Nach knapp fünf Wochen kam ich Anfang April wieder in Berlin an. Zurück, über die Berge Tschechiens, bei Nebel und Kälte, noch vor dem erneuten Schnee. Die folgenden Tage saß ich dann statt auf dem Zweirad an der frischen Luft häufiger in einem warmen U‑Bahnwagen. Ich schaute dort in die Gesichter der Leute. Alltag hier. Ich fühlte mich fehl am Platz.
Inzwischen sind zwei Monate vergangen und auch mich hat der Alltag längst wieder eingeholt. Der Winter ist vorbei, der Frühling auch, der Krieg nicht. Die Nachrichten darüber sind Teil des täglichen Nachrichtenflusses geworden. Ich will mit euch noch einmal zurück in den März reisen.
Freitag, 11. März. Ich befinde mich im Karpatenvorland in der südöstlichsten Ecke unseres Nachbarlandes. Vom Grenzübergang Krościenko beschließe ich weiterzufahren. Die Straßen sind weitestgehend trocken, ringsherum ist vom Schneegestöber der letzten Tage allerdings noch viel übrig. Als ich an diesem Morgen aufwache, sind es draußen 13 Grad unter Null. Ich packe meine Sachen, rolle im Schritttempo über die verschneite Wiese vom Grundstück, um den komplett vereisten Feldweg zu vermeiden. Geschafft, Gepäck aufladen und los. Im nächsten Dorf sehe ich am Hang eine Skipiste. Mich irritiert dieser Anblick aus einer anderen Welt, einer Welt der Normalität, ja gar des Spaßes.
Verschneite Landschaft in den polnischen Karpaten.
Krościenko wird mein vorerst letzter Stopp in Polen gewesen sein. Die Slowakei liegt vor mir. Trotz des Wetters will ich es über eine kürzere Route quer durch die Karpaten versuchen. Es geht auf und ab und dann vor allem hoch. Die Luft wird kälter. Solange ich auf Landstraßen zwischen Feldern fahre – kein Problem. Sobald ich aber durch Waldstücke komme, muss ich ziemlich aufpassen und die Geschwindigkeit reduzieren. Hier kommt die Sonne um diese Jahreszeit noch kaum durch und immer wieder sind Straßenabschnitte vereist.
Mitten im Nirgendwo in einem magisch-schönen Tannenwald stehe ich auf einmal vor einer Eisfläche. Ich steige ab, taste mich zu Fuß einige Meter vor: keine Chance. Gelegentlich brausen Autos an mir vorbei, aber auf zwei Rädern wäre das verrückt. Ich drehe um und fahre einen gut halbstündigen Umweg bis in die Slowakei.
Die nächsten Tage lassen sich kurz zusammenfassen: Halsschmerzen, Schnupfen und ein positiver Schnelltest. Quarantäne in der kleinen Stadt Svidník. Zunächst verbringe ich einen Abend mit Momenten des Unbehagens. Was, wenn es trotz Booster doch nicht so mild verläuft? Und müssen es tatsächlich zehn Tage Isolation sein, wie ich auf der Webseite des slowakischen Gesundheitsamts nachlese?
Links: Hotelcharme (Foto vom 07.03.2022).
Oben rechts: Grüße von der Hotelmitarbeiterin Maria am zweiten Tag nach dem positiven Test.
Unten rechts: Maria, die Englisch spricht und mich mit ihrem Team während meiner Quarantäne versorgt.
Am Morgen dann schon bessere Nachrichten bei einem Telefonat mit dem Gesundheitsamt: die Webseite ist noch nicht aktualisiert und fünf Tage Isolation reichen – vorausgesetzt die Symptome sind weg. Ich bin beruhigt. Das halte ich durch, auch wenn es wahrlich Schöneres gibt als in einem fremden Land alleine in einem Hotelzimmer festzustecken. Die kommenden Tage verbringe ich mit Lesen, Schreiben, Schauen. Das Team des Hotels umsorgt mich mit Essen und Getränken. Daneben halten mich viele Gespräche mit Familie und Freunden bei Laune und die Zeit geht tatsächlich halbwegs zügig rum.
Als mein Test knapp eine Woche später negativ ausfällt, schwinge ich mich wieder auf mein Motorrad und fahre weiter in Richtung ukrainische Grenze. Ich bin verabredet mit einer Bekannten. Daria kommt ursprünglich aus der Ukraine, lebt seit vielen Jahren in Israel und ist vor über einer Woche mit zwei Freunden gekommen, um zu helfen. Ihre Eltern haben es bereits außer Landes geschafft, einige Freund*innen auch, andere sind noch in der Ukraine. Wir sitzen am späten Nachmittag zusammen bei einer Tasse Tee und ich merke, wie gut es tut mich mit jemandem zu unterhalten, die ich kenne und mit der ich gemeinsam über diese Situation und die Wahrnehmung als „von außen Kommender“ reden kann. Sie hilft jeden Tag an der Grenze aus. Da momentan so viele Freiwillige tagsüber vor Ort sind, haben sie und ihre Freunde sich bereit erklärt Nachtschichten zu übernehmen. Ich begleite sie an diesem Abend.
Links: Daria steht im Eingang des Zelt der Pfadfinder*innen. Rechts: Dutzende wartende Lkw, die in Kürze in die Ukraine fahren.
Es ist Donnerstag, 17. März, kurz vor 21 Uhr. Am Übergang angekommen folge ich den Dreien zunächst in ein großes Zelt. Neben Polizei, Feuerwehr und Grenzschutz sind es hier am größten slowakisch-ukrainischen Übergang in Vyšné Nemecké Pfadfinder*innen, die einen erheblichen Teil der Verantwortung übernommen haben und die Schichten und Abläufe der Helfer*innen organisieren. Zunächst werden alle Freiwilligen bei ihrer Ankunft registriert und es wird erklärt, wie man sich im Falle des Falles zu verhalten hat. Ich erfahre, dass es in der Nähe einen Flugplatz gibt, der ein potenzielles Angriffsziel der russischen Armee darstellen könnte. Also müssen alle Fahrzeuge an bestimmten Stellen und in eine Richtung geparkt werden. Bei Alarm darf man nicht intuitiv ins Landesinnere fahren, sondern an der Grenze entlang – weg vom Flugplatz. Der Krieg fühlt sich mal wieder ganz nah an.
Oben links: Ein Beamter regelt den Verkehr.
Oben rechts: Freiwillige empfangen eine Mutter mit fünf Kindern.
Unten links: Kate, 22, koordiniert die Arbeit der Freiwilligen.
Unten rechts: Ein Feuerwehrmann dreht in der Kapelle den Heizstrahler auf.
Ich verfolge das Geschehen vor Ort. Es herrscht nicht viel Betrieb, aber immer wieder kommen kleinere Gruppen von Menschen über die Grenze, einige im Auto, die meisten zu Fuß. Sie werden von Helfer*innen empfangen, die ihnen die verschiedenen Optionen erklären. Es gibt Armbändchen in zwei Farben: grün für diejenigen, die direkt weiterreisen und zum Bahnhof möchten. Blau für die, die erst einmal eine Pause brauchen und eine oder mehrere Nächte in der Erstaufnahmestelle verbringen möchte. Die Flüchtlinge können sich anschließend aufwärmen, etwas trinken und essen. Auch ein Zelt mit gebrauchter Kleidung gibt es, sowie eine kleine Kapelle. Daraufhin werden die meisten Ankommenden mit den bereitstehenden Bussen in die nächstgrößere Stadt Michalovce gebracht.
Oben: Ein Kind sucht sich einen Schal aus.
Mitte links: Ein Feuerwehrmann raucht nach dem Essen eine Zigarette.
Mitte rechts: Ein Bus mit offenen Gepäckklappen steht bereit.
Unten: Willkommen.
Ich schlendere umher und beobachte. Eine Mutter mit fünf Kindern wird schnell nach ihrer Ankunft in das Zelt mit Kleidung geführt. Sie sind alle viel zu dünn angezogen und sind froh, als sie mit dicken Jacken, Mützen und Schals versorgt werden. Ein Feuerwehrmann dreht in der Kapelle den Heizstrahler auf, bevor eine kleine Gruppe hineingeht. Ich sehe Lkw- und Transporter-Fahrer*innen, die auf die Überquerung warten oder gerade ankommen. Immer wieder dröhnender Motorenlärm und Staubwolken. Dazwischen Ankunftsszenen. Menschen ohne Orientierung, Menschen mit einem scheinbaren Ziel, Szenen des Wiedersehens.
Ich werde immer müder und die Kälte lässt sich auch mit Bewegung und heißem Tee kaum noch ignorieren. Gegen Mitternacht packe ich meine Sachen und fahre bei Tempo 30 zurück zu meinem Hotel. Zunächst vorbei an einer langen Schlange wartender Lastwagen. Dann einsam über Straßen, durch Wälder, in einer mir fremden Umgebung.
Kurz nach diesem Erlebnis rief mich Berlin und ich machte mich auf den Rückweg knappe 1000km nach Hause.
Textredaktion & Bildredaktion: Liane Geßner
Auf dieser Seite haben wir ein paar Informationen zusammengestellt, wie man von Berlin und Wedding aus helfen kann. Die Seite wird nach und nach befüllt.
Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7, Teil 8 und Teil 9 der Serie nachlesen.