Eine Fortsetzungsgeschichte von Ruben Faust und Nethais Sandt
Was bisher geschah: (Auzug aus: Folge 10: Der Spion)
Christian Sanghof sitzt am Kopfende des Tisches, die Papiere vor sich. Sein Herz klopft schneller als gewöhnlich, seine Hände schwitzen. Nervös schaut er immer mal wieder auf seine Armbanduhr. In wenigen Minuten würden die Bewohner der Müllerstraße 42 den Hof betreten, wo er den Tisch und ein paar Stühle aufgestellt hat. Er wünscht sich nur noch, die Zeit würde schneller vergehen, sodass er diese Hausversammlung endlich hinter sich hat. Vor seinem inneren Auge sieht er schon das laute Geschrei, den Protest, die wütenden Gesichter. Bauchschmerzen erschweren es ihm, aufrecht dazusitzen.
Er atmet ein letztes Mal tief ein und aus. Dann öffnet sich die Hoftür und Doro kommt , im Gefolge die Bewohner der Müllerstraße 42.
Jetzt
“Also”, sagt Christian und steht auf, “Herzlich willkommen zu unserer Hausversammlung.” Er geht eine Liste durch, um zu sehen, ob alle anwesend sind.
“Herr und Frau Arndt?”, fragt er. “Hier! Und wir sind…”, entgegnet Albert schnippisch, wird jedoch sofort von Christian unterbrochen. “Dankeschön. Lassen Sie mich erst meine Liste durchgehen? Herr Goctürk?” – Darauf bekommt er keine Antwort und murmelt genervt etwas, während er sich Notizen macht. Er geht die Liste weiter durch und fragt nach Phil, Doro und Herrn Brown. “Von der liebenswerten Frau Aigenheim weiß ich ja, dass sie da ist und wie ich sehe, ist auch Frau Faterl anwesend.” Doro schaut ihn böse an. “Der Grund, warum ich Sie hier heute herbestellt habe, ist…”, fängt Christian an, wird dann aber von Elena unterbrochen. “SIE WOLLEN UNS UNSEREN LEBENSRAUM WEGNEHMEN, UM MIT DEM GROSSEN GELD DAVON ZU KOMMEN! DAS LASSEN WIR UNS NICHT GEFALLEN, nicht wahr, Schatz? SO EINFACH WERDEN SIE UNS NICHT LOS!”, schreit sie und steht auf. Ihr Ehemann nickt und stimmt ihr applaudierend zu. Als sie vor ein paar Jahren hier hergezogen sind, haben sie gehofft, hier ihre kleine Tochter großziehen zu können. Ein Kino auf der anderen Straßenseite, die Tram und die die U‑Bahn direkt vor der Haustür, die Grundschule, die nur 10 Minuten zu Fuß entfernt ist: Die Müllerstraße 42 ist fast perfekt gewesen. Das wollen sich die beiden nicht wieder nehmen lassen.
“So extrem ist es gar nicht!”, argumentiert Christian. “Wie ist es denn dann?”, entgegnet Elena. Trotzig lässt sich sie in den Stuhl zurück fallen. “Der Plan ist es, das Dach zu renovieren. Schon allein deswegen sollten Sie für einige Zeit ausziehen. Anschließend renovieren wir den Rest.”, erklärt er. “Wir müssen ausziehen? Aber wo sollen wir denn hin?”, macht sich Melina Sorgen. Bisher hat sie eigentlich nur an ihrem Handy herumgespielt und war nur der Vollständigkeit halber da. Phil wirft einen sorgenvollen Blick in die Runde. “Und danach? Wir können uns eine viel höhere Miete nicht leisten!”, meint er.
Phil ist schon froh gewesen, dass er überhaupt eine so gut liegende und bezahlbare Wohnung gefunden hat. Monatelang hat er dafür in Bars und Cafés arbeiten müssen, ganz zu schweigen von der langen Suche nach einem Mitbewohner. Die Wohnung ist ideal, er hat keine Lust wegen einer Dachrenovierung rausgeschmissen zu werden. Er wirft Christian einen langen Blick zu und erkennt jetzt erst den Mann von vor zwei Wochen wieder. Natürlich.
“Das ist auch nicht direkt das Ziel. Natürlich würden wir die Mietverträge…”, – “Ick werd nich eenen Meter von hier wegjehen. Ick wohn’ hier, seit ich jeboren wurde.” Doro ging dieser Sanghof ganz schön auf den Keks. Jeder in diesem Haus ist sich bewusst, dass sie diese Wohnung, dieses Haus mit jedem kleinsten Meter und Millimeter auswendig kennt. Ihre ganzes Leben hat sich in diesem Haus abgespielt und sogar das ihrer Eltern vorher. Die Müllerstraße 42 ist beinahe so etwas wie eine Familientradition und sie denkt nicht daran, diese aufzugeben, aufgrund eines Daches, das jetzt schon ihr ganzes Leben über keinen einzigen Mucks von sich gegeben hat. Schlimmstenfalls würde sie sich an ihren geliebten Vasenschrank ketten und ihre Sherlock Holmes- Bücher nach jedem werfen, der ihr zu nahe kommt.
“Wir dürfen jetzt aber auch nicht zu hart sein.”, sagt Lisbeth. “Das Haus ist nicht im … besten Zustand und ein neuer Anstrich wäre bestimmt nicht das Schlimmste, was diesem Haus passieren könnte.” Sie hat sich bereits überlegt, dass sie zu Clara ziehen könnte, wenn die Umstände es so verlangen. So viel Zeit wie sie dort bereits verbringt, kann sie auch dort Miete zahlen, anstatt hier.
Doro schnaubt spöttisch auf und wirft dem Hausmeister einen aufforderndem Blick zu.
Dieser räuspert sich. Herr Sanghof hat diesen bittenden Blick aufgesetzt und wenn Herrr Brown sich jetzt wirklich gut ausdrückt, ist ihm die neue Arbeit so gut wie sicher. Das hier ist sein Moment. Das hier ist die Chance, aus seinem gescheitertem Leben hinauszubrechen und vielleicht doch irgendwann noch der Schriftsteller zu werden, den er schon immer hätte sein wollen. Er braucht das Geld.
“Meine Damen und Herren, das lässt sich doch alles auch ohne Geschrei klären..”, fängt er beschwichtigend an. “Das Dach ist in der Tat sehr alt und könnte eine Reparatur gut vertragen.”
“Ha!”, wirft Elena ein, “Sie sind der Hausmeister. Wieso haben Sie sich nicht gleich zu Anfang darum gekümmert?”
“Ein Dach zu reparieren braucht mehr als einen Mann.”, hält Herr Brown kühl dagegen. Das bringt Elena zum Schweigen.
“Also..”, führt Herr Brown seinen Gedanken fort. Er wirft jedem einzelnem einen kurzen Blick zu. “Sie haben die Wahl, ob Sie hier mit einem kaputtem Dach weiterleben wollen oder ob sie ausziehen, sich eine sichere Wohnung kaufen und dort eine schöne Zeit verbringen. Ich für meinen Teil finde, eine Renovierung könnte absolut nicht schaden.”
“Sacht der, der die Wohnung kostenlos zum Job bekommen hat.”, knurrt Doro. Sie scheint stark enttäuscht von ihm zu sein, was sie mit einem bitteren Blick ihm gegenüber betont. Die anderen sind mehr oder weniger verblüfft, dass der sonst so schüchtere, vor sich hinstotternde Mann in der Lage ist, klar und bestimmt seine Meinung zu äußern. Herr Brown tut es Doro gegenüber Leid, aber er würde sich nicht seinen Traum wegen einer Bande fauler Menschen wegnehmen lassen.
“Warum ich Sie alle eingeladen habe war, dass Sie ihre Meinung äußern können. Das haben wir jetzt hiermit gemacht.”, sagt Herr Sanghofer nach einer kurzen Pause und räuspert sich. “Ich werde ihre Meinungen in meine Entscheidung einbeziehen. Wenn jetzt nichts mehr zu sagen ist, würde ich diese Sitzung beenden.” Er wirft einen letzten Blick in die Runde verärgerter Gesichter. “Einen schönen Tag noch.”
Alle verlassen den Hof langsam und mit einem komischen Gefühl im Bauch. Albert spricht Christian noch einmal an und entschuldigt sich für den Ausraster seiner Frau. Zurück im Treppenhaus dreht sich Phil zu Melina um und sagt: “Ich habe keine Lust, eine neue Wohnung zu suchen. Unsere Wohnung ist gut so, wie sie ist.”
Melina seufzt und steckt ihr Handy zurück in ihre Jackentasche “Mach dir keine allzu großen Sorgen. Das wird schon. Selbst wenn wir plötzlich auf einer Matratze gegenüber einer Badewanne übernachten müssen oder, noch schlimmer, nicht genug Geld für eine Matratze haben und in eben dieser Badewanne schlafen, würde es mir nichts ausmachen.” Sie lächelt scheu. “Solange ich dich habe.”
Phil fasst sich dramatisch an Herz. “Das ist das schönste Liebesgeständnis, das ich jemals gehört habe.” Dann küsst er sie.
Achmed und Hakim, die die ganze Zeit über auf den Treppen gesessen und der Hausversammlung durch ein offenes Fenster gelauscht haben, sehen sich angewidert an und machen sich daran, schnell zurück in die Wohnung zu kommen. Was zu viel ist, ist zu viel.
Der Wedding. Endliche Weiten. Dies waren die Abenteuer der Bewohner des Wohnhauses in der Müllerstraße 42, die schon oft zuvor da gewesene Gentrifizierung bekämpfen und dahin gehen, wo schon viele Weddinger zuvor gewesen sind.
Die anderen Teile: (Folge 1: Das Fahrrad) (Folge 2: Die Wasserlache) ( Folge 3: Die Lehrerin) (Folge 4: Das Gefühl)(Folge 5: Die Aktivisten) (Folge 6: Der Blumenstrauß) (Folge 7: Die Party) (Folge 8: Der Plan) (Folge 9: Das Gespräch) (Folge 10: Der Spion)
Alle Figuren und Namen sind rein fiktional und jede Übereinstimmung mit der Realität ist nur zufällig.
Müller42 ist eine Weddingweiser-Textreihe von Ruben Faust und Nethais Sandt.