen Vortrag vor 80 Teilnehmern. Dabei ging es in erster Linie um Wissensvermittlung mit Wiedergabe der Sedergebete, Auslegung und Bedeutung der Haggada sowie Fragen an die Kinder. Das gemeinsame Sedermahl und der gemütliche Ausklang des Abends bildeten den gelungenen Abschluss. Am 30. März leitete er einen Sederabend für die “Freie Arbeitsgemeinschaft” im Restaurant Rosiner, Zeil 44. Die Ansprechpartnerin für diesen Abend war Margarete Glaserfeld - seine zukünftige Ehefrau. Am 3. April sprach Rabbiner Mehler erneut vor den Mitgliedern der “Freien Arbeitsgemeinschaft” im Sitzungszimmer der Westendsynagoge. Thema an diesem Abend: “Die Geschichte der deutschen Juden im 19. Jahrhundert”.

Ein besonderer Abend dürfte für Rabbiner Mehler die für ihn organisierte Abschiedsveranstaltung im Juni 1934 gewesen sein - organisiert von den drei Jugendorganisationen: „Freie Arbeitsgemeinschaft“, „Jüdischer Jugendbund“, „Verein Montefiore“. An diesem Abend sprach er vor der jüdischen Frankfurter Jugend „in wohl abgewogenen und ergreifenden Worten über die religiösen Aufgaben der Juden auf Grund ihrer Geschichte und Tradition“, was mit spontanem Beifall gewürdigt wurde (Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, 6.1934). Zum Abschied und als Anerkennung für sein Wirken erhielt er ein Geschenk und im Namen des Vereins der Hauptsynagoge ein Buch. Als Unterhaltungsprogramm gab es hebräische und allgemeine Musikstücke mit Gesang, Violine und Klavier.

Neben seiner beruflichen Entwicklung veränderte sich sein Privatleben: Er heiratete am 26. August 1934 in der Frankfurter Westendsynagoge Margarete Emma (Gretel) Glaserfeld. Sie ist fünf Jahre jünger und die Tochter von Joseph Ernst und Else Maria Glaserfeld, geborene Guckenheimer. Während Ludwig aus einer eher armen, gläubigen Familie im Wedding stammte, kam Margarete aus einer gut situierten Familie mit sowohl praktizierenden Juden als auch weltlichen Lebensstil. Beim Thema Zionismus gingen die Ansichten der beiden Familien auseinander. Trotz der Gegensätze beginnt für sie ein komplett neues Leben: nach der Heirat folgt sie ihm nach Amsterdam. Das junge Glück wird schnell mit dem ersten Nachwuchs komplett: am 26. September 1935 kam das Töchterchen Mirjam Susanne zur Welt, später Suzanne oder Sanne genannt, die ihren Vater, den Rabbiner, sehr bewunderte. Und fast auf den Tag genau drei Jahre später erblickte das Brüderchen Ernst am 25. September 1938 das Licht der Welt - seine Schwester nennt ihn (abweichend von den überlieferten Dokumenten) in ihren Erinnerungen Daniel bzw. Daantje.

Westend-Synagoge Frankfurt am Main, erbaut 1910 nach den Plänen von F. Roeckle, Quelle: Leo Baeck Institute F 1555
Westend-Synagoge Frankfurt am Main, erbaut 1910 nach den Plänen von F. Roeckle, Foto: Leo Baeck Institute F 1555.

Abschiede und Neuanfänge: Amsterdam 1934-1940

Der größte berufliche Schritt dürfte für Rabbiner Mehler der Wechsel von Frankfurt am Main nach Amsterdam gewesen sein - eine erst im Entstehen begriffene liberale Gemeinde, für die ihn der renommierte Leo Baeck, bei dem er in Berlin studiert hatte, ausgewählt hatte - eine Sprache, die er noch nicht verstand und eine Stadt, die er nicht kannte. Amsterdam war ein wichtiger Zufluchtsort für Juden aus Deutschland. Generell gehörten die Niederlande neben Frankreich und England zu den Ländern mit den meisten jüdischen Flüchtlingen. Gleichzeitig gab es in Amsterdam eine große jüdische Gemeinde. 

Am 30. Mai 1934 meldete sich Rabbiner Mehler offiziell in Amsterdam an; am 23.2.1938 gibt es eine konkrete Adressangabe: Watteaustraat 5-III. Auch seine Schwiegermutter ist ab diesem Datum unter dieser Adresse angemeldet, während sich seine Mutter - die Kinderbuchautorin aus der Badstraße - erst ein Jahr später, am 28.2.1939, unter dieser Adresse anmeldete. Beide Großmütter kamen fast ohne Hab und Gut, aber mit der Hoffnung auf ein Familienleben und bessere Lebensbedingungen als in Deutschland nach Amsterdam. Zeitgleich mit der Anmeldung von Frieda Mehler in Amsterdam verließ ihre Tochter Helene Europa und emigrierte im Februar/März 1939 alleine in die USA. Mutter und Tochter trennten sich. Wahrscheinlich hatte Helene ihren Bruder zuletzt bei seiner Hochzeit in Frankfurt am Main gesehen. Nach 34 Jahren gab es die jüdische Familie Mehler in der Badstraße 40 nicht mehr.

Nun wohnten in Amsterdam erstmals drei Generationen unter einem Dach zusammen: beide Großmütter, das junge Ehepaar und die beiden kleinen Kinder. Rabbiner Mehler kümmerte sich um die noch junge liberale Gemeinde. Aus Deutschland geflüchtete Juden kamen oftmals zu den Mehlers, um mit dem Rabbiner über ihre Situation zu sprechen. Seine Tochter Suzanne erinnert sich an glückliche fünf Jahre mit Eltern, die ihr Freude am Lernen und die Schönheit der Musik, der Natur und Worte vermittelten. Die Familie saß zu Schabbat um einen großen Esstisch (3), zu Pessach gab es Matze mit Honig (4), zu Seder erleuchten nur die Kerzen den Raum und zu Rosch ha-Schana bläst Rabbiner Mehler das Schofar (5). Noch viele Jahrzehnte später spürte Suzanne den vollen und tiefen Klang.

Rabbiner Mehler mit seiner Tochter und dem Sohn, Amsterdam 1939. Quelle: Suzanne Mehler Whitney, Appel is Forever, 1999.
Rabbiner Ludwig Mehler mit seiner Tochter Suzanne und dem Sohn, Amsterdam 1939. Quelle: Suzanne Mehler Whitney, Appel is Forever, 1999.

Liberal und neu: Rabbiner Mehler geht seinen Weg

Die „Liberaal Joodse Gemeente, Amsterdam“ (6), für die Leo Baeck Rabbiner Mehler ausgewählt hatte, wurde 1931 gegründet. Für sie ging Rabbiner Mehler im Mai 1934 nach Amsterdam. Bereits wenige Monate nachdem er in Amsterdam angekommen war, berichtete das Gemeindeblatt für die Jüdischen Gemeinden Preussens am 1.12.1934 vom Baubeginn eines Gemeindehauses, das auch als Synagoge dienen soll. Es wurde 1937 in der Amsterdamer Tolstraat eingeweiht - in den Räumen der Theosophischen Gesellschaft. Otto Frank, der Vater von Anne Frank, gehörte mit zu den Gründungsmitgliedern. Nun fanden regelmäßige Gottesdienste zu Schabbat und den Feiertagen statt. Darüber hinaus gab Rabbiner Mehler Religionsunterricht.

Synagoge Tolstraat, Rabbiner Mehler, Einweihung 1937.
Einweihung der Synagoge in der Tolstraat, 1937, Quelle: Fotosammlung: United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C, zur Verfügung gestellt von Hilde Jacobsthal-Goldberg.

Am 21. Oktober 1937 feierte die junge Gemeinde ihr sechsjähriges Bestehen. Bei dieser Veranstaltung wies Rabbiner Mehler auf die großen Hürden der ersten Jahre hin. Er forderte die Anwesenden zum weiteren gemeinsamen Aufbau der Gemeinde auf. Am 5. September 1938 wurde anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Thronbesteigung der Königin Wilhelmina die Synagoge mit Blumen und Bändern in den Farben des Hauses Oranien geschmückt und es fand ein Gedenkgottesdienst statt. In der bis auf den letzten Platz gefüllten Synagoge sprach Rabbiner Mehler über die Segnungen, die das Land und die Juden dem Haus Oranien zu verdanken haben. Mit einem Gebet für Land und Königshaus in hebräisch und niederländisch schloss der offizielle Teil (Jüdische Rundschau, 9.9.1938).

1971 blickte die jüdisch-liberale Bewegung in Holland auf ihr 40-jähriges Bestehen zurück und betonte den Einfluss durch Leo Baeck und Rabbiner Mehler: „Die ersten Rabbiner der Amsterdamer liberalen Gemeinde waren deutsche Juden. Ludwig Jakob Mehler…verhalf der jungen Gemeinde zu beträchtlichem Wachstum“ (MB, 3.12.1971).

Rabbiner Ludwig Mehler 1934. Quelle: Fotoalbum "den Unvergessenen", Leo Baeck Institute, F 9835.

Vereint und doch getrennt: Widerstände gegen Rabbiner Mehler

In den 1930er Jahren stieß die liberale Bewegung bei der altehrwürdigen Amsterdamer Gemeinde auf erheblichen Widerstand: „Das holländische Judentum muss orthodox sein oder nicht existieren“, so die propagierte Auffassung (Israelitisches Familienblatt, 14.1.1937). Die Kritik lautete, dass vor allem die aus Deutschland seit 1933 eingewanderten Juden sich nicht als Mitglieder der Gemeinde anschließen, nur zu den Feiertagen in die Synagoge gehen und ihre Pflichten in der Gemeinde nicht erfüllen. Schuld an dieser Entwicklung sei die liberale Bewegung unter Leitung von Rabbiner Mehler. Daher wurde Ende 1936 von der „Nederlandsch Israelitische Hoofdsynagoge“ (NIHS) ein „Contact“-Komitee ins Leben gerufen, um die Eingewanderten zur Mitgliedschaft aufzufordern (Der Israelit, 17.12.1936). Die liberale Gemeinde wurde als die größte Störung der jüdischen Einheit der Niederlande angesehen und für die Spaltung der Gemeinde in anderen Ländern verantwortlich gemacht.

Synagoge Tolstraat, Amsterdam 1937
Synagoge Tolstraat, Amsterdam 1937, Fotosammlung: United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C, zur Verfügung gestellt von Hilde Jacobsthal-Goldberg.

Dem setzte Rabbiner Mehler bei einer Versammlung der liberalen Gemeinde im Januar 1937 entgegen, dass seit jeher die Einheit des Judentums durch sein demokratisches Wesen gekennzeichnet sei. Das wahre Judentum hätte niemand in sich, „wir sind alle Juden und wenn man uns nicht will, dann gehen wir unseren eigenen Weg, aber niemals kann man uns als Juden zweiter Klasse bezeichnen“, so Mehler (Israelitisches Familienblatt, 14.1.1937). Von den Schwierigkeiten seiner kleinen Gemeinde berichtete er auch bei der 4. Konferenz der Weltvereinigung für religiös-liberales Judentum mit 120 Teilnehmern in Amsterdam (vom 2. bis 6. Juli 1937). In Amsterdam habe die liberale Bewegung gegenüber der herrschenden Orthodoxie einen schweren Stand. Nicht weil die niederländischen Juden so gesetzestreu seien, sondern die Rabbiner wehren sich gegen eine Aufspaltung der Gemeinde durch eine Gruppe, die vor allem aus Zugezogenen bestehe. Wohingegen es unter den Amsterdamer Juden eine große Offenheit gebe, denn es fehle an einem ihnen zusagenden Gottesdienst und dem Elternhaus zusagenden Religionsunterricht, so Rabbiner Mehler (Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main, 8.1937).

Neben dem Widerstand aus den höchsten Reihen der alten Gemeinde gab es auch innerhalb der liberalen Bewegung eine Abspaltung: Im April 1938 gründete sich aus Mitgliedern der bisherigen liberalen Gemeinde eine neue religiös-liberale Gruppe (Jüdische Rundschau, 3.5.1938). Zugehörigkeit, Hierarchien, Abgaben, Gemeindeleben: Dies waren die Probleme noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Hinzu kamen immer schärfere Gesetze für Ausländer, wie das Niederlassungsverbot für Juden vom 1. März 1938, die Genehmigungspflicht für Ausländer zum Betreiben eines Konfektionsbetriebs (Mai 1938), eine schärfere Kontrolle bei Besuchsreisen (Juli 1938) und ein zunehmender Antisemitismus. Auch in Amsterdam hatte sich die Situation nicht nur für geflüchtete Juden zum Schlechten verändert.

Ausschnitt aus der Punktkarte von Amsterdam, erstellt Mai 1941, ein Punkt steht für zehn jüdische Einwohner. Foto: Carsten Schmidt.
Ausschnitt aus der Punktkarte von Amsterdam, erstellt Mai 1941, ein Punkt steht für zehn jüdische Einwohner. Foto: Carsten Schmidt.

Ende der Freiheit: Deportiert und ermordet

Am 10. Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht die Niederlande und besetzte innerhalb weniger Tage das Land. Jetzt wurde das Leben für alle Juden unsicherer, leiser und einsamer. Im Mai 1941 erstellt die Stadtverwaltung die sogenannte "Punktkarte" von Amsterdam: ein Punkt = zehn Juden. Ab 3. Mai 1942 müssen Juden den gelben „Jood“-Stern tragen. Die Tochter von Rabbiner Mehler erinnert sich, dass sie die große Synagoge nicht mehr besuchen durfte. Von nun an trafen sich die Gemeindemitglieder in kleinen Privatzimmern zum Gottesdienst. Rabbi Mehler machte Hausbesuche, um die Kinder weiter zu unterrichten. Und versuchte überall dort zu helfen, wo es ihm möglich war. Die Lebensbedingungen wurden immer schwieriger. Juden wurden von der Polizei von zu Hause abgeholt, was zu jeder Tages- und Nachtzeit passieren konnte. 

Im Juni 1943 wurden beide Großmütter aus der Wohnung Watteaustraat abgeholt und ins Durchgangslager Westerbork gebracht. Anschließend mussten die Mehlers in eine kleine, dunkle Wohnung in einen anderen Stadtteil umziehen. Eines Nachts holen zwei Polizisten die Familie ab. Mit ein paar Sachen im Gepäck wurden sie zusammen mit anderen die Straße hinunter getrieben. „Bye Sanne, bye Sanne!“ hörte die damals siebenjährige Suzanne ihre Freunde rufen, während die Polizisten sie zum sofortigen Schließen der Fenster aufforderten; man brachte sie nach Westerbork. Suzanne ist sieben und ihr Bruder vier Jahre alt. Im Einwohnerverzeichnis von Amsterdam ist für Rabbiner Mehler mit dem Datum 1.11.1943 Westerbork (Lager) als Adresse verzeichnet. Nach mehreren Monaten mit Krankheiten, Hunger und Kälte wurden alle vier weiter deportiert. In einem hermetisch abgeriegelten Zug brachte man sie nach Deutschland. Am 11. Januar 1944 kamen sie in Bergen-Belsen an. Suzanne erinnerte sich, dass bei ihrer Ankunft die von ihr wahrgenommenen Baracken noch leer waren. Sukzessive kamen immer mehr Kinder, Frauen und Männer; aus Griechenland, Afrika und Frankreich. Mehrmals mussten sie die Baracke wechseln. Die Kinder blieben bei den Müttern, während die Männer separat untergebracht wurden. Laut Akten befanden sich die Mehlers im sogenannten „Sternlager“, einem überwiegend von Niederländern bewohnten Lagerteils. 

Nach über einem Jahr Überleben gehörten die Mehlers mit zu den letzten Häftlingen von Bergen-Belsen, die am 10. April 1945 von Bergen-Belsen nach Theresienstadt deportiert werden sollten. Die Tochter von Rabbiner Mehler erinnerte sich, wie sie am Abend vor das Tor des Lagers getrieben wurden, um auf einen Lkw-Transport zum Zug zu warten. Hier starb ihr Vater in der Aprilnacht vollkommen kraftlos auf dem Boden liegend. Seine Leiche vergrub man in einem der Massengräber des Lagers. Am 15. April 1945 befreiten britische Truppen das Lager. Ein Ort des Grauens und der unfassbaren Unmenschlichkeit offenbarte sich den Befreiern von Bergen-Belsen.

Frieda Mehler, die Mutter von Rabbiner Mehler und Kinderbuchautorin, wurde vom Lager Westerbork nach Sobibor deportiert, wo sie am 2. Juli 1943 ermordet wurde. Seine Schwiegermutter wurde ebenfalls von Westerbork nach Sobibor deportiert und am 23. Juli 1943 ermordet. Ungefähr 105.000 von den in Holland vor dem Zweiten Weltkrieg lebenden 140.000 Juden wurden in der Shoah ermordet. Nur fünf Prozent der deportierten Juden überlebten die Lager. Zu den wenigen Überlebenden gehörten die Frau und die beiden Kinder von Rabbiner Mehler. Sie begannen nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Leben in den USA.

Gedenkstein in Vijhuizen, oben links L. Mehler genannt, Quelle: Jewish Cultural Quarter.
Gedenkstein in Vijhuizen, oben links L. Mehler genannt. Quelle: Jewish Cultural Quarter.

Kein Gedenkort: Badstraße und Wedding

Im niederländischen Vijfhuizen steht seit 1951 ein Gedenkstein, auf dem oben links Ludwig Mehler als Rabbiner von Amsterdam genannt wird. Rabbiner Mehler wuchs im Wedding auf: Badstraße 40. Der jüdische Badstraßen-Kiez mit der Synagoge in der Prinzenallee und seine engagierte, religiöse Mutter prägten sein Leben fast ein Vierteljahrhundert. Nach Berlin waren seine weiteren Wirkstätten Frankfurt am Main (1933/34) und Amsterdam (1934-1943). In Amsterdam begann er mit dem Aufbau der liberalen Gemeinde.

Im Wedding gibt es keine Erinnerung an die Familie Mehler - weder an die Autorin Frieda Mehler, noch an ihren Sohn, den mutigen Rabbiner von Amsterdam, der gegen Widerstände aus der Jüdischen Gemeinde antrat und gleichzeitig engagierter Seelsorger für die aus Deutschland Geflüchteten in ihrer schwierigsten Lebenssituation war.

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  1. Vermutlich veröffentlichte Helene Mehler folgendes Heftchen: Moaus zur Jeschuosi, Gesammelte Chanukka-Aufführungen, erschienen 1932
  2. Seder (heb. Ordnung), oder Sederabend ist der Beginn des Pessach-Festes mit festgelegten Speisen, die an den Auszug aus Ägypten erinnern 
  3. Schabbat (heb. Ruhetag), ist der siebente Tag und der Ruhetag, welcher am Freitagabend beginnt und am Samstagabend endet
  4. Pessach (heb. Vorüberschreiten, Überschreitung), oder Pessachfest man feiert die Befreiung der Juden aus der Sklaverei in Ägypten, es beginnt mit dem Sederabend und dauert bis zum folgenden Schabbat
  5. Rosch ha-Schana (heb. für Kopf des Jahres), ist das Neujahrsfest mit dem Blasen des Schofars
  6. Liberaal Joodse Gemeente Amsterdam (LJG), ist heute mit 2.000 Mitgliedern die größte liberale Gemeinde in den Niederlanden und eine der Größten in ganz Europa

Biographische Recherchen zur Familie von Rabbiner Mehler gemeinsam mit Miklas Weber (Kiezforscher zur NS-Verfolgung in Berlin Tempelhof und Mariendorf). Weitere Quelle: Korrespondenz mit der Gedenkstätte Bergen-Belsen, mit Hebrew Union College Cincinnati, dem Leo Baeck Institute, Widerstandsmuseum Amsterdam, dem American Jewish Archives, dem Jüdischen Friedhof Weißensee, dem Jewish Cultural Quarter Amsterdam.

Walter Tetzlaff (1982): 2000 Kurzbiographien bedeutender deutscher Juden des 20. Jahrhunderts. 

Joseph Walk (1988): Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918–1945.

Suzanne Mehler Whiteley (1999): Appel is Forever, A Child’s Memoir.

Einen Überblick über die Entstehung jüdischen Lebens im Arbeiterbezirk Wedding gibt das Buch des Autors: "Bittersweet: Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871-1933", erschienen 2023 bei Hentrich & Hentrich.

Carsten Schmidt

Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern. Im Juni 2023 erschien sein neues Buch Bittersweet - Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871–1933 Zu finden ist er auch auf Twitter.

2 Comments

  1. Toll und vielen Dank für das Geschriebene zum Rebbe Mehler.Wir haben leider extrem viel verloren durch unsere gemeinsame Katastrophe.Das Schreiben und erhalten dieser Lebensgeschichte ist ein wahrer Dienst am Menschen und der Humanität.
    Wunderbar!

  2. Vielen Dank für diese interessante Geschichte! Es hat große Freude gemacht, diese sehr gut geschriebenen und erarbeiteten Informationen zu lesen.

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