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Unser Zuhause:
Surfen auf der Mietenwelle

Wir über uns: Andrei Schnell spülte die Mietenwelle in den Wedding. Seine Sicht auf Heimat und Zuhause in unserer Reihe zur Herkunft unserer Autoren.
31. Mai 2021
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zuhause

“Dann sind Sie also ein Miet­flücht­ling”, frag­te mich der Quar­tiers­ma­na­ger. Das war weit vor 2015 und die Leu­te rede­ten damals so. Aus­ge­drückt wer­den soll­te, dass ich in den Wed­ding gezo­gen war, weil ich mir Ber­lin nicht mehr leis­ten konn­te. Denn der Wed­ding gehör­te in die­sen Jah­ren gefühlt nicht zu Ber­lin. So wie heu­te zum Bei­spiel der Schä­fer­see mit zuge­hö­ri­gem Rei­ni­cken­dorf Ost. Nicht nur Sprech­ge­wohn­hei­ten ändern sich, son­dern auch der Lauf der Ber­li­ner Welt. Ände­run­gen, die mich zum Miet­no­ma­den machten.

Das Wort Miet­no­ma­de muss man heu­te erklä­ren. Es war ein Kampf­be­griff der Immo­bi­li­en­ent­wick­ler, die den Ber­li­nern das Umzie­hen madig machen woll­ten. Mot­to: Reg dich nicht über stei­gen­de Mie­ten auf, bleib ein­fach da woh­nen, wo wohnst. Muss man wirk­lich ein­mal pro Jahr umzie­hen? Ant­wort: Muss­te man nicht, aber konn­te man. Ich bin viel umge­zo­gen, aller­dings nicht ein­mal pro Jahr. Das wäre mir dann doch zu anstren­gend gewe­sen. Erst leb­te ich allein, dann nahm eine Frau eine Bezie­hung mit mir auf, dann sag­te ein Kind Papa zu mir, dann ein zwei­tes. Es war üblich, sol­che Din­ge zum Anlass für einen Umzug zu neh­men. Heu­te fragt man IKEA um Rat, wie man noch eine Per­son in die 50 Qua­drat­me­ter stopft. Aller­dings gab es damals beim Wech­sel der Woh­nun­gen ein Pro­blem. Es gab Stadt­tei­le, die waren gen­tri­fi­ziert, die fie­len bei der Woh­nungs­su­che aus. Also wech­sel­te ich von der unsa­nier­ten Woh­nung im Prenz­lau­er Berg in eine hel­le Woh­nung im Fried­richs­hain. Und von dort nach Neu­kölln. Der Leser ahnt, was ich sagen will: Ich zog vor der Auf­wer­tung her. Man könn­te auch sagen: Die Stadt­tei­le änder­ten sich und des­halb ging ich fort. Wur­de zum Sur­fer vor der Hipwelle. 

Aber bit­te eines nicht unter­schät­zen! Sol­ches Tun ver­lang­te Geschick. Man muss­te in den Fin­gern spü­ren, wo zu woh­nen gera­de noch so ok war – und wo eine unbe­spro­che­ne Gren­ze über­schrit­ten war. Vik­to­ria­vier­tel hin­ter dem Bahn­hof Ost­kreuz? “Ja, da ist eigent­lich auch schön, so viel tol­le Alt­bau­ten und in Wahr­heit ja auch nicht weit weg vom Boxi.” Dage­gen Mag­da­le­nen­stra­ße: “Oh…, hm, da ken­ne ich auch weit ent­fernt jeman­den – … noch einen Milchkaffee?”

Mein Umzug in das Brun­nen­vier­tel, von dem ich nicht wuss­te, dass es so hieß, war eine Not­lö­sung. Das spre­che ich jetzt mal ehr­lich aus. Woh­nen im Wed­ding ging damals eigent­lich gar nicht. Der Bezirk lag (man sag­te trotz Ver­wal­tungs­re­form wei­ter­hin Bezirk Wed­ding) jen­seits der pein­li­chen Gren­ze. Aber was soll­te ich machen? Die Schu­le am Arko­na­platz war vom Vin­eta­platz aus erreich­bar. Und der Preis der Woh­nung auf der einen Sei­te der Ber­nau­er Stra­ße pass­te ins Bud­get, auf der ande­ren nicht. Und es war im Grun­de gar nicht so schlecht, dass immer alle dach­ten, ich sprä­che vom U‑Bahnhof Vine­ta­stra­ße in Pan­kow. Ich beken­ne, ich wohn­te mit dem Rücken zum Wed­ding; mein Blick ging zum Prenz­lau­er Berg. In die ande­re Rich­tung zum Gesund­brun­nen schau­te ich nicht. Ich wuss­te nicht ein­mal, dass es den gibt.

“Wenn man lan­ge an einem Ort lebt, emp­fin­det man die­sen irgend­wann ganz selbst­ver­ständ­lich als Hei­mat.” Die­ser Satz lei­tet vie­le Bei­trä­ge die­ser Zuhau­se-Rei­he ein. Ich glau­be, so ein­fach ist es nicht ganz. Zumin­dest nicht bei mir. Ich erreich­te irgend­wann das Gefühl, ich ken­ne mich aus. Das kann ich bestä­ti­gen. Denn mein Geld­ge­ber ver­lang­te, dass ich mich mit dem Wed­ding beschäf­ti­ge. Und auch mein Hob­by brach­te den abge­häng­ten Stadt­teil in mein Blick­feld. Wenn mein Archiv mich nicht trügt, begann ich 2009, Beob­ach­tun­gen für Blogs wie den Wed­ding­wei­ser zu notie­ren. Man könn­te sagen, seit zwölf Jah­ren schaue ich mich im Kiez um. Und dadurch ist er mir ver­traut gewor­den. Edgar Reitz wür­de sagen: zur zwei­ten Hei­mat. Mei­ne ers­te Hei­mat (ich sage aus­drück­lich nicht mei­ne wah­re Hei­mat) ist unter­ge­gan­gen. Sie liegt im Land Bran­den­burg. Ich kann zwar die geo­gra­fi­schen Koor­di­na­ten mei­ner Kind­heits­jah­re auf­su­chen, aber die dor­ti­ge Gegend ist in den 1990er Jah­ren abge­ris­sen oder umge­baut wor­den. Die Häu­ser, zwi­schen denen ich her­an­wuchs, gibt es so heu­te nicht mehr. Wohl dem, der das Glück hat, bei Bedarf in sei­nen Hei­mat­ort fah­ren zu können. 

Ob der Wed­ding nun mei­ne Hei­mat ist – oder sagen wir mil­der: mein Zuhau­se -, das kann ich schwer sagen. Ich bin nach wie vor ein Zuge­zo­ge­ner. Wür­de mich nicht erdreis­ten zu sagen, ich bin ein Wed­din­ger. Denn ich ken­ne Men­schen, die viel län­ger hier woh­nen. Man­che sogar von Geburt an. Ich den­ke, es ist pas­siert, dass mein Leben eines eines Mie­ters ist. Und das ist ein Leben auf Zeit. Ich spü­re, wenn der Moment dran ist, wer­de ich fort­zie­hen. Die Zei­chen ste­hen im Wed­ding auf Ände­rung. Die Wel­le ist schon zu sehen, das Surf­brett liegt bereit. Das heißt, noch sind mei­ne Kof­fer nicht gepackt, aber wenn es soweit ist, wer­de ich erneut irgend­wo ein­tref­fen. Vor der mich ver­fol­gen­den Ver­drän­gungs­wel­le. Bis dahin mache ich es mir wie ein Dau­er­cam­per gemüt­lich. Wenn es eine Hei­mat für mich gibt, dann ist es offen­bar die Welle. 


Zur Serie Unser Zuhause

Die­ser Absatz soll­te eigent­lich vorn ste­hen, ich habe mich vor­ge­drän­gelt und tische ihn dem Leser als Des­sert auf.

Wenn man lan­ge an einem Ort lebt, emp­fin­det man die­sen irgend­wann ganz selbst­ver­ständ­lich als Hei­mat. Den Wed­ding kön­nen nur die weni­ge sei­ner Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner als Geburts­ort ange­ben, die­ser Stadt­teil ist schon immer ein Ort der Ein­wan­de­rung und des Tran­sits gewe­sen. Wie­der ande­re Ber­li­ner sind hier auch nur gebo­ren, weil sich vie­le Kran­ken­häu­ser im Wed­ding befin­den, und haben nie im Stadt­teil gewohnt. Der Zuge­zo­ge­nen­at­las 2016 weist für den Wed­ding aus, dass über die Hälf­te sei­ner Bewoh­ner nicht in Ber­lin gebo­ren ist – nur rund um den Schil­ler­park lag die Quo­te der Ur-Ber­li­ner etwas höher. So ver­wun­dert es nicht, dass auch die meis­ten der Redak­ti­ons­mit­glie­der beim Wed­ding­wei­ser nicht aus der Regi­on Ber­lin-Bran­den­burg stam­men. In unse­rer Serie berich­ten wir von unse­ren Her­kunfts­or­ten – und war­um wir in unse­rem Stadt­teil Wur­zeln geschla­gen haben.

Bis­lang erschienen:

Dzień dobry, Wed­ding! – Oli­wia Nowa­kows­ka am 25. Dezem­ber 2020

Vom Speck­gür­tel in die Mit­te – Char­leen Effen­ber­ger am 15. Janu­ar 2021

Adé Prenz­l­berg, hal­lo Wed­ding! – Joa­chim Faust am 9. Janu­ar 2021

War­um ich in den Wed­ding zog – und hier so gern lebe – Samu­el Orsen­ne am 29. April 2021

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

1 Comment

  1. Lie­ber Andrei,
    als Ur-Wed­din­ge­rin und über­haupt kann ich nur mein Bedau­ern aus­spre­chen, wenn euch die Wel­le aus dem Wed­ding fort­trägt. Ich ver­ste­he es jedoch auf jeden Fall.
    Die Din­ge ändern sich und es ist klug, dar­auf zu reagieren.
    Einen son­ni­gen Tag im “noch” (?) schö­nen Wed­ding sen­det dir Susanne
    P.S. Ich wer­de immer noch komisch ange­schaut, dass ich im Wed­ding wohne. 🙂

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