Wenn man lange an einem Ort lebt, empfindet man diesen irgendwann ganz selbstverständlich als Zuhause. Den Wedding nennen nur die wenigsten seiner Bewohner:innen als Geburtsort, dieser Stadtteil ist schon immer ein Ort der Einwanderung und des Transits gewesen. Wieder Andere sind hier auch nur geboren, weil sich viele Krankenhäuser im Wedding befinden und haben nie im Stadtteil gewohnt. Der Zugezogenenatlas 2016 weist für den Wedding aus, dass über die Hälfte seiner Bewohner:innen nicht in Berlin geboren ist – nur rund um den Schillerpark lag die Quote der Ur-Berliner etwas höher. So verwundert es nicht, dass auch die meisten der Redaktionsmitglieder beim Weddingweiser nicht aus der Region Berlin-Brandenburg stammen. In unserer Serie berichten wir von unseren Herkunftsorten – und warum wir in unserem Stadtteil Wurzeln geschlagen haben..
Ab in den billigen Wedding
2002 war meine erste eigene Wohnung in Berlin im Prenzlauer Berg. Dort gab es schöne Wohnungen und die Mieten waren relativ bezahlbar. Das war eine Zeit, wo ich jedes Wochenende woanders beim Umzug eines Bekannten half. Es war in der ganzen Stadt nämlich anscheinend Sport, mindestens einmal im Jahr umzuziehen.
Eines Tages half ich im Wedding und es hieß, zwei Etagen unter der Wohnung sei eine weitere Wohnung frei und die sei nicht nur 100€ billiger, sondern auch 10qm größer. Aus heutiger Sicht schwer zu glauben: man bekam 3 Monate mietfrei, nur dafür, dass man einzog. Das war dann schnell beschlossen und ich zog in die Freienwalder Straße im Soldiner Kiez. Im Treppenhaus roch es stark nach Gras, die tiefergelegten Autos hupten die ganze Nacht und als im leeren Laden im Erdgeschoss die blauen Lichter der Degewo einem kleinen Theater (GWSW, für Hausbewohner kostenfrei) wichen, fühlte ich mich mittendrin im Großstadtleben.
Die Kommilitonen bemitleideten mich, wenn ich von meinem neuen Zuhause erzählte, aber ich fand’s toll. Eigentlich war es sogar super lustig, denn meine Freunde wohnten ja im selben Haus und so erkundeten wir gemeinsam die Gegend: 1€-Döner in der Soldiner Straße, der schäbige Penny im Hof in der Prinzenallee, die harten Jungs auf den verwahrlosten Spielplätzen, der winzige Kiosk gegenüber als Kieztreff.
Irgendwie war alles spannend und wir jungen Studenten noch eine Ausnahme, die manch Ureinwohner skeptisch mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. Als ich nach der WG doch lieber alleine wohnen wollte, bin ich nur wenige Straßen weiter gezogen, denn in den Kiez hatte ich mich längst verliebt.
(M)ein neues Zuhause neben einer Kirche
Die Bellermannstraße war deutlich ruhiger und noch näher zur S‑Bahn und dem Gesundbrunnen-Center. Ich fand eine kleine Wohnung im 2. Hinterhaus neben einer Kirche, mit etwas Renovierungsbedarf, aber wieder drei Monaten mietfrei und sogar 50 € Zuschuss in bar für Farbe. Es sollte der Anfang einer langen Geschichte werden.
Da der Vermieter keine große Wohnungsbaugesellschaft, sondern die katholische Kirche war, lief auch sonst einiges anders. Für das Unterzeichnen des Mietvertrags musste ich beim Pfarrer vorsprechen, morgens, mittags und abends läuten die Glocken der Kirche nebenan unüberhörbar laut. Im Hof gab es neben einer angestrahlten Marienfigur auch einen eigenen Eingang zur Kirche, den viele Nachbarn am Sonntag nutzen.
Was es nicht gab, war eine Klingel an der Haustür an der Straße, denn diese stand tagsüber einfach für jeden offen. Abends war sie nur von innen zu öffnen, nachts dann meist abgeschlossen. Für Besucher war das oft überraschend, meist praktisch und manchmal auch unpraktisch zugleich. Allerdings hatten Post- oder Paketboten keine Lust, die vier Aufgänge auf gut Glück abzuklappern und brachten, wenn überhaupt, alle Sendungen zum Ersten, der die Wohnungstür öffnete. So lernte ich schnell einen großen Teil der fast 40 Nachbarn kennen und fühlte mich als Teil einer Gemeinschaft. Fast wie auf einem Dorf, mit viel Vertrauen und Offenheit. Ein denkbar großer Kontrast zum Wedding vor der Tür.
Irgendwann kamen leider auch die Probleme und die Nachteile zu und es kam, nach über 100 Jahren der offenen Tür, eine Klingelanlage. Nicht alle Bewohner waren dafür, nicht nur wegen der paar Euro Mehrkosten. Seitdem bekommen wir zwar auch nicht mehr Pakete, aber immerhin gibt es keine Blutflecken, kein Spritzbesteck oder sonstige unangenehmen Spuren mehr.
Das Betreten des Hofes ist für uns im Haus immer ein Schritt in eine Parallelwelt. Von außerhalb kommend ist es schlagartig ruhiger (außer, wenn die Glocken läuten), im Sommer immer kühler und kurzes Verweilen führt fast zwangsläufig dazu, Nachbarn auf einen kurzen Plausch zu treffen. Beim Weggehen ist das Wetter im Hof jedoch trügerisch – oft ist es draußen gar nicht nass (unser Hausmeister gießt gerne/viel) oder aber viel kälter und windiger.
Unser Hof als Nachbarschaftstreff
Im Sommer flüchten sich viele junge Familien aus dem Haus in ein Planschbecken im Hof und auch die Gemeinde feiert zu verschiedenen Anlässen mit Grill und Festzelten. Unser Hof ist eben ein besonderer Ort. Unterdessen war meine Freundin zu mir gezogen und als die Nachbarwohnung frei wurde, ergab ein kurzes Gespräch mit dem Hausverwalter auf dem Hausflur, dass die Kirche das Zusammenlegen mit meinen 1,5 Zimmern finanzieren würde. Relativ unkompliziert hatten wir nun doppelt so viele Zimmer und zahlten kurzerhand einfach die doppelte Miete. Ein paar Jahre später kamen unsere Kinder und wie selbstverständlich ist unsere Wohnung, ganz wie unsere Familie, weiter gewachsen. Im Haus fand sich sogar Platz für ein kleines Büro, fern vom Familientrouble, aber doch in Babyfon-Reichweite.
Doch der Wedding hat auch viele unangenehme, unfreundliche und wenig hübsche Facetten. Schon oft hatten wir uns deshalb gefragt, ob wir mal wegziehen würden. Zurück aufs Land war mittlerweile für meine Frau keine Option mehr, zu groß die Vorteile der großen Stadt. Aber deswegen ins saubere Hamburg oder nur nach Charlottenburg, Spandau oder gar Steglitz? Eher nicht.
Unser Kiez ist im Wandel, der Wedding im Kommen, vieles ändert sich (langsam). Doch vieles leider auch nicht – Dinge, die besonders mit kleinen Kindern unübersehbar sind. Der omnipräsente Müll, die kaputten Spielplätze sowie die traurige Armut sind leider ständige Begleiter.
Es heißt oft, Berlin sei anders als der Rest der Bundesrepublik – und ich bin sicher, dass es stimmt. Der Wedding und besonders unser Haus sind auch anders, und das ist auch gut so! Seit wenigen Tagen ist es 16 Jahre her, dass ich eingezogen bin. Hoffentlich werden es noch viele mehr… ❤️🏠
Bisher erschienen:
Vom Speckgürtel in die Mitte – Weddingweiser