Wie sah der Wedding um 1900 aus? Welche Infrastruktur gab es? Was war los in einer einzelnen Straße? Wie entwickelte sich der Wohnungsbau und wie wohnten die Menschen? Am Beispiel der Turiner Straße zeigt unsere Autorin Beginn, Entwicklung und Veränderungen von Wohnen, Leben und Arbeiten im „Arbeiterkiez“ auf.
Der Wedding um 1900
Um das Jahr 1900 lag der Wedding – 1861 in Berlin eingemeindet – am nordwestlichen Rand der Stadt. Hier sollte Wohnraum entstehen. Die Stadtverwaltung hatte Straßen bauen lassen, Straßennamen vergeben und Parzellen für die Bebauung mit Wohnhäusern aufgeteilt. Die Turiner Straße, nördlich der Müllerstraße gelegen, war noch nicht bebaut. Wo heute das Afrikanische Viertel, der Brüsseler- und der Sprengelkiez liegen, gab es ebenfalls schon ein Straßennetz, doch es stand dort noch kein einziges Haus.
Wie sah die Infrastruktur im Umfeld der Turiner Straße aus? Für das Seelenheil war auf jeden Fall gesorgt: Es gab die beiden Kirchen auf dem Leopoldplatz und die Dankeskirche (heute ein Neubau) auf dem Weddingplatz. Zudem gab es jede Menge Friedhöfe: den Garnisonsfriedhof an der Turiner Straße sowie die Friedhöfe an der Seestraße, der Müllerstraße, der Gerichtstraße und der Liesenstraße. Nördlich der Oudenarder Straße, wo heute das Evangelische Geriatriezentrum Berlin beheimatet ist, stand damals das Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhaus, dessen Grundstein 1890 der berühmte Arzt Rudolf Virchow (1821−1902) gelegt hatte. In unmittelbarer Nähe lag das evangelische Altenheim „Heiligegeist und St. Georg Hospital“, heute ein Seniorenwohnheim der Diakonie.
Wer aus der Mitte Berlins nicht zur Turiner Straße laufen wollte, konnte ein Stück des Weges fahren: Am Nettelbeckplatz gab es den Bahnhof Wedding an der Ringbahn; nahebei lag eine Markthalle. Höhere Bildungsansprüche – allerdings nur für Jungen – befriedigte das Lessing-Gymnasium an der Pankstraße; es war 1882 als “Städtisches Progymnasium für die Stadtteile Wedding und Gesundbrunnen” gegründet worden. Arbeitsplätze boten vor allem Unternehmen des Maschinenbaus, der chemischen und der elektrotechnischen Industrie, die sich südlich des Bahnhofs Wedding und in den Ortsteilen Gesundbrunnen und Moabit angesiedelt hatten: August Borsig, Louis Schwartzkopff oder Johann Wöhlert sowie Ernst Schering und die AEG (Emil Rathenau). Der Erholung diente der Humboldthain mit einem Spielplatz.
Mit der Reichsgründung im Jahr 1871 wurde Berlin Hauptstadt des Deutschen Reiches. Das zog viele Unternehmen an. Die brauchten Arbeitskräfte. Aus anderen Regionen kamen viele Menschen, die in ihrer vormaligen Heimat keine Zukunftsperspektive mehr sahen. In den 15 Jahren zwischen 1885 und 1900 verdoppelte sich die Bevölkerung im Wedding von 70.000 auf 140.000 Personen. Und diese Menschen brauchten Wohnungen. Wohnungsbau war also ein lohnendes Investment.
Bebauung, Eigentümer und Architektur in der Turiner Straße
Schauen wir uns als Beispiel die Turiner Straße an, die zwischen Nazarethkirchstraße und Seestraße liegt. Kurz nach 1900 begann hier die Bebauung, die 1930 abgeschlossen war. Die Nummerierung der Gebäude verlief zunächst fortlaufend. Die Nummern 1 bis 20 waren auf der Straßenseite mit den heute geraden Hausnummern. Die Nummern 21 bis 37 waren auf der Straßenseite mit den heute ungeraden Hausnummern. Nach vollständiger Bebauung mit 50 mehrgeschossigen, meist dreiflügeligen Wohnblöcken wurde die Nummerierung in der noch heute gültigen Weise – ungerade Hausnummern auf der einen, gerade Hausnummern auf der anderen Seite – geändert. Das Gelände des Garnisonsfriedhofs blieb bis heute als Freiluftschneise und Minipark erhalten.
Der Baustil der Kaiserzeit war durch zahlreiche, kleinteilige Fassadenornamente geprägt. In der Weimarer Republik schlugen sich die fundamentalen Umwälzungen der Nachkriegszeit auch in der Architektur nieder. Die beiden bemerkenswerten Beispiele des „Neuen Bauens“, der „Neuen Sachlichkeit“ in der Turiner Straße waren zum einen das imposante Kino „Mercedes Palast“ an der Ecke Utrechter Straße. Es wurde 1926 mit mehr als 1.900 Plätzen nach den Planungen von Fritz Wilms errichtet und bis in die 1960er Jahre als Filmtheater genutzt. Der Architekt Erich Reiss entwarf den Wohngebäudekomplex an der Turiner Straße 42–44/Ecke Amsterdamer Straße 17/17a, der sich durch Erker und große Sprossenfenster auszeichnet. Eigentümer der Häuser waren zumeist Privatpersonen. Manche Familien hielten die Immobilien Jahrzehnte in ihrem Besitz. Vereinzelt standen die Häuser auch im Eigentum von Wohnungsbaugesellschaften.
Wohnen in der Turiner Straße
Wie waren die Wohngebäude aufgeteilt und die Wohnungen eingerichtet? Am Beispiel des dreiflügeligen Gebäudes Turiner Straße 10 ist in der noch erhaltenen Bauakte aus dem Jahr 1906 zu erkennen, dass alle (damals) 43 Wohnungen über eine Küche verfügten. Es waren fast ausschließlich 1‑Raum- und 2‑Raum-Wohnungen. Einige wenige 3‑Zimmer-Wohnungen gab es nur im Vorderhaus. Sie verfügten, ebenso wie die 2‑Raum-Wohnungen dort über ein vollständig ausgestattetes Bad. Alle anderen Wohnungen hatten, bis auf drei 1‑Zimmer- Wohnungen im Erdgeschoss des Hinterhauses, eine eigene Toilette. Die Mieter, seltener Mieterinnen, kamen vor allem aus dem Handwerk, seltener aus der Arbeiterschaft, vereinzelt waren auch Kaufleute, Lehrer oder Rentner darunter. Um 1930 wohnte der Maler Otto Nagel im Haus. Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen erstmals auch Angestellte in das Wohnhaus Nr. 10 ein.
Wer in der Turiner Straße eine Wohnung gemietet hatte, konnte hier aber nicht nur wohnen, sondern auch einkaufen gehen, sich amüsieren oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Schon beim Bau der Häuser wurden die Erdgeschosse für Läden und Werkstätten eingerichtet. Bis in die 1990er Jahre hinein gab es viele Kaufleute, Dienstleister und Gewerbetreibende in der Turiner Straße, dann sank ihre Zahl bis heute stark herab.
Läden, Handwerker und Dienstleister in der Turiner Straße
1928 konnte man Bücher, „Kolonialwaren“ und Kohlen sowie Seifen und Tabakwaren erwerben. Ein Damen- und ein Herrenschneider, ein Installateur sowie ein Zimmer- und ein Malermeister boten ihre Fertigkeiten an. 1940 gab es fast 20 Läden und Gewerbe. Gleich drei Tabakhändler, eine Lebensmittel- und eine Milch-„Handlung“ sowie Geschäfte für Farben, Lacke und Düngemittel waren präsent. Noch immer gab es Schneider und einen Malermeister. Inzwischen hatten sich auch ein Ofenbaubetrieb und eine Schweißerei angesiedelt. Die 1950er Jahre spiegelten das „Wirtschaftswunder“ wider: Private Konsumwünsche nach Elektrogeräten, Rundfunkapparaten oder Kleidung konnten sich die Bewohner der Straße in der unmittelbaren Nachbarschaft erfüllen. Auch ein Arzt und ein Helfer in Steuersachen hatten hier ihre Praxen. In den Gebäuden der Turiner Straße 31–37 (heute nicht mehr existent) hatte die Elektrizitätsgesellschaft Sanitas seit den 1930er Jahren einen Produktionsstandort für Röntgen- und elektromedizinische Apparate. In den 1960er Jahren übernahm der Lebensmittelgroßhändler REWE den Gebäudekomplex. Dieses Jahrzehnt zeigt das quantitativ und qualitativ größte Angebot der Gewerbe: Ob Fisch- oder Fleischwaren, ob Blumen, Schmuck und Textilien oder Haushaltwaren und Möbel – die Kaufwilligen hatten die Wahl. Sie konnten außerdem die Dienste von Friseur, Fußpflegerin und Orthopädieschuhmacher oder Architekt, Rechtsanwalt und Sprachlehrer in Anspruch nehmen. Eine Gaststätte, die ihren Betrieb im Gebäude der Turiner Straße 50 eröffnet hatte, wandelte sich bis in die 1980er Jahre von einer „da da da Tanz- und Bierbar“ zum „Red Lightnight Club“. In den 1990er Jahren schließlich überwogen die Dienstleister, insbesondere aus körpernahen und Gesundheitsberufen: Neben Friseur, Fußpflegerin und Kosmetikerin boten Psychotherapeuten sowie ein Krankengymnast, ein Heilpraktiker und ein Hautarzt ihre Dienste an.
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Vielen Dank für den interessanten Artikel! Ich wohne seit April 1997 in der Turiner Straße (Vorderhaus) und habe mich schon oft gefragt, wie es hier wohl früher einmal ausgesehen hat. Das Haus ist innen noch sehr schön gestaltet, mit bunten Glasfenstern und Stuckreliefs im Treppenhaus, Stuck an einigen Zimmerdecken. Aber von außen sieht es leider langweilig aus, da entstuckt, wie so vieles nach derm 2. WK. Ich habe den Roman „Gott wohnt im Wedding“ gelesen und mir seitdem noch mehr vesucht, ein historisches Bild dieser Gegend zu machen.
Als ich hier einzog, gab es noch einen Blumenladen, einen Zeitungsladen und einen Laden für Armee- und „Indianer“bekleidung… Der niedliche kleine Friedhof und der Leo waren noch nicht zum Treffpunkt der Drogenszene verkommen, es gab noch einen großen „Minimal“-Supermarkt an der Ecke Utrechter Straße und noch keine Straßenbahn an der Seestraße, auch keine Ringbahn fuhr (wieder) am Bahnhof Wedding.
Für einen ehemaligen Weddinger ein sehr interessanter Beitrag
Die Hochzeitsfotos meiner Eltern entstanden vor der Friedhofsmauer des Garnisonsfriedhofes in der Müllerstr. Dort stand 1948 noch kein Haus