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Wenn der Wedding eine Kontaktanzeige wäre

15. Juli 2020
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“Oh, cool, Ber­lin, da wohnst du bestimmt in Kreuz­berg, oder? Oder Neu­kölln, da geht ja voll viel ab, ich glau­be, da hat auch letz­tens so ein vega­ner Bur­ger­la­den auf­ge­macht von die­sem Fit­ness-Influen­cer aus LA, hab ich bei Insta­gram gese­hen, wenn ich dich besu­chen kom­me, kön­nen wir ja mal…” – “Ich woh­ne im Wed­ding.” – “Oh.… Wo ist das denn?”

Zum Glück kennt den Wedding keine Sau

Graffiti mit dem Schriftzug Wedding

Als ich 2014 zum Stu­di­um nach Ber­lin gekom­men bin, hab ich die­se Kon­ver­sa­ti­on mit Freund*innen und Geschwis­tern wohl nicht nur ein­mal geführt. Das ist jetzt sechs Jah­re her und das Bes­te dar­an? Ich füh­re sie genau so immer noch. Den Wed­ding kennt außer­halb Ber­lins Stadt­gren­zen immer noch kei­ne Sau, und das kann mei­net­we­gen auch ger­ne so blei­ben. Okay, den ambi­tio­nier­ten klei­nen Cafés auf der See­stra­ße, die regel­mä­ßig neu auf­pop­pen und weni­ge Mona­te spä­ter wie­der schlie­ßen müs­sen, weil irgend­wie doch recht wenig Lauf­pu­bli­kum vor­bei­fla­niert – denen wür­de ich ein paar Wedding-Besucher*innen mehr wünschen.

Ande­rer­seits – was soll man schon an der See­stra­ße (außer ver­zwei­felt ver­su­chen, sie in einer Grün­pha­se zu über­que­ren, ohne auf hal­ber Stre­cke von der M13 mit­ge­nom­men zu werden)?

Damals bin ich her­ge­zo­gen, weil hier noch was Bezahl­ba­res auf­zu­trei­ben war auch für jun­ge Leu­te, deren Eltern nicht direkt die Woh­nung oder das gan­ze Haus kau­fen. Ich mach’ mir nix vor – dass ich in den Wed­ding kam, mach­te mich ein Stück weit trotz­dem zur Gen­tri­fi­zie­re­rin (mein Gewis­sen beru­hig­te damals ein klein wenig, dass aus “unse­rer” Woh­nung damals kein Renter*innenehepaar ver­drängt wur­de, son­dern dass sie frei­wurde, weil das jun­ge Paar / Trio in spe dar­in nun doch lie­ber in den Prenz­lau­er Berg über­sie­deln woll­te. Ganz schön arri­viert – ich bin sechs Jah­re spä­ter kei­nen Schritt wei­ter in mei­ner Fami­li­en­pla­nung, aber der Wed­ding, der damals noch Neu­land war, ist mir so fest ins Herz gewach­sen, dass ich mir nicht vor­stel­len kann, ihn jemals für einen ande­ren Kiez in Ber­lin herzugeben.

Pragmatischer, zuverlässiger Liebhaber, dieser Wedding

Foto:Hensel

Wenn der Wed­ding eine Kon­takt­an­zei­ge wär’, wür­de er sich wohl als prag­ma­ti­schen, zuver­läs­si­gen Lieb­ha­ber aus­wei­sen. Hat alles, was du brauchst, um dei­ne Grund­be­dürf­nis­se zu stil­len; steht nicht so auf Glit­zer, Fahr­rad­fah­ren, Tech­no­clubs und ande­re Extra­va­gan­zen, aber hat dafür 20 Dis­coun­ter auf einem Qua­drat­ki­lo­me­ter und immer ’ne offe­ne Notapo­the­ke für dich! Dann triffst du dich mit ihm, bist erst biss­chen ange­wi­dert, aber irgend­wie ist er doch ganz kor­rekt. Und dann lernst du ihn ken­nen und stellst fest, fuck, da steckt ver­dammt viel hin­ter die­ser schnod­de­ri­gen Fas­sa­de. Ihr schlen­dert zusam­men über die Mül­lerstra­ße und du denkst: “Ja, ist jetzt kei­ne Berg­mann­stra­ße, aber dafür sind die Leu­te hier auch ent­spann­ter.” Den Gen­ter Markt fin­dest du sofort phan­tas­tisch (May­bach­ufer? Ken­nen wir hier nicht), die klei­ne Gale­rie direkt neben der Obdach­lo­sen­un­ter­kunft, aber hier igno­riert man sich nicht gegen­sei­tig oder pöbelt sich an, son­dern man teilt ohne gro­ßen Bohei sei­ne beleg­ten Schrip­pen. Wenn er dich auch mag, zeigt dir der Wed­ding beim drit­ten Date viel­leicht die Rehberge:

Ganz ehr­lich, wer von uns hät­te die Coro­na-Aus­gangs­be­schrän­kun­gen ohne die­sen Him­mel auf Erden über­lebt? (Tier­gar­ten? Ken­nen wir hier nicht). Außer­dem, wie chil­lig sind eigent­lich die Wild­schwei­ne?! Ich könn­te ewig wei­ter­schrei­ben, aber soll­te bes­ser mal lang­sam die Kur­ve krie­gen, die Arbeit ruft.

Lokal­pa­trio­tis­mus braucht immer eine Wei­le, bis er sich ein­stellt: Anfangs ist alles unge­wohnt und komisch. Dann reißt man sich zusam­men und fängt an, Din­ge zu unter­neh­men. Ganz neben­bei fängt man an, Erin­ne­run­gen in sei­nem Kiez zu machen: Hier die Bank vor dem Späti, wo wir Sonn­tag­abends den Ver­kehrs­lärm mit unse­rem Lachen über­tö­nen. Da der Strom­kas­ten auf dem LIDL-Park­platz, wo wir ins neue Jahr gefei­ert haben. Der Imbiss, wo ein Kum­pel eine Lebens­mit­tel­ver­gif­tung bekam und wir nachts ins Virch­ow-Kli­ni­kum muss­ten. Die Post, wo ich schon so viel Lebens­zeit in der War­te­schlan­ge gelas­sen habe. Der bes­te Simit-Laden der Stadt, hier stand bei der vor­letz­ten Fete-de-la-Musi­que eine unfass­ba­re Live-Band, dort war im Früh­jahr ein Schwa­nen­nest, da hin­ten, zwi­schen der Lin­den und dem alten Bau­zaun ver­steckt sich ein ver­zau­ber­ter Buch­la­den… Und, und, und. Und eh man sich’s ver­sieht, ist man heil­los ver­lo­ren. Man fängt an, sein nicht-Wed­din­ger Umfeld mit Lie­bes­be­kun­dun­gen zu ner­ven und hört auf, die schlech­ten, pro­ble­ma­ti­schen, rot­zi­gen Sei­ten wahr­zu­neh­men- genau, wie wenn man frisch ver­liebt ist. Und ich sag mal so, bei mir hat noch kei­ne Bezie­hung so lan­ge gehal­ten wie die Lie­be zum Wedding.

Autorin: Katha­ri­na

Gastautor

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1 Comment

  1. Dan­ke! ich lebe selbst seit fast 20 Jah­ren im Wed­ding (nahe dem Läd­chen auf dem Bild unten) und füh­le mich hier sehr wohl.

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