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Zum Tag der Deutschen: Wie wird man eigentlich deutsch?

3. Oktober 2016
Wie Maja Lasić Deutsche wurde. Foto Andrei Schnell
Wie Maja Lasić Deut­sche wur­de. Foto And­rei Schnell

Gast­au­torin Maja Lasić kam mit 14 Jah­ren aus dem ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en nach Deutsch­land. Zwi­schen Ankunft und Ankom­men lie­gen 15 Schrit­te. Der Text ist eine gekürz­te Ver­si­on ihrer Beschrei­bung vom 27. Febru­ar 2013.

“Schritt 1:
Du reist mit 14 ein. Du sprichst kein Wort Deutsch außer „Halt“, „Ach­tung“ und was sonst noch in Par­ti­sa­nen­fil­men vor­kommt. Du fühlst Dich fremd und willst nur zurück in Dei­ne Heimat.

Schritt 2:
Du sprichst Deutsch gut genug, um in eine regu­lä­re Klas­se zu wech­seln. Dein Vater rennt zum Schul­amt und ver­langt „die bes­te Schu­le für sei­ne Toch­ter“. Dei­ne Mit­schü­ler kön­nen mit Dei­nen Erfah­run­gen mit Ket­ten­dul­dun­gen, in Flam­men auf­ge­hen­den Hei­ma­ten und des­il­lu­sio­nier­ten Eltern nichts anfan­gen. Dein Leben teilt sich in den deut­schen Vor­mit­tag und den Flücht­lings­nach­mit­tag, Ver­bin­dun­gen gibt es kei­ne. Du stillst Dei­ne Sehn­sucht nach der Hei­mat mit Lie­dern, planst aber ein Stu­di­um in Deutschland.

Schritt 3:
Du stu­dierst in einer neu­en Stadt Bio­lo­gie. Du ver­bringst auf ein­mal gan­ze Wochen nur unter Deut­schen. Migran­ten stu­die­ren nicht Bio­lo­gie, son­dern Maschi­nen­bau oder Wirt­schaft. Du lernst die Musik von Tom­te, Kett­car oder Box­ham­sers ken­nen, du liest Max Goldt. Dein gan­zer Bio­kurs singt „Frucht­flie­gen, wir wer­den euch alle krie­gen“ von Fun­ny van Dan­nen. Im Wohn­heim erklärst Du ande­ren Aus­län­dern, die frisch in Deutsch­land sind, wie man sich an der Uni zurecht­fin­det. Das fühlt sich gut an.

Skulptur zu Wiedervereinigung in der Chausseestraße. Foto Andrei Schnell.
Skulp­tur zu Wie­der­ver­ei­ni­gung in der Chaus­see­stra­ße. Foto And­rei Schnell.

Schritt 4:
Du machst Dei­nen Dok­tor in einer neu­en Stadt. Dein Arbeits­kreis besteht zu 80% aus Men­schen, die nur wegen der Pro­mo­ti­on nach Deutsch­land gekom­men sind. Den gan­zen Tag wird nur Eng­lisch gespro­chen. Du erwischst Dich dabei, wie Du gegen­über Dei­nem indi­schen Kol­le­gen die deut­schen Behör­den ver­tei­digst, die ihn an dem­sel­ben Vor­mit­tag wahn­sin­nig gemacht haben.

Schritt 5:
Du ziehst für einen schi­cken Job in der Phar­ma­in­dus­trie in eine neue Stadt. Du hast einen noch schi­cke­ren Fir­men­wa­gen, Dein Kon­to quillt über. Dei­ne Che­fin erklärt Dir, was für groß­ar­ti­ge Auf­stiegs­chan­cen auf Dich warten.

Schritt 6:
Du sitzt im Zug und liest in der FAZ einen Arti­kel über eine neu zu grün­den­de Bil­dungs­in­itia­ti­ve namens „Teach First Deutsch­land“. Die Initia­ti­ve schickt her­aus­ra­gen­de Uni­ab­sol­ven­ten aller Fach­rich­tun­gen für zwei Jah­re an Schu­len in schwie­ri­ger Lage. Dort unter­stüt­zen die soge­nann­ten „Fel­lows“ benach­tei­lig­te Schü­ler dabei, bes­se­re Abschlüs­se zu errei­chen und nicht aus dem Sys­tem zu fal­len. Das Vor­bild in Ame­ri­ka ist schon 20 Jah­re alt und sehr erfolg­reich. Du steigst aus dem Zug und sagst „Das mache ich!“

Fenster einer Weddinger Schule. Foto: Andrei Schnell.
Fens­ter einer Wed­din­ger Schu­le. Foto: And­rei Schnell.

Schritt 7:
Du arbei­test an einer Haupt­schu­le im Wed­ding. Wenn Du allein mit einer Klas­se bist, gibt es im Raum nie­man­den ohne Migrationshintergrund.

Schritt 8:
Du näherst Dich dem Ende Dei­nes zwei­jäh­ri­gen Schul­ein­sat­zes und neben der Freu­de über die Erfol­ge Dei­ner Schü­ler emp­fin­dest Du immer mehr Trau­er und vor allem Wut. Wut über unser (und ja, hier sagst Du das aller ers­te Mal UNSER) Sys­tem, das benach­tei­lig­te Schü­ler sys­te­ma­tisch aus­grenzt. Du rea­li­sierst, dass jeder Dei­ner Schü­ler viel erfolg­rei­cher wäre, wenn er nur an eine ande­re Schu­le in einem ande­ren Stadt­teil gehen dürfte.

Schritt 9:
Wenn Du in dei­ner Ursprungs­hei­mat (mitt­ler­wei­le reicht es Dir nicht, sie nur als Hei­mat zu bezeich­nen) poli­ti­sche Gesprä­che führst, lei­test Du Dei­ne Bei­spie­le mit „bei uns in Deutsch­land“ ein. Und den­noch bist Du nicht bereit den deut­schen Pass anzu­neh­men, weil dies hei­ßen wür­de, dass Du Dei­nen ande­ren Pass auf­ge­ben müsstest.

Schritt 10–15:
Die­se Schrit­te kennst Du noch nicht. Du wirst sie erst noch gehen … oder auch nicht. Du hast bis jetzt gelernt, Geduld mit Dir zu haben. Du ver­sperrst Dich nicht dage­gen, Dich in Deutsch­land immer mehr zu Hau­se zu füh­len, pflegst aber mit Freu­de noch die Ver­bun­den­heit zu der ande­ren Heimat.”

Der voll­stän­di­ge Text der Gast­au­torin Maja Lasić, die am 18. Sep­tem­ber für die SPD ins Abge­ord­ne­ten­haus gewählt wur­de, ist zu fin­den auf: www.spd-fem.net.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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