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Im Gespräch:
Vom Nadelöhr, das in die Zukunft führt

31. Juli 2023

Der­zeit, nein schon lan­ge Zeit gibt es Lite­ra­tur zur Wachs­tums­kri­tik. Unzäh­li­ge Til­tel ste­hen seit Jahr­zehn­ten dazu zur Ver­fü­gung. Die gro­ßen sozia­len Bewe­gun­gen in West­eu­ro­pa haben etli­che Mei­len­stei­ne gesetzt und For­de­run­gen gegen Kon­sum und Wachs­tums­zwang auf­ge­stellt. Aber wie steht es um die grund­sätz­li­chen sozi­al­phi­lo­so­phi­schen Erklä­run­gen, die wenn sie umfas­send sein wol­len, begrün­det auch die Men­schen vor Ort mit­neh­men. Ein Gespräch mit dem Wed­din­ger Sozio­lo­gen Tho­mas Kili­an über sei­ne sozi­al­phi­lo­so­phi­schen Thesen.

Tho­mas Kili­an auf einem Spa­zier­gang am Pan­ke­weg. Foto: Rena­te Straetling

Tho­mas, Du bist in vie­len Berei­chen wis­sen­schaft­lich und lokal­po­li­tisch tätig. Du orga­ni­sierst maß­geb­lich den Wed­din­ger Bür­ger­ver­ein Sol­di­ner Kiez e.V., führst auch bei ande­ren Ver­ei­nen die Kas­se, arbei­test bei For­schungs­pro­jek­ten rund um die ehe­ma­li­ge DDR mit und machst dort vor allem sta­tis­ti­sche Ana­ly­sen. Du initi­ierst und koor­di­nierst Selbst­hil­fe­grup­pen für psy­chisch Kran­ke, mischt Dich gele­gent­lich in die Kom­mu­nal­po­li­tik ein und hast dann auch noch Zeit, teils dicke sozi­al­phi­lo­so­phi­sche Wäl­zer zu schrei­ben. Wie kommt es zu so einer bun­ten Mischung?

Tho­mas Kili­an: Schon in mei­ner Diplom­ar­beit hat­te ich die Ver­ein­sei­ti­gung der Men­schen auf ein bestimm­tes Tätig­keits­feld und auf einen Erwerbs­be­ruf zum The­ma gemacht. Die Fest­le­gung auf eine bestimm­te Logik ist nach mei­ner gesell­schaft­li­chen Ana­ly­se ein zen­tra­les Pro­blem der Moder­ne, schafft spe­zi­fi­sche Spit­zen­leis­tun­gen, aber auch einen Tun­nel­blick und einen Man­gel an Flexibilität.

Gera­de die vor­geb­lich Gebil­de­ten wer­den schon in jun­gen Jah­ren dar­auf gedrillt, wirt­schaft­lich oder poli­tisch (und juris­tisch) oder mathe­ma­tisch-kogni­tiv (etwa in Wis­sen­schaft und Jour­na­lis­mus) oder ästhe­tisch und wer­tend zu den­ken. Jede die­ser vier Denk­per­spek­ti­ven, die bei mir für die vier wesent­li­chen gesell­schaft­li­chen Berei­che ste­hen, bean­sprucht teils tri­um­phie­rend, teils aus der Posi­ti­on der Unter­le­gen­heit die Führung.

Es ist immer schwe­rer, auf einen gemein­sa­men Nen­ner zu kom­men. Des­halb kann eine hilf­rei­che Theo­rie und ein wei­ter­füh­ren­des Bewusst­sein nur aus einer Pra­xis ent­sprin­gen, die sich bewusst auf ein dif­fe­ren­zier­tes Flick­werk unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ven ein­lässt. Ich bin durch mei­ne Behin­de­rung ein Stück weit in die­se Viel­falt hin­ein­ge­rutscht. Aber als mir die Dif­fe­ren­ziert­heit der Gesell­schaft bewusst wur­de, sah ich den Fli­cken­tep­pich nicht mehr als Belas­tung oder gar Blo­cka­de, son­dern als eine Mög­lich­keit der Ver­voll­komm­nung. Der uni­ver­sal gebil­de­te Mensch war zwar schon in der Klas­sik ein Ide­al, aber was das für mich heißt und was Uni­ver­sa­lis­mus in der moder­nen Gesell­schaft bedeu­tet, wur­de mir erst vor dem Hin­ter­grund mei­ner Gesell­schafts­theo­rie klar: Näm­lich statt durch die Best­leis­tung in einer bestimm­ten Brei­te und Ganz­heit­lich­keit zu glänzen.

Aber um die Fra­ge noch kon­kre­ter zu beant­wor­ten: Es hängt auch mit mei­nem eige­nen Lebens­lauf zusam­men. Ich bin mit Anfang 30 auf­grund einer (psych­ia­tri­schen) Behin­de­rung aus einer bür­ger­li­chen Kar­rie­re her­aus­ge­fal­len. Seit­her lebe ich rela­tiv beschei­den von einer klei­nen Ren­te, dem Ver­mö­gen mei­ner Fami­lie und gele­gent­li­chen frei­be­ruf­li­chen Aufträgen.

Das klingt nach einem erheb­li­chen phi­lo­so­phi­schen Über­bau. Was haben sol­che Über­le­gun­gen denn mit unse­rem Stadt­teil zu tun?

Tho­mas Kili­an: Der Über­bau steht nicht am Anfang der Ent­wick­lung, son­dern am Ende. Der Anfang, so sag­te einer mei­ner Leh­rer, hat immer etwas zufäl­li­ges. Nach mei­ner EU-Beren­tung im Jahr 1999 war ich auf mein unmit­tel­ba­res Umfeld zurück­ge­wor­fen. Es lag also nahe, erst ein­mal die­ses zu durch­drin­gen und sich prak­tisch ein­zu­brin­gen. Ich fand zunächst kei­nen Anschluss und grün­de­te eine „AG Kiez­for­schung“. Dort haben wir uns dann gegen­sei­tig bei uni­ver­si­tä­ren Abschluss­ar­bei­ten über den Sol­di­ner Kiez unter­stützt. Auch das bald fol­gen­de Enga­ge­ment im Sol­di­ner Kiez e.V. war nicht zuletzt von der Idee getrie­ben, mein Lebens­um­feld bes­ser zu ver­ste­hen. So bin ich dann in einen For­schungs­pro­zess gera­ten, der auch die umfas­sen­de Lek­tü­re anreg­te, und mich zu einer immer abs­trak­te­ren Kennt­nis der Gesell­schaft führ­te. Dies führ­te dann auch über das für den Wed­ding typi­sche Pro­blem von Ungleich­heit und Armut hin­aus, auch wenn ich die rea­len und men­ta­len Schwie­rig­kei­ten vor Augen habe, die Hier­ar­chien des 19. Jahr­hun­derts hin­ter uns zu lassen.

Tho­mas Kili­an an etli­chen sei­ner Orte des Lebens­mit­tel­punk­tes: bei einem Stra­ßen­fest in der Butt­mann­stra­ße, am Por­tal der Ste­pha­nusk­ri­che, an der Biblio­thek am Lui­sen­bad. Fotos: Rena­te Straetling

Dei­nen drei gro­ßen Büchern, ange­füllt mit umfas­sen­der Lite­ra­tur­ken­nt­nis, ist tat­säch­lich ihre Her­kunft aus unse­rem Stadt­teil Wed­ding nicht anzu­mer­ken. Mir wür­de es schwer fal­len, sie zusam­men­zu­fas­sen. Kannst Du uns einen kur­zen Über­blick geben?

Tho­mas Kili­an: Ein bös­wil­li­ger Kri­ti­ker hat ein­mal geschrie­ben, mei­ne Bücher klin­gen nach Selbst­ver­stän­di­gung. Da ist wohl auch etwas dran.

Das ers­te Buch „Gesell­schafts­bild und Ent­frem­dung“ (2017) lotet aus, wie man mit dem genann­ten dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schafts­bild mit den vier Berei­chen bes­ser zurecht kommt als mit einem hier­ar­chi­schen Gesell­schafts­bild mit sei­nem Oben und Unten. Die meis­ten Leu­te, die zum Bei­spiel die Klas­sen­ge­sell­schaft kri­ti­sie­ren, haben gar kei­ne rea­lis­ti­sche Alter­na­ti­ve zur Herr­schaft einer Eli­te. Und mit einem klas­sisch mar­xis­ti­schen Welt­bild fin­det man zudem eine Koope­ra­ti­on mit der evan­ge­li­schen Kir­che meist nicht sehr reiz­voll. Mit einem dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schafts­bild stie­gen bei mir die Ansät­ze und die Moti­va­ti­on, mich auch im Wed­ding einzubringen.

Das zwei­te Buch „Die Weis­heit der Sys­te­me“ (2021) ist einer­seits eine Abrech­nung mit einem Spruch eines ande­ren Pro­fes­sors, der immer sag­te: „Herr, lass Hirn reg­nen!“ Ande­rer­seits betont das ers­te Buch die Bedeu­tung von Wer­ten, die sich letzt­lich zu einer Uto­pie ver­dich­ten. Die Wis­sens­ge­sell­schaft war um die Jahr­tau­send­wen­de eine wesent­li­che post­so­zia­lis­ti­sche Uto­pie. Aber mit dem Wirt­schaft­s­crash 2008 trat der star­ke Staat und ein kon­ser­va­ti­ver, ja mili­tan­ter Keyn­sia­nis­mus erneut her­vor, wie wir ihn ja in der Nach­kriegs­zeit hat­ten. Eigent­lich ist die­ser his­to­risch eben­so durch­ex­er­ziert wie der soge­nann­te Neo­li­be­ra­lis­mus, der ja aus der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts stammt. Da schien mir es ange­bracht, die eigent­lich inno­va­ti­ve Uto­pie noch ein­mal aus­zu­tes­ten, auch und gera­de auf ihre Ambi­va­len­zen hin.

Der zwei­te Band steht zwar einer not­wen­di­gen Auf­wer­tung und grö­ße­ren Selbst­stän­dig­keit des Wis­sens­sys­tems (Wis­sen­schaft, Jour­na­lis­mus) posi­tiv gegen­über, aber eine domi­nan­te Rol­le die­ses Sys­tems, wie sie teil­wei­se Wirt­schaft und Poli­tik hat­ten, leh­ne ich ab. Mein Ide­al ist eine Balan­ce auf Augenhöhe.

War­um setzt du stark auf das Wis­sens­sys­tem im Gegen­satz zu oder neben Wirt­schaft und Politik?

Tho­mas Kili­an: Die Gesell­schafts­ge­schich­te lässt sich so rekon­stru­ie­ren, dass zunächst Poli­tik und Gewalt domi­nier­ten. Dann folg­te der Kapi­ta­lis­mus als wirt­schaft­li­che Ord­nung, der aber die Erwar­tung all­ge­mei­nen Wohl­stands sowohl von der Kapi­tal­kon­zen­tra­ti­on her als auch von den heu­te in den Vor­der­grund tre­ten­den öko­lo­gi­schen Kos­ten nicht erfül­len kann. Seit dem zwei­ten Welt­krieg haben wir im Wes­ten ein Wech­sel­spiel von Poli­tik und Wirt­schaft. Eine qua­li­ta­ti­ve Wei­ter­ent­wick­lung der Gesell­schaft inner­halb die­ses Wech­sel­spiels erscheint nicht vor­stell­bar. Dyna­mik ist also nur mög­lich, wenn das Pri­mat von Poli­tik und Gewalt sowie von Wirt­schaft und Kapi­tal durch ein wei­te­res Sys­tem ins Wan­ken gebracht wird.

Den Kul­tur­wis­sen­schaft­lern gebe ich aller­dings recht, dass mehr Geist allein kei­ne ganz ande­re Gesell­schaft her­vor­bringt. Die Lin­ke spricht dann eher von einer neu­en Regu­la­ti­ons­wei­se. Eine wirk­li­che Umwäl­zung wäre nicht zuletzt eine kul­tu­rel­le Fra­ge. Aber dafür sind die Vor­aus­set­zun­gen auf der Ebe­ne der Gesell­schaft noch viel schlech­ter als für eine Stei­ge­rung der Intel­lek­tua­li­tät. Aber mir kommt eben­falls mehr noch als die Kogni­ti­on die Wer­te­ver­mitt­lung und die Wer­te­bil­dung zu kurz. Reli­gi­on führt ohne­hin ein Nischen­da­sein, und Kunst und Kul­tur wer­den zur Unter­hal­tung statt zur Her­zens­bil­dung. Wer­te­un­ter­richt in der Schu­le riecht schnell nach Pro­pa­gan­da. Ein Intel­lekt, der sich sei­ner kul­tu­rel­len Begrenzt­heit nicht bewusst ist, droht zum Mons­ter zu werden.

Du hast Ende 2022 ein drit­tes Buch, das umfas­sen­de Essay „Die Weis­heit der Viel­falt“, Über eine Gesell­schaft jen­seits des Wachs­tums­zwangs beim Ver­lag wbv Media ver­öf­fent­licht. Womit erwei­terst du hier dei­ne Per­spek­ti­ve auf alter­na­ti­ve Optio­nen für unse­re Gesellschaft?

Tho­mas Kili­an: Das drit­te Buch „Die Weis­heit der Viel­falt“ (2022) geht von der Beob­ach­tung aus, dass ein Patch­work-Leben ein beschei­de­nes und damit öko­lo­gisch ver­träg­li­ches Leben sein kann, da es vie­le Mög­lich­kei­ten jen­seits des Kon­sums und der Maxi­mie­rung der Wirt­schafts­leis­tung bietet.

Als Hin­der­nis für die­se Art der Selbst­ver­wirk­li­chung sehe ich jedoch die Nei­gung der Sys­te­me, Lai­en und Nicht-Spe­zia­lis­ten, die jedoch in ande­ren Fach­ge­bie­ten Exper­ti­se haben, aus­zu­gren­zen oder gar im sozia­len, poli­ti­schen und betrieb­li­chen Enga­ge­ment aus­zu­beu­ten, statt ihnen eine ange­mes­se­ne Mit­wir­kung vor allem in Poli­tik und Wis­sen­schaft zu gewähren.

Mich beun­ru­higt Dein Aus­blick auf die Zukunft. Du sprichst einer­seits von einer mög­li­chen „Implo­si­on“, ande­rer­seits von „Trans­hu­ma­nis­mus“. Was hat es damit auf sich?

Tho­mas Kili­an: Sozia­le Sys­te­me haben die Ten­denz, in ihrer Kom­ple­xi­tät zuzu­neh­men. Wenn das nicht glückt, bre­chen sie mit­un­ter zusam­men. Vor allem in Latein­ame­ri­ka sind so vie­le Zivi­li­sa­tio­nen bis auf ein paar Arte­fak­te rest­los ver­schwun­den. Meist lös­te eine Über­nut­zung der Natur Was­ser­man­gel aus. Beim Zusam­men­bruch des west­rö­mi­schen Rei­ches gin­gen vie­le Wer­te und Kennt­nis­se ans euro­päi­sche Mit­tel­al­ter über, aber es dau­er­te 1000 Jah­re bis wie­der das alte Niveau erreicht wurde.

Haben wir eine sol­che düs­te­re Aus­sicht auch heu­te vor uns?

Tho­mas Kili­an: Eine sol­che Implo­si­on droht ange­sichts der öko­lo­gi­schen Kri­sen auch heu­te. Krieg, Seu­chen und Hun­gers­nö­te könn­ten die Mensch­heit auf ein Zehn­tel redu­zie­ren und die Zivi­li­sa­ti­on in ein neu­es Mit­tel­al­ter mit einer ein­deu­tig hier­ar­chi­schen Gesell­schaft zurückwerfen.

Der Trans­hu­ma­nis­mus löst die öko­lo­gi­sche Kri­se nicht durch ein Ein­damp­fen der Mensch­heit auf anti­quier­te Dimen­sio­nen, son­dern durch die Tech­ni­sie­rung der Welt und zudem des Men­schen selbst. Und das Kli­ma wird dabei nicht geret­tet, son­dern durch mensch­li­che Inter­ven­ti­on gemacht!

Der Mensch selbst wird gen­tech­nisch und durch Implan­ta­te (vor allem ins Hirn) ver­bes­sert, oder durch intel­li­gen­te Maschi­nen ersetzt. Die Erde ver­wan­delt sich in das Arte­fakt von Wesen, die eigent­lich kei­ne bio­lo­gi­schen Men­schen mehr sind, son­dern eine Art von Cyborgs.

Wie gehabt stellt sich die Fra­ge, ob die Schöp­fer die­ser Zukunft Zau­be­rer oder Zau­ber­lehr­lin­ge sind.

Wie kann eine heu­ti­ge Gesell­schaft gegen die­se Aus­bli­cke auf hybri­de Wel­ten, womög­lich durch KI gesteu­er­te Gesell­schaf­ten vorgehen?

Tho­mas Kili­an: Auf der Ebe­ne der Wer­te haben wir eine gewis­se Chan­ce, bewusst zu ent­schei­den, dass wir kei­nen unbe­grenz­ten Fort­schritt wol­len. Dazu müs­sen sich die Men­schen in den wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Fort­schritt ein­mi­schen, wie sie es zumin­dest in Deutsch­land in der Anti-AKW-Bewe­gung gemacht haben. Nur ist das bei der Bio­tech­nik und auch bei der Com­pu­ter­ent­wick­lung bis­her nicht gelun­gen. Bei der Koh­len­stoff­ver­bren­nung zah­len wir heu­te die Zeche, obwohl der Treib­haus­ef­fekt im Grun­de schon am Anfang des 19. Jahr­hun­derts bekannt war.

Damals hat sich die viel­fäl­ti­ge For­de­rung nach einem (teil­wei­sen) Stopp von wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schem Fort­schritt und einer bewuss­ten Gestal­tung der Gesell­schaft als eine legi­ti­me kul­tu­rel­le Ent­schei­dung nicht durchgesetzt.

Im dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schafts­mo­dell sind Künst­ler und kul­tu­rel­le Bewe­gun­gen zu sol­chen Anstö­ßen fähig und im Grun­de auch berechtigt.

Tho­mas Kili­an an der Pan­ke­brü­cke in der Sol­di­ner Stra­ße, an der Pank­stra­ße vor dem bekann­ten Mural und der Kir­che “St. Paul” und im Gar­ten des Hotel Big Mama, wo der Ver­ein Sol­di­ner Kiez e. V. bei gutem Wet­ter tagt. Fotos: Rena­te Straetling

In einer zukünf­ti­gen Welt bedeu­tet eine sol­che Brem­sung von Tech­no­lo­gie nicht nur die Ver­wirk­li­chung oder Bewah­rung bestimm­ter Ele­men­te eines guten Lebens, son­dern auch Leid für den Ein­zel­nen: Ich tra­ge etwa eine Bril­le, ein Hör­ge­rät und neh­me jeden Tag eine Hand­voll Pil­len, damit ich mei­ne fünf Sin­ne zusam­men­hal­ten kann. Tech­ni­ken auf dem Weg in den Maschi­nen­men­schen wer­den immer auch eine attrak­ti­ve Sei­te haben. Hyper­rei­che nut­zen heu­te schon gern die Diens­te von Leih­müt­tern, um sich selbst zu scho­nen und im höhe­ren Alter Kin­der zu bekom­men. Jedoch unan­ge­mes­se­ner Wider­stand gegen die Tech­ni­sie­rung von Mensch und Welt kann ande­rer­seits auch in eine Implo­si­on führen.

Das klingt ja furcht­bar! Was soll man da tun?

Tho­mas Kili­an: Die Wis­sen­schaft kann nur auf das Nadel­öhr ver­wei­sen, das vor uns liegt. Die letzt­li­chen Zie­le sind von Wert­ent­schei­dun­gen abhän­gig, die kul­tu­rell vor­be­rei­tet wer­den. Wir haben eher ein Zuviel an wirt­schaft­li­cher, poli­ti­scher und wis­sen­schaft­li­cher Ein­mi­schung in die Kul­tur. Ich bin daher vor­sich­tig mit Wer­tun­gen. Ich wun­de­re mich eher dar­über, wie die Unter­hal­tungs­in­dus­trie die­se Fra­gen auf ihre Art ver­han­delt, wäh­rend die Reli­gio­nen schwei­gen und eher bei gest­ri­gen Fra­gen wie Schei­dung oder Abtrei­bung Nach­hut­ge­fech­te füh­ren. Es scheint, dass die Kul­tur nicht in einer guten Ver­fas­sung ist, um über das evo­lu­tio­nä­re Schick­sal des homo sapi­ens zu befinden.

Wirst Du die­ses The­ma in wei­te­ren Stu­di­en vertiefen?

Tho­mas Kili­an: Erleb­nis­se und Erfah­run­gen in der Kom­mu­nal­po­li­tik haben mich bewo­gen, über Poli­tik und Ver­wal­tung in Ber­lin nach­zu­den­ken. Ich habe ja in der Ber­li­ner Zei­tung über Klün­gel und Miss­gunst im Bezirk Mit­te geschrieben.

Ich gehe im Moment davon aus, dass die Ver­ant­wort­li­chen sich gar nicht wirk­lich klar dar­über sind, was für einer Art von Orga­ni­sa­ti­on sie vor­ste­hen. Poli­ti­ker als Amts­lei­ter füh­ren die Mit­ar­bei­ter nach der auto­ri­tä­ren Logik einer Schrau­ben­fa­brik (a la Ford). Beam­te sehen sich als Exper­ten ihres Faches, denen mit­un­ter egal ist, wer unter ihnen Chef ist. Das Kli­ma im Bezirks­amt schwankt zwi­schen Ver­bis­sen­heit und einer fal­schen Har­mo­nie, die auf werb­li­ches Auf­tre­ten zielt.

Die abend­län­di­sche Vor­stel­lung von Demo­kra­tie wur­de im Abso­lu­tis­mus gebo­ren. Der Idee nach lässt sich der Volks­wil­le an der Spit­ze der hier­ar­chi­schen Büro­kra­tie ein­fül­len. Des­halb ist die Aner­ken­nung der Kom­pe­tenz der Ver­wal­tung ein Problem. 

Zumeist ver­zerrt sie den Wil­len des Sou­ve­räns und unter­höhlt die Iden­ti­tät von Staat und Bür­ger. Zwar haben schon vie­le ver­sucht, die­se Wunsch­vor­stel­lung von Demo­kra­tie zu ver­ab­schie­den. Aber sie muten dem Bür­ger eigent­lich immer zu, mit der Ent­täu­schung über die Unvoll­kom­men­heit des Sys­tems zu leben. Zumeist gelingt auch kei­ne posi­ti­ve Wür­di­gung der Ver­wal­tung. Ein Dia­log zwi­schen Ver­wal­tung und Bür­gern mag auf­wän­di­ger sein als gedacht, könn­te aber sowohl die Moti­va­ti­on der Staats­die­ner erhö­hen als auch die Wut der Bür­ger in ein bes­se­res Ver­ständ­nis der Man­nig­fal­tig­keit der kom­mu­na­len Auf­ga­ben verwandeln.

Hier besteht auch der Zusam­men­hang zur Welt­mis­si­on. Für die gro­ßen Fra­gen ist das all­ge­mei­ne Dis­kurs­ni­veau gern mal zu nied­rig. Die Ver­tre­tung kom­mu­na­ler Inter­es­sen könn­te hier ein güns­ti­ges Trai­nings­feld sein. Des­halb ist auch das Enga­ge­ment in der Nach­bar­schaft wich­tig: Es gilt, im Gespräch zu blei­ben. Nicht nur mit Leu­ten, mit denen man ohne­hin einig ist.

Tho­mas Kili­an, ich bedan­ke mich für die­ses Gespräch.

Fotos, Inter­view und Text: Rena­te Straetling

Zur Person: Thomas Kilian

Tho­mas Kili­an, Jg. 1966; auf­ge­wach­sen in Fran­ken; 1986 Abitur; 1988 bis 1995 Stu­di­um der Sozio­lo­gie mit den Neben­fä­chern Volks­wirt­schafts­leh­re, Poli­tik­wis­sen­schaft und Jour­na­lis­tik, Uni­ver­si­tät Ham­burg; im 33. Lebens­jahr für erwerbs­un­fä­hig erklärt wor­den. For­schend aktiv und prak­tisch enga­giert im Lebens­um­feld des Sol­di­ner Kiez im Ber­li­ner Wed­ding seit 2004.

Publikationen von Thomas Kilian

  • Kili­an, Tho­mas, Die Weis­heit der Viel­falt, 180 Sei­ten, Erst­erschei­nung: 22.12.2022, ISBN: 9783763973224
  • Kili­an, Tho­mas, Die Wahr­heit der Sys­te­me: Zur gesell­schaft­li­chen Kon­struk­ti­on von Wis­sen (Dis­kurs Phi­lo­so­phie), 423 Sei­ten, Erst­erschei­nung: 14.11.2021, ISBN: 978–3763967162
  • Kili­an, Tho­mas, Gesell­schafts­bild und Ent­frem­dung: Die Fol­gen unver­ar­bei­te­ter gesell­schaft­li­cher Kom­ple­xi­tät (Dis­kurs Phi­lo­so­phie), Athe­na Ver­lag, Erst­erschei­nung: 11. Mai 2017, ISBN: 978–3898966726
  • Außer­dem gibt es die genann­ten Bücher von Tho­mas Kili­an in fol­gen­den Biblio­the­ken (nicht alle über­all!): Staats­bi­blio­thek Ber­lin, Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek der FU, Ame­ri­ka-Gedenk-Biblio­thek (AGB), UB der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät, UB der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Ber­lin, UB der Katho­li­sche Hoch­schu­le Karls­horst, UB Pots­dam, UB der Ali­ce Salo­mon Hoch­schu­le, Ber­li­ner Stadt­bi­blio­thek (BStB)

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Renate Straetling

Ich lebe seit dem Jahr 2007 in Berlin-Wedding, genauer gesagt im Brüsseler Kiez - und ich bin begeistert davon. Wir haben es bunt ohne Überspanntheit.
Jg. 1955, aufgewachsen in Hessen. Seit dem Jahr 1973 zum Studium an der FU Berlin bin ich in dieser damals noch grauen und zerschossenen Stadt. Mittlerweile: Sozialforschung, Projekte. Seit 2011 auch Selfpublisherin bei www.epubli.de mit etwa 55 Titeln. Ich verfasse Anthologien, Haiku, Lesegschichten, Kindersachbücher und neuerdings einen ökologisch orientierten Jugend-SciFi (für Kids 11+) "2236 - ein road trip in einer etwas entfernteren Zukunft" (Verlagshaus Schlosser, 28.11.22).-
Ich habe noch viel vor!
www.renatestraetling.wordpress.com

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