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Über die Streupflicht in Berlin:
Ü60 Kolumne: Streuen oder fallen

15. Januar 2024
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Nun ist der Winter zurückgekehrt und wird uns in der wenigstens kommenden Woche weiterhin mit Temperaturen unter null heimsuchen. Viel Gesundheit, vor allem der gebrechlicheren Alten, hängt vom Streudienst ab und von den wiederholten Streuungen zur rechten Zeit. Was gerade so banal klingt ist, wird im Einzelfall eines Ausrutschers manchmal zu einem schweren Menschenschicksal. Ich weiß, wovon ich spreche: Ich stürzte selbst Anfang Dezember an der Seestraße abends an einer Fußgängerampel.

Es geschah an einer zuvor feuchten Stelle, die erst nach den Schneefällen bei null Grad gestreut worden war. In den folgenden Nächten mit Minusgraden um fünf bis sechs Grad fror es aber weiter und zwar tückisch direkt neben den mit Splitt gestreuten verharschten Wegebereichen. Darüber Neuschnee.

Nach fünf Operationen am Beinbruch auf dem Campus Virchow-Klinikum, unserer Charité vor Ort im Wedding, habe ich mir etliche Gedanken über die Streupflicht gemacht.

Die Streupflicht in unserer Stadt

Nach dem Berliner Straßenreinigungsgesetz (StrReinG) von 1978, einem Jahr mit Katastrophenwinter nicht nur im Osten Deutschlands, gibt es eine allgemeine Streupflicht der Anlieger von Wohnstraßen, während die großen Straßen und die Haltestellen durch die BSR beräumt werden. Die Anlieger sind verpflichtet, zwischen 7 und 20 Uhr mit abstumpfenden Mitteln und gegebenenfalls mehrfach zu streuen und Eis durch Hacken zu beseitigen. Gestreut werden müssen Wegbreiten von mindestens einem Meter, normalerweise eineinhalb Meter und bis zu drei Meter auf den Boulevards.

Aber, Hand aufs Herz: Reicht es in großen Städten wie Berlin, zu den üblichen Beamtenarbeitszeiten zu streuen, also die Wegezeiten ab bzw. bis sieben Uhr für Bürostarts ab neun Uhr und das abendliche Ritual des Tagesschau-Schauens zu schützen? Wie ergeht es den Mitarbeiter:innen und Schichtarbeiter:innen relevanter infrastruktureller Branchen (Kliniken, Medien, Polizei, BSR und auch Feuerwehr), die dem hohen Risiko nächtlicher Unfälle auf dunklen und selten besuchten Nebenstraßen ausgesetzt sind?

Um die Belange, Pflichten und Arbeitsverträge der Bürger:innen kümmert sich das Gesetz also nicht. Vielmehr wird ein eher altmodisches, ja obsoletes Tun und Lassen der heutigen Arbeitsteilung als Gesetzesgrundlage unterstellt, das man sogar als Diskriminierung systemrelevanter Berufe auslegen kann. Welche Ärztin oder welcher Tramfahrer möchte morgens um vier Uhr an vereisten Bordsteinkanten aus dem Wagen steigen oder noch im Hof auf huckeligen Baumwurzeln mit Ausrutschgarantie oder gleich vor der Haustür der Länge nach auf Kanten von Treppenstufen hinfallen?

Ein Risiko für eine überalternde Gesellschaft

Bewehrt sind diese eher weltfremden Regeln der Streuzeiten mit etlichen Strafen wie Ersatzvornahmen zu Lasten der Grundstückseigner und der Ahndung als Ordnungswidrigkeit. Gegebenenfalls droht auch das Einleiten eines Strafverfahrens und das Einklagen zivilrechtlicher Forderungen eines Opfers eines Unfalls vor der Haustür auf dem Gehweg vor dem Haus. Ein Gebäude, das sich in eine lange Kette von Grundstücken eines Blocks einreiht, und wo alle diese nebeneinander beheimateten Nachbarschaften geräumt und gestreut sein müssen, um einen Weg mit einem Ziel zu ermöglichen. Und inwieweit steht dieses Rausmogeln nach Strafezahlungen im Zusammenhang mit aktuellem Leid des Opfers und seiner Mitmenschen nach Knochenbrüchen und womöglich lebenslanger Folgeschäden an Leib, Leben und Karriere? Können wir uns solche allgemeinen Risiken in einer überalternden Gesellschaft noch leisten? Für stürzende alte Mitbürger:innen ist ein Ausrutscher oft der letzte Unfall im Rahmen einer bis dahin eigenständigen Lebensgestaltung.

Bisher haben wir noch kein Wort über das Blitzeis verloren. Im Unterschied zum Eisregen, der direkt als Eiskügelchen zur Erde fällt, bildet das Blitzeis wegen gefrorenen Bodens sofort eine zusammenhängende glatte Fläche. In diesen Tagen passierte es wieder, am Donnerstag, den 11. Januar rief die Berliner Feuerwehr spätnachmittags den Ausnahmezustand aus, weil sich weite Teile der Stadt in eine Eisfläche ohne Halt verwandelt hatten und bat darum, die Straße zu meiden. Am 18. Dezember 1997, ich kann mich genau erinnern, als ich meinen Sohn von der Schule abholte und ihn mit zwei unvermeidbaren Ausrutschern meinerseits heimbrachte; er hatte mir so galant sein Händchen gereicht, aber unterschätzt, dass ein sachtes Stubserchen schon genügte, um sich lang zu legen. An diesem Tag gab es in Berlin zwischen 13 und 22.30 insgesamt 1.600 Unfälle, die auch zu Knochenbrüchen führten, nur in den ersten drei Stunden ab 13 Uhr waren es bereits schon 900 Unfälle.

Fotos: Renate Straetling

Wie können sich die Bürger:innen besser schützen, denn auch das abstumpfende Überstreuen, und da haben die großen Straßen erst einmal Vorrang vor den Wohnstraßen, wenn man das Blitzeis kaum ahnen kann und das Glatteis und der Harsch nicht immer zeitig erneut überstreut werden? Ich selber fiel letztlich an einem Fußgängerüberweg, an der Neuschnee den tückischen Übergang verdeckte von Tage zuvor durch die Stadtreinigung mit Splitt abgestumpftem verharschten Schnee, der bei Nullgraden gefallen war, nahtlos überging in eine Eisfläche, die erst an den Folgetagen bei dann nächtlichen Minusgraden um fünf bis sechs Grad entstanden waren. Wer erkennt so etwas abends um 21:45 Uhr?

Als ich danach mit dem bald eintreffenden Rettungswagen ins Virchowklinikum kam und etliche Wochen Zeit hatte, über Glatteisgefahren und das Heilen von Knochenbrüchen nachzudenken - die Station war belegt mit solchen Patient:innen - habe ich die Streupflicht und die besonderen Nachteile unter die Lupe genommen.

Schwierige Manöver auf glatten Wegen

Es ist wirklich misslich, wenn an zum Beispiel nur einem einzigen Häuserblock mit vielleicht 4 x 10 Hausnummern, also 40 verantwortliche Anlieger bis 7 Uhr gestreut werden muss und jeder einzelne Hausbesitzer auf seine Weise mit den üblichen Mittel abstumpft oder Eis hackt. Es ist selbst bei solcher Behandlung ein für dort passierende Leute risikoreiches Herumeiern sondergleichen, wenn man von einem Grundstück zum nächsten unterschiedliche Untergründe vorfindet und manche Flächen vielleicht schon überfällig für erneute Überstreuung sind - oder gar mitten auf dem wichtigen Weg zu Erledigungen auch nur ein einziger Anlieger nicht streute. Geht es dann besser rückwärts oder doch weiter vorwärts mit mulmigeren Gefühlen im Bauch? Alleine die Vorschrift, eine Gehwegbreite von eineinhalb Metern zu garantieren kann sich begegnende Passanten wie junge Eltern mit Kindern und Gepäck und alte Menschen am Stock in schwierige Manöver bringen, sogar den gestreuten Weg zu verlassen, um aneinander vorbeizukommen.

Fotos: Renate Straetling

Ein Vorschlag zur Streupflicht

Ich will mich kurz fassen, mit meiner Idee, die ein Vorschlag zum Diskutieren für alle sein soll. Wäre es nicht viel effektiver, den Winterdienst häuserblockweise einzurichten und dafür in jedem Hausblock einen Schneeräumer und einen Streuwagen zu platzieren, so dass auch individuell vor- und nachgearbeitet werden kann und dann alle Menschen, auch Schichtdienstler:innen, sicher und pünktlich zur Arbeit kommen? Ein kleiner Streuwagen, per Hand zu führen, kostet ab 150 Euro, ein Streufahrzeug ab 1500 Euro. Was spricht dagegen, solche Geräte für alle Bezirke blockweise vorzuhalten und einen nötigen spontanen Einsatz, angepasst an die lokale Situation, auf den Wohnstraßen zu organisieren? Vielleicht organisiert durch Netzwerke von Engagierten und Nachbarschaften, die verantwortlich sind und wohnortnah die Streupflichten personell garantieren?

Alleine eine meinerseits sehr überschlägige Schätzung der Einsatzmittel könnte so aussehen: Wenn Berlin 333,4 Tausend Wohngebäude (Ende Dezember 2022) hat und jeder Block etwa durchschnittlich 30 Hausnummern aufweist, dann wären vielleicht 11.000 Ausrüstungen und Orte nötig, um Streugeräte und Personal vorzuhalten. Eine Millionensumme, die sich auf Dauer bezahlt macht und bei neu eingerichteter Versorgungsstruktur zu mehr Vertrauen, weniger Leid, Sicherheit für alle und guter Kommunikation im Kiez führen wird.

Wenn Hausgemeinschaften etwa 1500 bis 2000 Euro pro Jahr für ihren Winterdienst über die Betriebskostenabrechnungen zahlen, so wäre eine große Summe aufstellbar, wenn mehrere Mietergemeinschaften eines Häuserblocks zusammenfinden. Oder erscheint Ihnen dies für die Sicherheit im Winter utopisch? Ist das bezahlbar? Ist es uns das wert? Ist dies nicht die für unsere Gesundheit günstigere Lösung? Und für alle Beteiligten die vorteilhaftere Kommunikation?

Was meinen Sie dazu?

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Renate Straetling

Ich lebe seit dem Jahr 2007 in Berlin-Wedding, genauer gesagt im Brüsseler Kiez - und ich bin begeistert davon. Wir haben es bunt ohne Überspanntheit.
Jg. 1955, aufgewachsen in Hessen. Seit dem Jahr 1973 zum Studium an der FU Berlin bin ich in dieser damals noch grauen und zerschossenen Stadt. Mittlerweile: Sozialforschung, Projekte. Seit 2011 auch Selfpublisherin bei www.epubli.de mit etwa 55 Titeln. Ich verfasse Anthologien, Haiku, Lesegschichten, Kindersachbücher und neuerdings einen ökologisch orientierten Jugend-SciFi (für Kids 11+) "2236 - ein road trip in einer etwas entfernteren Zukunft" (Verlagshaus Schlosser, 28.11.22).-
Ich habe noch viel vor!
www.renatestraetling.wordpress.com

6 Comments

  1. Lieber Rolf!
    Danke für deine lieben Genesungswünsche. Es geht besser, ich bin stabiler, und ich freue mich jedes Mal aufs Neue über das Wunder einer Heilung.

    Zu deinem hier vorigen Kommentar möchte ich anfügen, dass mir tatsächlich - ich bin diplomierte Ökonomin - eine große städtische de-zentralisierte wirtschaftliche, gern genossenschaftliche Lösung für die Streupflichten nach Häuserblocks, auch im Sinne von Teil-Kiezen vorschwebt! Und mit KI lässt sich ein flächendeckender, detaillierter Einsatzplan sicherlich spielend aufbauen.
    Erstens ist es zig-fach günstiger als die Haus-Lösungen, zudem x-fach sicherer für alle Passanten und zweitens ließe sich - ich nehme das an - in jedem Block eine Parkfläche für solche Gerätschaften finden.
    Aber ein bisschen Recht hast du, was das Streuen der Innenhöfe angeht! Das könnte doch aber sozial verträglich mit solchen per Hand beweglichen Streuwagen eingerichtet werden. Man braucht im Winter zudem in den Höfen nur je eine Kiste mit Sand und Schaufel nahe der Hoftüren aufzustellen.
    Und im Rahmen dieser enormen Summen an gesparten Betriebskosten je Haushalt und Mietshaus sollte ein solches Modell auch professionalisiert werden - im Rahmen von saisonalen Minijobs und bezahlten Ehrenämtern.

    Das fände ich gerecht, gut und problemlösend!

  2. Liebe Renate, erst einmal wünsche ich dir gute Heilung deines Bruches. Üble Sache so was. Das kann lange daueren; merke ich gerade selber. 😉
    Zu deinem Vorschlag: Klingt gut, aber leider ist der Wedding nicht Stuttgart, wo es ja angeblich auch im Treppenhaus noch eine Kehrwoche gibt. Ein öffentlicher Streuwagen samt Schaufel würde wahrscheinlich bald das Schicksal der herrenlosen Einkaufswagen teilen. Und ehrlich gesagt, sehe ich auch keinen, der morgens früh aufsteht und freiwillig in die Kälte geht.

  3. Mein vierjahriger Sohn hat sich beim letzten Blitzeis auch mehrfach hingelegt und viel geweint.
    In meinen Augen funktioniert das Streuen im Wedding leider fast gar nicht. Wenn es nachmittag einmal regnet und Blitzeis entsteht, kann nicht am nächsten Tag nicht noch immer fast nirgendwo gestreut sein.

  4. Ein guter Bericht, der auch mal die Probleme der älteren Mitbürger aufgreift!
    Wäre schön, wenn diese Probleme auch der Fahrradfraktion bewusst würden, denn hier im Kiez wird die gesamte Verkehrsinfrastruktur nahezu komplett auf die mobile (junge) Generation abgestellt und die Belange der älteren Bevölkerung (z.B.mit Mobilitätseinschränkungen) ausser Acht gelassen!

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