Eine glanzlose, nicht ganz geradlinige Straße wie die Reinickendorfer verdient – wie so viele Weddinger Straßen – einen zweiten Blick. Die einzige Bundesstraße des Wedding (B 96) durchzieht unseren Stadtteil von Nord nach Süd genau an der 2001 recht willkürlich gezogenen Grenze zwischen Wedding und Gesundbrunnen. Doch gerade diese vermeintlich nichtssagende Straße ohne Sehenswürdigkeiten ist typisch für die Weddinger Mischung und erzählt viel vom Charakter unseres dichtbesiedelten Stadtteils.
Ein Bahnhof namens Wedding
Mit dem Weddingplatz fängt die Straßenbesichtigung im Süden schon mal besonders lieblos an. Der unwirtliche Ort mit der Siebzigerjahre-Dankeskirche aus Beton in der Platzmitte ist von Sozialbauten, Verwaltungsgebäuden der Pharmafirma Bayer AG und gerade mal zwei Häusern aus der Vorkriegszeit eingerahmt. Hier kreuzen sich die Verkehrsachsen Müllerstraße und Fenn-/Reinickendorfer Straße. Der Benennung des dortigen U‑Bahnhofs als „Reinickendorfer Straße“ ist fast schon irreführend, denn die eigentliche Straße beginnt erst ein paar Meter entfernt, ganz unscheinbar, und bekommt ihre wirkliche Bedeutung wesentlich weiter nördlich.
Nur schnell weg hier! Schon hinter der Kreuzung Schönwalder Straße, Richtung Ringbahnbrücke, tauchen wir in einen typischen Altbaukiez ein.
Jahrelang Kinostandort
Gleich an der Ecke Ravenéstraße hat sich die Biobäckerei Bucco in einer alten Bäckerei einen guten Ruf erarbeitet. In der Feuerwache Wedding nebenan schieben 90 Berufsfeuerwehrleute Dienst. Aber auch eine freiwillige Feuerwehr und vor allem die Jugendfeuerwehr haben in dieser traditionsreichen alten Feuerwache ihren Sitz. Gegenüber gab es übrigens bis 1998 im Hinterhof ein Kino, das Sputnik Wedding. Leider wurde das schöne, eigentlich denkmalgeschützte, 50er-Jahre-Gebäude 2006 abgerissen. Und dann geht es auch schon unter der betonlärmschutzhässlichen Ringbahnbrücke hindurch auf die Kreuzung mit der Gerichtstraße und dem Nettelbeckplatz. Seit 2002 hält hier wieder die S‑Bahn, an einem Bahnhof, der schlicht und ergreifend “Wedding” heißt. Denn diese Gegend galt früher als das Herzstück des Wedding.
Tanz auf dem Vulkan
Hier war bis in die 80er-Jahre ein trostloser Kreisverkehr. Der runde Platz wurde aber verkehrsberuhigt, seither fließt der Verkehr rechts an ihm vorbei. Ein Skulpturenbrunnen namens Tanz auf dem Vulkan, runde Sitzbänke unter den schattigen Bäumen und regelmäßig stattfindende Märkte könnten ihn zu einem schönen Platz machen. Eigentlich. Denn richtig wohl fühlt sich der Spaziergänger zwischen Spätis, Dönerläden und Casinos hier nicht. Das könnte sich ändern, ein Indiz ist vielleicht das Bistro Mirage in einem der Eckhäuser, die den neugestalteten Platz seit dem Ende der 80er-Jahre im postmodernen Stil abschließen.
Voller Bausünden
Doch die Zeit des Nettelbeckplatzes als lebendiger Kiezmittelpunkt ist noch nicht gekommen. Das als neuer Ort für Hochkultur wiedererwachende Krematoriumsgelände zwei Straßen weiter verschafft der Gegend schon neue Aufmerksamkeit. Vom Platz aus geht die Reinickendorfer Straße als Fußgängerzone weiter, bis sie nach 100 Metern wieder den Verkehr von der Pankstraße kommend aufnimmt. Nun wird die breite Straße endgültig zu einem echten Konzentrat des Wedding: voller scheußlicher Bausünden, quiriger türkischer Gemüseläden und grellen Spielcasinos. Hier muss man wie so oft aber genauer hinschauen: das öffentliche Wohnzimmer und der Künstlertreff KikiSol in der Hausnummer 96 ist seit Jahren ein etablierter Kieztreffpunkt.
In die Nebenstraßen gehen
Baulich steht der Straße, die um 1861 ihren heutigen Namen erhielt, bis nach Reinickendorf nun nichts mehr im Weg. Sie war zuvor der Heer- und Postweg, der von Berlin nach Oranienburg führte. Damit ist sie neben der Bad- und der Müllerstraße eine der ältesten Straßen im Wedding. Auch hier muss man in die Nebenstraßen gehen, um die interessanten Ecken zu finden: in der Gottschedstraße befindet sich eine der bekanntesten Bars im Wedding, die Jatz Bar, und nur wenige Schritte weiter befindet sich mit dem ExRotaprint-Gelände ein bauliches Highlight des Brutalismus in Sichtbeton. Aber auch das soziokulturelle Projekt ExRotaprint der nachhaltigen Stadtentwicklung ist mustergültig.
Zurück in die Reinickendorfer. An der nächsten großen Kreuzung befindet sich das Haus der Jugend, ein schöner 50er-Jahre-Bau. Die “Nauener Platz” genannte Kreuzung verdient keine besondere Erwähnung, aber die angrenzenden Spielplätze lohnen die Entdeckung.
Rein in die schönen Nebenstraßen
Auf den letzten Metern der Reinickendorfer sollte der Spaziergänger auch einmal links in die Liebenwalder Straße abbiegen, eine besonders schöne gründerzeitliche Straße. Hier hat sich seit ein paar Jahren eine ambitionierte Pizzeria namens Stranero etabliert. Auch die Oudenarder Straße besticht durch alte Bausubstanz.
Weiter auf der Reinickendorfer zerfließt der Kiez in eine lockere Bebauung, nur noch das Gesundheitsamt und Seniorenheime liegen an der lauten Straße, bevor sie dann am trostlosen Louise-Schroeder-Platz auf die Osloer Straße – und damit auf einen Autobahnzubringer – trifft. Als Markstraße wird aus der pulsierenden Reinickendorfer eine unspektakuläre Ausfallstraße in den Norden.
Die Reinickendorfer Straße – keine schöne Straße, beim besten Willen nicht. Aber: ohne falschen Schick, dafür voller Weddinger Leben und Charakter.
Wo an der Reinickendorfer Straße soll sich das Gesundheitsamt befinden? Da, wo bis vor 5 Jahren das “Haus der Gesundheit Wedding” stand, wurde gerade Richtfest für den Neubau der Anna- Lind- Grundschule gefeiert.