Der Wedding. Endliche Weiten. Dies sind die Abenteuer der Bewohner des Wohnhauses in der Müllerstraße 42, die schon oft zuvor da gewesene Gentrifizierung bekämpfen und dahin gehen, wo schon viele Weddinger zuvor gewesen sind.
Eine Fortsetzungsgeschichte von Ruben Faust und Nethais Sandt
Alle bisherigen Folgen zum Nachlesen: (Folge 1: Das Fahrrad) (Folge 2: Die Wasserlache) ( Folge 3: Die Lehrerin) (Folge 4: Das Gefühl)(Folge 5: Die Aktivisten) (Folge 6: Der Blumenstrauß) (Folge 7: Die Party) (Folge 8: Der Plan) (Folge 9: Das Gespräch)
Christian Sanghof ist vom Beruf her Hausverwalter. Er ist sich nicht sicher, wo genau im Leben er falsch abgebogen ist, dass er sich jetzt an diesem Punkt wiederfindet. Aber er wird gut bezahlt, er kann für Frau und Kind sorgen und das Allerwichtigste: Er, der schon von Kind auf immer als Außenseiter gesehen und gemobbt wurde, kann jetzt mit Ende vierzig seine volle Autorität ausüben. Die Bleibe von vielen Menschen hängt von ihm und seiner Entscheidung ab. Und die Müllerstraße 42 muss schon lange renoviert werden. Sehr lange. Noch bevor die alte Dame im ersten Stockwerk geboren wurde. Er fühlt sich, gelinde gesagt, geehrt.
Was Christian jedoch aus seiner Kindheit gelernt hat, ist, dass nicht viele Menschen gerne nach der Pfeife von anderen tanzen. Er kennt das brodelnde Gefühl im Inneren, das Verlangen, sich der höheren Macht zu widersetzen, eine Revolte zu starten, die Weltherrschaft an sich zu reißen und besser, gütiger, gerechter zu regieren. Als Kind hat er dafür immer eine runtergehauen bekommen. Es hat ihn nicht davon abgehalten, weiterhin Rachepläne zu schmieden.
Und genau das möchte er jetzt im Bezug zur Müllerstraße 42 vermeiden. Er ist die höhere Macht, die Bewohner der Müllerstraße 42 hingegen die Kinder, die sich ungerecht behandelt fühlen. Er ist besser als die Mobber von früher. Er kann das diplomatisch regeln. Ohne Gewalt.
Sein Plan sieht vor, die Bewohner der Müllerstraße 42 für sich zu gewinnen, den Konflikt friedlich zu lösen, soweit das nun einmal geht. Christian ist sich bewusst, dass es nicht einfach werden würde, die Mieter davon zu überzeugen, wie toll es doch wäre, sich eine neue Wohnung in Berlin zu suchen. Aber er würde sein Bestes versuchen.
Vor drei Wochen
„Guten Tag! Mein Name ist Christian Sanghof!“, begrüßt er die alte Dame am Fenster. Diese wirft ihm einen misstrauischen Blick zu. Ihr Blick wandert immer wieder zur Haustür, als würde sie in jedem Moment erwarten, dass er aus seiner Tasche eine Bombe holt und sie ihr auf die Fußmatte legt. „Doro!“, schnauzt sie einige Sekunden später zurück. „Man nennt mich Doro.“
Er hebt die Augenbrauen. Seine Zunge fährt nervös über seine Unterlippe. Doro würde ein schwieriger Brocken werden. „Ich bin hier gerade lang gelaufen…“, fängt er an zu erklären, „… und habe mich an dieses Haus hier erinnert. Es soll ja demnächst neu renoviert werden oder…?“
Doro schnaubt. „Dit is absoluter Unsinn. Dachrenovierung haben’se jesacht. Ick gloob ooch…“ Sie zeigt ihm den Vogel. „Die wollen uns alle rausschmeißen! Aber wissen se watt? Ick leb hier jetz’ mein janzes Leb’n. Mich kriegen’se hier nich raus“. Ganz, ganz, schwieriger Brocken.
„Aber stellen Sie sich doch vor, wie schön es wäre, zu der Familie zu ziehen…“, beharrt Christian, „.. ein neues Leben zu beginnen. Woanders.“
Die alte Dame guckt ihn jetzt misstrauisch an. „Wer sind se denn, dass se dit interessiert, hm? Am Ende sind’se der Hausverwalter!“ Touché. Christian zuckt mit den Schultern und macht sich dran, schnell weg zu kommen, den bohrenden Blick Doros im Rücken.
Vor zwei Wochen und drei Tagen
Christian Sanghofer sitzt draußen und wartet darauf, dass ein Mieter der Müllerstraße 42 das Haus verlässt. Er muss nicht lange warten, denn nur wenige Minuten, nachdem er sich hingesetzt hat, stürmt ein junger Mann aus dem Haus heraus. Seine schwarzen Locken stehen wild vom Kopf ab, er hat einen gehetzten Ausdruck in den Augen. Christian ist sich sicher, dass das einer der Studenten sein muss, die ganz oben links wohnen. „Guten Tag!“, begrüßt er den Mann. „Mein Name ist Christian Sanghofer!“
Der Student bleibt verwirrt stehen. Dann stellt er sich als Phil vor. „Sie sehen sehr gestresst aus“, beginnt Christian das Gespräch. Phil schüttelt den Kopf und lacht gekünstelt auf. „Ach was! Mir ist nur eben was Dummes passiert. Hat was mit dem Rad meiner Mitbewohnerin zu tun.“
Christian nickt verständnisvoll, obwohl es ihn herzlich wenig kümmert. „Soso. Ich bin hier gerade lang gelaufen, und habe die Müllerstraße 42 wiedererkannt. Soll doch demnächst renoviert werden, oder..?“
Phil kratzt sich am Kopf. „Ach ja, da war ja was.. Ist schon doof für uns. Ich bin Student, wissen Sie. Man findet nicht oft eine so gut liegende und vor allem bezahlbare Wohnung.“
„Es gibt doch Studentenwohnheime, oder…?“
„Ich weiß nicht so ganz… Sind Sie an einer Wohnung interessiert?“ , fragt Phil leicht irritiert. Christian beschleicht der leise Verdacht, dass es vielleicht doch eine gute Entscheidung gewesen ist, Hausverwalter zu werden. Als Spion eignet er sich denkbar schlecht.
„Nein, nein…“, er winkt ab. „Bin nur neugierig gewesen.“
Phil nickt, meint dann, er würde sich einen Döner holen gehen und verschwindet.
Vor zwei Wochen
„Aber dann mussten die Bleirohre ausgetauscht werden, sie haben das ganze Haus saniert und die Möglichkeit gleich genutzt, um die Wohnungen danach als Eigentumswohnungen zu verkaufen“, hört Christian nur wenige Meter weiter eine Frau erzählen. Er wirft ihr einen Blick über den Spielplatz hinweg zu. Sein Sohn spielt gerade mit anderen Kindern, ein paar Minuten der Unaufmerksamkeit werden nicht seinen Tod bedeuten. Außerdem entdeckt er jetzt neben der Frau einer seiner Mieter. Frisch aus Prenzlauer Berg, wenn es ihm richtig einfällt. „Das ist ja ein Ding“, sagt dieser. „Bei uns gab es auch gerade ein Schreiben, das darauf hinweist. Ich mache mir echt Sorgen.“ Das Schreiben hat er, Christian höchstpersönlich, abgeschickt. Es macht ihm Sorgen, dass die Bewohner der Müllerstraße 42 es so schlecht aufnehmen. „Am Samstag ist am Leopoldplatz eine kleine Demo gegen Gentrifizierung geplant… Also wenn Sie mitkommen möchten?“
Christian steht auf und ruft den Namen seines Sohnes. Die Wendung der Dinge bereitet ihm Bauchschmerzen.
Vor einer Woche
„Was halten sie von der kommenden Hausversammlung?“, fragt Christian Sanghofer Frau Faterl. Diese steht am Türrahmen, etwas verwirrt, den Hausverwalter persönlich vor ihrer Tür stehen zu sehen. Christian hat es mittlerweile aufgegeben, sich eine Tarnung überlegen zu wollen. Von seinen bisherigen Kenntnissen her sind alle im Haus absolut gegen die Hausrenovierung und Hausneuvermietung – wer kann es ihnen verübeln? Er selbst sieht der Hausversammlung mit Schrecken entgegen.
„Ich weiß nicht…“, meint Frau Faterl zögerlich, „Ich wohne erst seit vier Monaten hier. Und ich kann es nachvollziehen, dass sie das Haus renovieren wollen. Es wirkt schon etwas… alt.“
Christian spürt einen Hoffnungsfunken in sich aufleuchten. Er kann es kaum glauben. Stößt er da wirklich auf Zustimmung? Er drückt den Rücken durch. „Das freut mich sehr, Frau Faterl! Endlich jemand, der derselben Meinung ist wie ich.“
„Und im schlimmsten Fall kann ich auch zu meiner Freundin ziehen, während sie das Dach renovieren“, führt die Frau ihren Gedanken fort. „Allerdings muss ich das noch mit ihr besprechen.“
Frau Faterl lächelt. „Hat das Ihre Frage beantwortet?“
„Aber natürlich. Ihnen noch einen schönen Tag!“
Vor drei Tagen
„Hören Sie…“ Christian hebt überrascht die Augenbrauen, als ihm der Hausmeister auf die Schulter tippt. Tatsächlich ist er ein letztes Mal hergekommen, um sich auf die Hausversammlung mental vorzubereiten. Niemals im Leben hätte er damit gerechnet, dass ihn jemand ansprechen würde.
„Sie arbeiten in der Hausverwaltung, oder?“, fragt Herr Brown mit einem britischem Akzent.
Christian räuspert sich und nickt dann. Worauf will der alte Mann hinaus?
„Ich bin bereit, sie in der Hausversammlung ein wenig zu unterstützen…“, murmelt Herr Brown nervös, „… wenn sie mir einen Arbeitsplatz in ihrer Firma zusichern können.“
Ah, daher weht der Wind. Christian überlegt kurz. Er ist der Hausverwalter, an sich kann es ihm gestohlen bleiben, was die Bewohner über ihn denken und wollen. Die letzten Tage haben ihm nur zu gut bewiesen, dass es unmöglich ist, sie mit Diplomatie umzustimmen. Aber es würde die Versammlung doch deutlich erträglicher machen, wenn zumindest noch eine weitere Person auf seiner Seite ist. Solange er Herrn Brown also nur in dem Glauben lässt, er hätte einen sicheren Arbeitsplatz…
„Ich werde sehen, was ich tun kann“, antwortet er dem Hausmeister mit einem aufgesetztem Lächeln. Herrn Browns Gesichtszüge erhellen sich schlagartig. Enthusiastisch umfasst er die Hände von Christian, bedankt sich mehrere Male und geht dann pfeifend davon.
Christian Sanghof atmet tief ein und aus. Noch drei Tage.
Jetzt
Christian Sanghof sitzt am Kopfende des Tisches, die Papiere vor sich. Sein Herz klopft schneller als gewöhnlich, seine Hände schwitzen. Nervös schaut er immer mal wieder auf seine Armbanduhr. In wenigen Minuten würden die Bewohner der Müllerstraße 42 den Hof betreten, wo er den Tisch und ein paar Stühle aufgestellt hat. Er wünscht sich nur noch, die Zeit würde schneller vergehen, sodass er diese Hausversammlung endlich hinter sich hat. Vor seinem inneren Auge sieht er schon das laute Geschrei, den Protest, die wütenden Gesichter. Bauchschmerzen erschweren es ihm, aufrecht dazusitzen.
Er atmet ein letztes Mal tief ein und aus. Dann öffnet sich die Hoftür und Doro kommt , im Gefolge die Bewohner der Müllerstraße 42.
Fortsetzung folgt!
Alle Figuren und Namen sind rein fiktional und jede Übereinstimmung mit der Realität ist nur zufällig.
Müller42 ist eine Weddingweiser-Textreihe von Ruben Faust und Nethais Sandt. Sie wird immer dienstags und freitags weitergeführt.