“Dann sind Sie also ein Mietflüchtling”, fragte mich der Quartiersmanager. Das war weit vor 2015 und die Leute redeten damals so. Ausgedrückt werden sollte, dass ich in den Wedding gezogen war, weil ich mir Berlin nicht mehr leisten konnte. Denn der Wedding gehörte in diesen Jahren gefühlt nicht zu Berlin. So wie heute zum Beispiel der Schäfersee mit zugehörigem Reinickendorf Ost. Nicht nur Sprechgewohnheiten ändern sich, sondern auch der Lauf der Berliner Welt. Änderungen, die mich zum Mietnomaden machten.
Das Wort Mietnomade muss man heute erklären. Es war ein Kampfbegriff der Immobilienentwickler, die den Berlinern das Umziehen madig machen wollten. Motto: Reg dich nicht über steigende Mieten auf, bleib einfach da wohnen, wo wohnst. Muss man wirklich einmal pro Jahr umziehen? Antwort: Musste man nicht, aber konnte man. Ich bin viel umgezogen, allerdings nicht einmal pro Jahr. Das wäre mir dann doch zu anstrengend gewesen. Erst lebte ich allein, dann nahm eine Frau eine Beziehung mit mir auf, dann sagte ein Kind Papa zu mir, dann ein zweites. Es war üblich, solche Dinge zum Anlass für einen Umzug zu nehmen. Heute fragt man IKEA um Rat, wie man noch eine Person in die 50 Quadratmeter stopft. Allerdings gab es damals beim Wechsel der Wohnungen ein Problem. Es gab Stadtteile, die waren gentrifiziert, die fielen bei der Wohnungssuche aus. Also wechselte ich von der unsanierten Wohnung im Prenzlauer Berg in eine helle Wohnung im Friedrichshain. Und von dort nach Neukölln. Der Leser ahnt, was ich sagen will: Ich zog vor der Aufwertung her. Man könnte auch sagen: Die Stadtteile änderten sich und deshalb ging ich fort. Wurde zum Surfer vor der Hipwelle.
Aber bitte eines nicht unterschätzen! Solches Tun verlangte Geschick. Man musste in den Fingern spüren, wo zu wohnen gerade noch so ok war – und wo eine unbesprochene Grenze überschritten war. Viktoriaviertel hinter dem Bahnhof Ostkreuz? “Ja, da ist eigentlich auch schön, so viel tolle Altbauten und in Wahrheit ja auch nicht weit weg vom Boxi.” Dagegen Magdalenenstraße: “Oh…, hm, da kenne ich auch weit entfernt jemanden – … noch einen Milchkaffee?”
Mein Umzug in das Brunnenviertel, von dem ich nicht wusste, dass es so hieß, war eine Notlösung. Das spreche ich jetzt mal ehrlich aus. Wohnen im Wedding ging damals eigentlich gar nicht. Der Bezirk lag (man sagte trotz Verwaltungsreform weiterhin Bezirk Wedding) jenseits der peinlichen Grenze. Aber was sollte ich machen? Die Schule am Arkonaplatz war vom Vinetaplatz aus erreichbar. Und der Preis der Wohnung auf der einen Seite der Bernauer Straße passte ins Budget, auf der anderen nicht. Und es war im Grunde gar nicht so schlecht, dass immer alle dachten, ich spräche vom U‑Bahnhof Vinetastraße in Pankow. Ich bekenne, ich wohnte mit dem Rücken zum Wedding; mein Blick ging zum Prenzlauer Berg. In die andere Richtung zum Gesundbrunnen schaute ich nicht. Ich wusste nicht einmal, dass es den gibt.
“Wenn man lange an einem Ort lebt, empfindet man diesen irgendwann ganz selbstverständlich als Heimat.” Dieser Satz leitet viele Beiträge dieser Zuhause-Reihe ein. Ich glaube, so einfach ist es nicht ganz. Zumindest nicht bei mir. Ich erreichte irgendwann das Gefühl, ich kenne mich aus. Das kann ich bestätigen. Denn mein Geldgeber verlangte, dass ich mich mit dem Wedding beschäftige. Und auch mein Hobby brachte den abgehängten Stadtteil in mein Blickfeld. Wenn mein Archiv mich nicht trügt, begann ich 2009, Beobachtungen für Blogs wie den Weddingweiser zu notieren. Man könnte sagen, seit zwölf Jahren schaue ich mich im Kiez um. Und dadurch ist er mir vertraut geworden. Edgar Reitz würde sagen: zur zweiten Heimat. Meine erste Heimat (ich sage ausdrücklich nicht meine wahre Heimat) ist untergegangen. Sie liegt im Land Brandenburg. Ich kann zwar die geografischen Koordinaten meiner Kindheitsjahre aufsuchen, aber die dortige Gegend ist in den 1990er Jahren abgerissen oder umgebaut worden. Die Häuser, zwischen denen ich heranwuchs, gibt es so heute nicht mehr. Wohl dem, der das Glück hat, bei Bedarf in seinen Heimatort fahren zu können.
Ob der Wedding nun meine Heimat ist – oder sagen wir milder: mein Zuhause -, das kann ich schwer sagen. Ich bin nach wie vor ein Zugezogener. Würde mich nicht erdreisten zu sagen, ich bin ein Weddinger. Denn ich kenne Menschen, die viel länger hier wohnen. Manche sogar von Geburt an. Ich denke, es ist passiert, dass mein Leben eines eines Mieters ist. Und das ist ein Leben auf Zeit. Ich spüre, wenn der Moment dran ist, werde ich fortziehen. Die Zeichen stehen im Wedding auf Änderung. Die Welle ist schon zu sehen, das Surfbrett liegt bereit. Das heißt, noch sind meine Koffer nicht gepackt, aber wenn es soweit ist, werde ich erneut irgendwo eintreffen. Vor der mich verfolgenden Verdrängungswelle. Bis dahin mache ich es mir wie ein Dauercamper gemütlich. Wenn es eine Heimat für mich gibt, dann ist es offenbar die Welle.
Zur Serie Unser Zuhause
Dieser Absatz sollte eigentlich vorn stehen, ich habe mich vorgedrängelt und tische ihn dem Leser als Dessert auf.
Wenn man lange an einem Ort lebt, empfindet man diesen irgendwann ganz selbstverständlich als Heimat. Den Wedding können nur die wenige seiner Bewohnerinnen und Bewohner als Geburtsort angeben, dieser Stadtteil ist schon immer ein Ort der Einwanderung und des Transits gewesen. Wieder andere Berliner sind hier auch nur geboren, weil sich viele Krankenhäuser im Wedding befinden, und haben nie im Stadtteil gewohnt. Der Zugezogenenatlas 2016 weist für den Wedding aus, dass über die Hälfte seiner Bewohner nicht in Berlin geboren ist – nur rund um den Schillerpark lag die Quote der Ur-Berliner etwas höher. So verwundert es nicht, dass auch die meisten der Redaktionsmitglieder beim Weddingweiser nicht aus der Region Berlin-Brandenburg stammen. In unserer Serie berichten wir von unseren Herkunftsorten – und warum wir in unserem Stadtteil Wurzeln geschlagen haben.
Bislang erschienen:
Dzień dobry, Wedding! – Oliwia Nowakowska am 25. Dezember 2020
Vom Speckgürtel in die Mitte – Charleen Effenberger am 15. Januar 2021
Adé Prenzlberg, hallo Wedding! – Joachim Faust am 9. Januar 2021
Warum ich in den Wedding zog – und hier so gern lebe – Samuel Orsenne am 29. April 2021
Lieber Andrei,
als Ur-Weddingerin und überhaupt kann ich nur mein Bedauern aussprechen, wenn euch die Welle aus dem Wedding fortträgt. Ich verstehe es jedoch auf jeden Fall.
Die Dinge ändern sich und es ist klug, darauf zu reagieren.
Einen sonnigen Tag im “noch” (?) schönen Wedding sendet dir Susanne
P.S. Ich werde immer noch komisch angeschaut, dass ich im Wedding wohne. 🙂