Montag, 07.03.2022
Ich bin gestern Abend in Jarosław angekommen, ziemlich genau 100km westlich von der ukrainischen Stadt Lwiw. Nach einem durchschnittlichen Hotelfrühstück gehe ich zum Bahnhof. Es spielen sich Szenen ab, wie an vielen Bahnhöfen halbgroßer Städte in Grenznähe: Menschen, die auf die Weiterfahrt warten und Helfer*innen, die an Klapptischen Getränke und Essen servieren. Ich bleibe nicht lange, schlendere weiter Richtung Innenstadt. Ich möchte gerne mit Menschen sprechen und wissen, wie es ihnen hier ergeht und was sie über Europa denken.
Links: Autobahn in der Nähe von Jarosław. Rechts: Straße im Zentrum von Jarosław.
In der Altstadt treffe ich Krzysztof. Er ist 17 Jahre alt. „Was kann ich sagen? Ich weiß gar nicht richtig, wie ich mich fühle. Wir sollten den ukrainischen Menschen helfen. Ich denke Europa ist vorsichtig im Moment. Ich glaube aber nicht, dass Europa in Gefahr ist.“
Im weiteren Verlauf stellt sich mein Vorhaben leider als sehr ambitioniert heraus. Es scheitert meist an der Sprachbarriere und doch sind mir einige, wenn auch nur fragmentarische, Eindrücke von der Stimmung wichtig.
In einem Café kann ich mit der Kellnerin, Veronika, 18, auf Englisch sprechen. Sie hilft mir einen kleinen Text auf Polnisch zu formulieren, mit dem ich mich an Passant*innen wenden kann und sagt mir noch: „Die Situation ist tragisch und traurig. Ich habe große Angst. Wenn ich an Europa denke, denke ich an Stärke und Kraft.“
Links: Krzysztof. Rechts: Veronika.
An einem Statement eines älteren Mannes, dem ich an einer größeren Straße begegne, bin ich sehr interessiert. Die Übersetzungs-App kommt nur teilweise mit und so bleiben mir von Tadeusz, 77, nur Gedankenausschnitte: „Sehr schlechte Situation. Schade, dass der Ukraine erst jetzt geholfen wird. Beunruhigend, dass dem Land nicht noch viel mehr geholfen wird.“ Ich verstehe das so, dass er sich auch bzw. vor allem auf militärische Hilfe bezieht.
Vor einem Einkaufscenter treffe ich Olivia, 20, und Anna, 36: „Hier in Polen haben wir Angst vor dem Leid und wir unterstützen, dass Polen Flüchtlinge und vor allem Kinder und Frauen aufnimmt.“
Als nächstes frage ich Natalia, 21. Sie sagt: „Ich fühle mich nicht gut. Die Situation ist wirklich schwierig. Ich habe Menschen geholfen und versuche mein Bestes. Ich denke, wir brauchen Hilfe von Europa. Es ist kompliziert, weil wir alleine nicht stark genug sind.“
Links: Tadeusz. Mitte: Olivia und Anna. Rechts: Natalia.
Am Nachmittag fahre ich nach Medyka, einem der größten und aus den Nachrichten wohl bekanntesten Grenzübergänge. Ich parke am Straßenrand. Wie an anderen Orten zuvor, habe ich zunächst das Gefühl, dass hier weniger Aktivität herrscht als erwartet. Irgendwie hat man dieses Bild im Kopf von vielen Menschen, wenn man von den Millionen bereits Geflüchteten liest. Tatsächlich ist es aber so, dass an der Straße selbst eher wenige Personen zu sehen sind und nur alle paar Minuten Fahrzeuge durchfahren. Die meisten Flüchtenden sind zu Fuß unterwegs und kommen durch einen anderen Teil der Grenze, einige Dutzend Meter abseits.
Ich gehe in diese Richtung und sehe dann schnell die Zelte, Kartons voller Hilfsgüter, Medienteams, Helfer*innen und schließlich die wartenden Menschen. Sie stehen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt dicht gedrängt in einer ungefähr 50 Meter langen Schlange. Etwa alle 15–20 Minuten kommen Busse an und bringen sie in die nächste Stadt.
Oben links: Medienteam.
Oben rechts: Zelt-Halterung.
Unten: “Baby Milk Truck”.
Wieder frage ich mich: was sind eigentlich Grenzen? Ich erinnere mich noch als Kind, als die Grenze zu unserem Nachbarland noch insofern Bedeutung hatte, als dass wir Geld wechseln mussten. Da wurde auch einem Grundschulkind klar, dass jetzt irgendetwas geschieht. Mit dem Aufwachsen wurde dieses Bewusstsein jedoch erst einmal weniger. Der Euro kam, ich lernte neue Sprachen, nahm an Schüleraustauschen teil. In meinen frühen Zwanzigern ging ich nach Mittelamerika, nach Afrika, Südostasien. Ich sah, dass es sie überall auf der Welt gibt, diese Orte: oft staubig, meist hässlich, irgendwie faszinierend und nicht ganz geheuer zugleich. Im Nirgendwo eine Stelle, wo die stärksten Regeln und Gesetze herrschen.
Nie zuvor war ich mir so bewusst, dass diese Orte auch hier weiter bestehen und der Zustand vieler offener Grenzen in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten alles andere als selbstverständlich ist.
Links: Die ersten Meter in Polen. Rechts: Gewächse an der Grenze.
Bildredaktion: Liane Geßner
Auf dieser Seite haben wir ein paar Informationen zusammengestellt, wie man von Berlin und Wedding aus helfen kann. Die Seite wird nach und nach befüllt.
Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6 und Teil 7 der Serie nachlesen.