84 Jahre liegt die Schreckensnacht vom 9. auf 10. November 1938 zurück. Zum Jahrestag dieses Datums steht die Frage im Raum: Wie an etwas erinnern, bei dem nur sehr wenige der heute lebenden Menschen dabei waren? Das jüngst erschienene Buch “Am Wedding haben sie gelebt” hat eine Antwort auf diese Frage. Es erinnert, es hält Erinnerungen fest und in einem gewissen Sinne ist es selbst eine Erinnerung. In Summe ist das Buch eine Zeitmaschine, mit der der Leser in den jüdischen Alltag der 1930er Jahre (und teilweise der Nachkriegsjahre) reist.
Die Erinnerungen der Zeitzeugen
Autor – präziser der Herausgeber – der Sammlung jüdischen Alltagsleben ist der Berliner Geschichtswerkstatt e.V. Im ersten Teil veröffentlichen die sechs Autorinnen der Geschichtswerkstatt Erinnerungen jüdischer Bürgerinnen (und eines Bürgers). Sechs Menschen kommen zu Wort und erzählen von Eltern, Schulzeit, Gebäude, Geschäfte im Wedding. Aber eben auch vom Schulrauswurf, der Auswanderung, den mitleidigen Blicken und der “ausweglosen Angst, die sich nicht beschreiben lässt”. Die Erinnerungen der Zeitzeugen holen den Blick von Kindern auf die Zeit der Unterdrückung ins Heute. Ihre Erinnerungen “verlaufen sehr genau an den Daten der offiziellen Politik, an den Daten der Geschichte entlang”, fassen die Herausgeber zusammen. Unter normalen Umständen nutzen persönliche Erinnerungen meist Großereignisse wie Heirat, Geburt der Kinder, Krieg als Zeitanker.
Der zweite Teil des Buches – rekonstruierte Geschichte genannt – ist das Ergebnis von Archivarbeit. Hier erfährt der Leser weniger über das jüdische Alltagsleben, dafür mehr über das Vorgehen des Unterdrückung-Apparates. Ein Beispiel ist die Enteignung der Familie Apt. Bedrückend ist die trockene Sprache des Oberfinanzpräsidenten, die so tut, als ob es um juristische Feinheiten ginge und nicht um plumpen Staats-Diebstahl. Es ist die sehr eigene Sprache der Beamten der NS-Zeit, die verräterisch ist. Geradezu Atem verschlagend ist das Kapitel über den Mord an Pankebrücke. Es beschreibt anschaulich die nackte Lust am Morden. Und es erzählt von der peinlich geringfügigen “Verurteilung” durch ein Gericht nach dem Krieg.
Wie eine geöffnete Schatztruhe
Das Buch selbst ist auch ein Stück Erinnerung, ist ein zeithistorisches Dokument. Denn die Anfänge der Arbeit an dem Buch “Am Wedding haben sie gelebt” reichen bis in die 1980er Jahre zurück. Damals begann der Berliner Geschichtswerkstatt e.V. Alltagsgeschichte zu betreiben. Das ist ein kaum zu überschätzendes Glück, dass der Verein damals auf ein noch neues Herangehen setzte, um Geschichte aufzuschreiben. Die Forscher nahmen Menschen wie du und ich als Quellen. Heute ist es nicht mehr ungewöhnlich, Zeitzeugen zu befragen, vor 40 Jahren schon. Die in “Am Wedding haben sie gelebt” gerafften Protokolle der Gespräche mit sechs Zeitzeugen sind ein Schatz. Denn schon damals, in den 1980er Jahren, sagten die Zeitzeugen “vor zwanzig Jahren hätten sie forschen müssen”. Heute, in den 2020er Jahren, ist die Zahl derer, die sich persönlich erinnern können, noch einmal drastisch gesunken. Deshalb ist das Buch mit den Erinnerungen wie eine Schatztruhe, die nach vielen Jahren erneut geöffnet wird und deren Inhalt unverändert unschätzbar ist.
Die Mitglieder des Vereins waren in West-Berliner Zeit irritiert über die kollektive Amnesie, “sobald die Verfolgung der jüdischen Weddingerinnen und Weddinger während der NS-Zeit zur Sprache kam.” Gegen das Nicht-Drüber-Sprechen-Wollen stellte der Verein in den 1980er Jahren das “Ausgraben vor der eigenen Haustür”. Statt großer Politik einzelner Staatsmänner und Staatsverbrecher begannen sie den Alltag jüdischen Lebens zu erforschen. Kleinteilig. Genau. Daraus entstand 1990 eine Ausstellung und 1998 die erste Auflage von “Am Wedding haben sie gelebt”. Nun folgt die eine zweite Auflage im Verlag Walter Frey. “Wir haben das Manuskript aktualisiert und überarbeitet”, schreiben die sechs Autorinnen der Projektgruppe im Vorwort.
Gegen das Verschweigen während der Nachkriegsjahre half das Sprechen und Erinnern. Das Sprechen hilft auch heute gegen das Relativieren, das von bestimmten Interessengruppen in letzter Zeit stärker vorgetragen wird. Gegen die Absicht, das wahre Schicksal der jüdischen Bürger zu verdrängen, helfen Erinnerungen; hilft die Lektüre der Wahrheit, hilft das nahbare Geschichtsbuch “Am Wedding haben sie gelebt”.
Verlag Walter Frey
Auch wenn das Wort “erinnern” meist auf etwas Persönliches zielt, so erlaubt die Sprache doch auch, das Wort “erinnern” als eine Aufforderung zu verwenden. Ein Beispiel dafür ist der Satz: “Ich erinnere dich an …”. Eine Erinnerung in diesem Sinne hatte Walter Frey vor als “Am Wedding haben sie gelebt” in sein Verlagsprogramm und die Reihe Wedding-Bücher aufnahm. An dieser Stelle ein Dank an ihn.
“Am Wedding haben sie gelebt. Lebenswege jüdischer Bürgerinnen und Bürger” erschien Ende September im Verlag Walter Frey als Band 8 der Reihe Wedding-Bücher. Das Softcover kostet 20 Euro. Das Buch hat über 280 Seiten und zahlreiche Abbildungen.
Der Weddingweiser hat die vorhergehenden sieben Bände besprochen: 1: Otto Nagels Roman “Die weiße Taube”, 2: Walli Nagel “Das darfst du nicht”, 3: Biographie Georg Benjamin, 4: Biographie Kurt Steffelbauer, 5: Das Buch zum Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück, 6: Geschichte der Weddinger SPD und 7: Geschichte des Weddings von Bernd Schimmler. Die Reihe – eine Mischung aus Romanen, Biographien und geschichtlichen Darstellungen – gehört in jeden Weddinger Haushalt. Wem noch Bände fehlen, der kann sich diese zu Weihnachten wünschen ;-).
guten morgen
es wäre superschön, wenn ihr in euren artikeln (externe) links (z.b. auf den verlag o.ä.) hinterlegen würdet. keine ahnung, warum das nicht gemacht wird, mag sein, dass es da regeln gibt, die das ausschließen. aber für mich als leserin wäre das ein echter komfortgewinn und ein zusätzlicher “mehrwert”…
LG
Absolut richtig. Haben wir ergänzt.
Hallo und guten Morgen
ach Esther das Lebe kann so leicht wie eine Feder sein oder so schwer wie eine Lokomotive … oder eben Yu Wei oder Wu Wei !!!!
Einfach Verlag Walter Frey markieren und kopieren und in eine Suchmaschine deiner Wahl eingeben und voila!!! man landet bei https://www.tranvia.de , dann links am Rand runter gerollt und … Bingo , da findet man Wedding-Bücher und klick .… trara , da hat man alle Bücher auf einer Seite um die es hier im Artikel geht
soooo einfach !!!
sonnige Woche noch