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Müller42 #3: Die Lehrerin

31. März 2020

Der Wed­ding. End­li­che Wei­ten. Dies sind die Aben­teu­er der Bewoh­ner des Wohn­hau­ses in der Mül­lerstra­ße 42, die schon oft zuvor da gewe­se­ne Gen­tri­fi­zie­rung bekämp­fen und dahin gehen, wo schon vie­le Wed­din­ger zuvor gewe­sen sind. 

Eine Wed­ding­wei­ser-Ori­gi­nal Fort­set­zungs­ge­schich­te. Geschrie­ben von Net­haïs Sandt und Ruben Faust. 

 

Was bis­her geschah: Melina (Musik­stu­den­tin) muss mit gro­ßem Schre­cken fest­stel­len, dass ihr Fahr­rad geklaut wur­de. Nach einer erfolg­lo­sen Suche durch den Wed­ding ent­schließt sie sich, einen Trost- Döner in “Moham­mads Döner Store” essen zu gehen. Dabei hört Moham­mad, Inha­ber des Döner­la­dens und all­seits bekann­ter “Mann des Ver­trau­ens”, ihren Sor­gen gedul­dig zu.  Der Haus­meis­ter Herr Brown küm­mert sich der­weil um die Was­ser­la­che, die er ver­se­hent­lich im Haus­flur erschaf­fen hat. (Fol­ge 1: Das Fahr­rad) (Fol­ge 2: Die Was­ser­la­che)
 

Ber­lin! Groß­stadt­er­leb­nis pur. Men­schen, Autos, Geschäf­te, die bis weit nach acht Uhr geöff­net sind, Clubs und Par­tys, die erst um Mit­ter­nacht rich­tig anfan­gen – und nicht, wie gewohnt, dann auf­hö­ren: Für Lis­beth ist es das alles auf jeden Fall wert, nicht ver­be­am­tet zu werden. 

Vor zwei Monaten

Lis­beth schaut aus dem Fens­ter des ICEs. Als klei­nes Kind ist sie schon ein­mal in Ber­lin gewe­sen, und natür­lich auch vor ein paar Wochen, als sie die Woh­nung besich­tigt hat. Aber zum ers­ten Mal wür­de sie jetzt auf Dau­er blei­ben. “Sehr geehr­te Fahr­gäs­te. Wir errei­chen in Kür­ze den Bahn­hof: Ber­lin Haupt­bahn­hof. Wir bedan­ken uns bei allen Fahr­gäs­ten ‚die hier aus­stei­gen, für ihre Fahrt mit der Deut­schen Bahn und wün­schen noch einen ange­neh­men Tag.” Syn­chron mit dem Ende der Ansa­ge ste­hen die meis­ten im Zug auf, um ihre Kof­fer vom Gepäck­fach zu heben. Lis­beth hin­ge­gen bleibt sit­zen. Ihr Ver­mie­ter hat­te ihr einen Geheim­tipp gege­ben, und sie wird noch bis Gesund­brun­nen fah­ren, von da aus käme sie viel bes­ser zu ihrem neu­en Zuhau­se. Im Gegen­satz zu den meis­ten hat sie jedoch auch kein Gepäck dabei. Die Möbel wür­den bereits da sein, weil ihr Vater für sie schon mal hin­ge­fah­ren ist, wäh­rend sie sich von ihrer Hei­mat ver­ab­schie­det hat, und alles bereit gemacht hat. Damals hat sie sich sehr dar­über gefreut. Im Zug rem­pelt jemand sie ver­se­hent­lich an, und reißt sie aus ihren Gedan­ken. Der Zug ist gera­de am Haupt­bahn­hof angekommen.

Nach eini­ger Zeit, die sie damit ver­bracht hat, dort­hin zu kom­men, erreicht sie end­lich das Haus. ‘42’ steht auf dem Haus­num­mern­schild, im Fens­ter links von der Haus­tür schaut eine alte Frau dabei zu, wie sie die Tür nicht auf­be­kommt. “De Neue aus­’m Drit­ten, wa?”, sagt die­se nach meh­re­ren Minu­ten des Nicht-Rein­kom­mens. Lis­beth nickt. “So doll de kannst zieh’n, dann den Schlüs­sel dreh’n. So müsst’s geh’n. Aber was weeß ick schon. Bin ja nur ne alte Schrul­le aus­’m Erd­ge­schoss.” Lis­beth folgt den Anwei­sun­gen, nicht davon über­zeugt, dass es so funk­tio­nie­ren wür­de. Über­ra­schen­der­wei­se geht die Tür dann doch auf. “Dan­ke schön”, bringt sie kurz her­vor und geht dann ins Haus.

Vor einem Monat

Das impo­san­te Gebäu­de von einem Gym­na­si­um nahe ihrer Woh­nung thront vor ihr in der klei­nen Neben­stra­ße.  Ihr Herz klopft ein wenig vor Auf­re­gung und sie schaut auf die Uhr – neun Uhr Drei­ßig – Also viel zu früh. Sie ist sich nicht sicher, ob das als Enthu­si­as­mus gewer­tet wer­den kann oder als Über­ei­fer, und ob das wirk­lich schlecht wäre. Sie geht in das Schul­ge­bäu­de. Im Moment ist gera­de Unter­richt und sie geht durch die lee­ren Gän­ge. In einer Ecke sieht sie ein paar Schü­ler ste­hen, die rau­chen. Die sehen sie kurz abwer­tend an, und beschäf­ti­gen sich dann wei­ter mit sich selbst. 

“Faterl. F – A – T – E – R – L”, buch­sta­biert sie der Sekre­tä­rin, die in ihrem völ­lig über­la­de­nen Kalen­der ver­sucht, den Ter­min mit dem Schul­lei­ter zu fin­den. “Ah. Da isses. Sie sind aber ganz schön früh da”, sagt die­se dann. “Ja. Ich bit­te um Ent­schul­di­gung.” – “Ach, nicht so schlimm. Ich den­ke, im Moment ist auch nichts los. War­ten Sie hier, ich gehe zu ihm.” Die klei­ne Frau steht auf und rennt durch die Tür hin­ter dem Tre­sen, vor dem Lis­beth gera­de steht. Eine Minu­te spä­ter kommt sie wie­der, hin­ter ihr steht ein gro­ßer Mann im Anzug. “Ah, Frau Faterl. Kom­men Sie doch mit.” Sie folgt ihm in sein gro­ßes Büro. Das Büro leuch­tet vor war­men Far­ben, mit eini­gen abs­trak­ten Gemäl­den an der Wand. Stau­nend schaut sie sich um. “Ich bin immer noch Kunst­leh­rer und hän­ge hier eini­ge Bil­der von mei­nen Schü­lern auf, wenn die­se sie nicht wol­len”, erklärt er kurz. “Set­zen Sie sich doch bit­te.” Wäh­rend er das sagt, greift sie sich einen der bei­den Stüh­le vor sei­nem Schreib­tisch, “Also. Ich habe in Ihren … Ich habe mich ja noch gar nicht direkt vor­ge­stellt. Ich weiß – Sie ken­nen mich schon aus den E‑Mails, aber wenn man sich per­sön­lich sieht, dann ist das noch was ganz ande­res. Rentzhei­mer. Hans Rentzhei­mer. Wie gesagt, habe ich in Ihren Unter­la­gen gese­hen, dass sie in Bay­ern auf­ge­wach­sen sind, Jahr­gangs­bes­te an ihrer Schu­le waren und in Bay­reuth mit dem best­mög­li­chen Ergeb­nis ihr Stu­di­um been­det haben. Darf ich fra­gen, war­um es sie dann nach Ber­lin – und eigent­lich viel schlim­mer noch in den Wed­ding – ver­schlägt?” Über die­se Fra­ge hat sie sich in den letz­ten Mona­ten kaum Gedan­ken gemacht. Sie hat nicht erwar­tet, eine Ant­wort geben zu müs­sen. “Ich habe als Schü­le­rin…”, sie ist nicht gut im Impro­vi­sie­ren und stot­tert vor sich hin, “Also, ich mei­ne damit…” Sie seufzt ein­mal tief. Ehr­lich­keit ist der rich­ti­ge Weg. “Mein gan­zes Leben lang woll­te ich nach Ber­lin kom­men und dann dach­te ich, dass mir im Wed­ding bestimmt nicht lang­wei­lig wird”, sag­te sie dann. Das ist zwar gelo­gen – eigent­lich gehr es ums Nacht­le­ben und dass sie hier viel­leicht end­lich sie selbst sein könn­te und nicht in Sicht­wei­te ihren Eltern wohnt. Aber das kann man so ja nicht ein­fach in einem Vor­stel­lungs­ge­spräch sagen. Lügen ist das, was hier erwar­tet wird. 

“Gut, dann sehe ich Sie Mon­tag im Leh­rer­zim­mer. Sie wer­den vor­erst mit Frau Schu­bert Mathe­ma­tik unter­rich­ten und sich eine Zeit lang anse­hen, wie das denn läuft und dann zum neu­en Halb­jahr im Febru­ar Frau Schu­berts Kur­se über­neh­men – die­se geht näm­lich in Ren­te.”, sagt er abschlie­ßend und wünscht ihr noch einen schö­nen Tag.

Illus­tra­ti­on: Net­hais Sandt

Heu­te

Sie kommt im gro­ßen Leh­rer­zim­mer an und begrüßt eini­ge ihrer Kol­le­gen, wie es inzwi­schen Rou­ti­ne gewor­den ist. “Na? Schö­ne Feri­en gehabt, Lis­beth?”, fragt Bernd. Bernd ist ein ande­rer Mathe­ma­tik- und Phy­sik­leh­rer, mit dem sich Lis­beth im letz­ten Monat beson­ders gut ver­stan­den hat – auch wenn die­ser schon eini­ge Jah­re län­ger an die­ser Schu­le ist. Sie sieht ihn ein wenig wie einen Men­tor, viel mehr als Frau Schu­bert, die die­se Rol­le zuge­schrie­ben bekom­men hat­te. Heu­te wäre ihre ers­te Stun­de, in der sie allei­ne unter­rich­tet. “Zu lang”, ant­wor­tet sie. Das hal­be Kol­le­gi­um, das ihre Ant­wort gera­de gehört hat, wird erst still und lacht dann, als hät­te sie einen wirk­lich guten Witz erzählt. “Ganz ehr­lich, wenn ich nicht ver­be­am­tet wäre, wür­de ich nie wie­der hier­her­kom­men.”, ruft einer von wei­ter hin­ten. Ihren Ehr­geiz ver­ste­hen die wenigs­ten. Sie lacht kurz mit, um zu zei­gen, dass es ein Witz war, obwohl sie die­se Aus­sa­ge doch sehr ernst gemeint hat. “Nun gut. Hier hast du jetzt auf jeden Fall dei­nen eige­nen Schreib­tisch”, sagt Bernd und zeigt auf einen Tisch, auf dem immer noch eine gol­de­ne Pla­ket­te mit der Auf­schrift: “Sabi­ne Schu­bert” – über­klebt mit “L. Faterl” – zu erken­nen ist. Sie legt ihre Sachen dar­auf ab. Herr Rentzhei­mer kommt in das Leh­rer­zim­mer und fängt an, sei­nen Wochen­plan laut vor­zu­stel­len. Das macht er jede Woche. Eine klei­ne Rede hal­ten, in der er den Leh­rern sagt, ob irgend­was die­se Woche statt­fin­det. Doch meist ist es nur ein auf­mun­tern­des Wort wie “Ihr macht gute Arbeit” und Lis­beth ist sich nicht sicher, ob er damit sich oder alle ande­ren anlügt. Die Schü­ler dre­hen nach und nach immer mehr am Rad. Es klin­gelt zum Glück rela­tiv schnell zum Unter­richts­be­ginn und die Leh­rer strö­men zu den Klassenzimmern.

“Guten Mor­gen, 9 A”, begrüßt sie ihren Mathe­kurs, den sie sich vor­her mit Frau Schu­bert geteilt hat. Die Klas­se, die noch halb schläft, gibt nur ein müdes “Hal­lo” zurück. “Okay. Also, jetzt, wo Frau Schu­bert dau­er­haft in Ren­te gegan­gen ist, wer­de ich euch ab heu­te allei­ne unter­rich­ten. Und wir fan­gen heu­te mit einem neu­en The­ma an.” Sie schreibt das The­ma “Daten und Zufall” an die Tafel und eine Buch­sei­te. “Wir wol­len aber nicht mit einem neu­en The­ma anfan­gen”, ruft einer von ganz hin­ten. Sie dreht sich zu den Schü­lern zurück. “Wie bit­te?” fragt sie, obwohl sie genau ver­stan­den hat, was gesagt wur­de. “Wir. wol­len. nicht”, ruft die­ser Schü­ler noch­mal. Leon. Ein­mal ist sie ihm auf der Stra­ße begeg­net. Daher weiß sie, dass er eini­ges mit Hakim und Ahmed zu tun hat, die im glei­chen Haus wie sie woh­nen. “Damit wirst du dich jetzt aber abfin­den müs­sen. Sei­te 84.” – “Was wenn nicht?” pro­vo­ziert er, “Ich ver­wei­ge­re ein­fach, dass ich hier mit­ma­che. Und Sie kön­nen nichts dage­gen tun.” Sie kann dabei zuse­hen, dass eini­ge ande­re Schü­ler anfan­gen ihm zuzu­stim­men und ein dia­bo­li­sches Lächeln unter­drü­cken müs­sen.  “Dann hal­te wenigs­tens nicht die ande­ren davon ab”, ver­sucht sie Leon ruhig zu krie­gen. “Wenn er nicht mit­ma­chen muss, mache ich auch nicht mit!”, sagt ein ande­rer Schü­ler. “Ich auch nicht”, rufen immer mehr. Leon lehnt sich zufrie­den zurück. Unter Frau Schu­bert haben sich alle Schü­ler immer benom­men. Sie hat­te sich schon gefragt, wo der Haken an einer so bra­ven Klas­se war: Sie waren nur bei Frau Schu­bert so. Sie ist sich nicht sicher, wie sie jetzt mit dem Unter­richt fort­fah­ren soll. Auf sowas wer­den ange­hen­de Leh­rer in der Uni ja nicht per­fekt vor­be­rei­tet. Vor allem nicht in Bay­ern. “Auch Leon wird mit­ar­bei­ten. Alle arbei­ten jetzt mit! Sei­te 84. Auf­schla­gen.” Nur ein paar weni­ge Schü­ler tun ihr nach, die rest­li­chen schau­en erst zu ihr, dann zu Leon. Der Anfüh­rer ihrer klei­nen Revo­lu­ti­on. Die­ser lehnt sich genüss­lich nach hin­ten und macht nichts.

Als sie end­lich nach Hau­se kommt, will sie sich sofort ins Bett legen. “Das kann ich nicht jeden Tag durch­ma­chen”, denkt sie dann.Da hört sie Stim­men aus dem Haus­flur kom­men. “Wal­lah, die­se neue Leh­re­rin ist rich­tig die Bitch. Und die kann gar nichts. Dumm wie Brot. Alter, du glaubst das nicht. Ich mach die so fer­tig.” Sie erkennt Leons Stim­me und beschließt kur­zer­hand, ihren Müll run­ter­zu­brin­gen. “Mit ihrem bescheu­er­ten Namen soll die Olle mal wie­der nach…”, er stoppt, als er sei­ne neue Leh­re­rin die Trep­pe ent­ge­gen­kom­men sieht. “Was machst du denn hier?”, fragt sie ihn und lächelt ihn über­freund­lich an.

Fort­set­zung folgt!

Alle Figu­ren und Namen sind rein fik­tio­nal und jede Über­ein­stim­mung mit der Rea­li­tät ist nur zufällig.

Müller42 ist eine Wed­ding­wei­ser-Text­rei­he von Ruben Faust und Net­hais Sandt. Sie wird immer diens­tags und frei­tags weitergeführt.

 

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