Der Wedding. Endliche Weiten. Dies sind die Abenteuer der Bewohner des Wohnhauses in der Müllerstraße 42, die schon oft zuvor da gewesene Gentrifizierung bekämpfen und dahin gehen, wo schon viele Weddinger zuvor gewesen sind.
Eine Fortsetzungsgeschichte von Ruben Faust und Nethais Sandt
Etwas sehr Merkwürdiges läuft in der Müllerstraße 42 ab, da ist sich Dorothea sicher. Zuerst verschwindet dieses blaue Fahrrad von der Musikstudentin Melina (die hat sie noch nie leiden können), dann kommt die Hausverwaltung mit einer Dachrenovierung an (wovon sie ja noch nie etwas gehört hat) und überall kleben auf einmal Demoplakate gegen Gentrifizierung und Atomkraft. Dieses Prenzlauerberg-Paar packt ihr irgendwelche Flyer in den Briefkasten und hofft wohl auf einen Widerstand, aber dafür hat Doro keine Zeit. Sie hat schon ihr ganzes Leben über in der Müllerstraße 42 gewohnt, da wird sie hier ja wohl auch noch bis zu ihrem Tod bleiben können. Mal davon abgesehen, bekommt sie neuerdings immer Blumen auf ihre Fußmatte und sie weiß beim besten Willen nicht, was sie davon halten soll. Die Blumen sind hübsch, keine Frage, aber was soll sie damit? Die stehen maximal eine Woche bei ihr auf dem Küchentisch, ehe sie im Müll landen. Und bei der Menge an Blumen, die sie bekommt, gehen ihr langsam die Vasen aus.
Dorothea ist sich sicher: Wenn sie die Blumenflut stoppen möchte, muss sie herausfinden, wer ihr sie immer auf die Fußmatte legt. Sie hat als Kind alle Sherlock-Holmes- Bücher von Arthur C. Doyle gelesen (die wahren Bücher, nicht dieser Serienabklatsch, der neuerdings überall zu finden ist) und fühlt sich bereit für eine Investigation. Wär‘ ja lachhaft, wenn sie den Täter nicht innerhalb der nächsten Woche finden würde!
Zunächst gilt es herauszufinden, wer Zugang zu ihrer Fußmatte hat: Das ganze Haus sicherlich, aber die Haustür steht auch immer offen. Das heißt jeder, der in regelmäßigen Abständen zur Müllerstraße 42 kommt, könnte ihr einen Blumenstrauß auf die Fußmatte legen. Sie muss alle Komponenten im Auge behalten. Zu diesem Zweck verschanzt sie sich jetzt regelmäßig vor ihrem Fenster und beobachtet das Geschehen auf der Straße. Ihr Alter bietet ihr dabei die perfekte Deckung: Niemand würde irgendetwas einer alten Dame zutrauen.
Nun geht das schon eine ganze Weile so und zu ihrer Enttäuschung ist sie dem Täter nicht einen Schritt näher gekommen. Menschen kommen und gehen, aber es hat nie eine Person gegeben, die regelmäßig auftaucht. Vielleicht ist es also wirklich jemand aus dem Haus. Vielleicht sogar Melina: An jenem schicksalhaftem Tag, als ihr Fahrrad geklaut worden ist, haben sie ein paar Worte gewechselt. Melina hat gewusst, dass sie, Dorothea, am Fenster gestanden hat. Kurz nachdem Melina also ins Haus gegangen ist, hat es auf einmal geklingelt! Und da haben Blumen auf der Fußmatte gelegen. Ist das wirklich Zufall gewesen? Allerdings ist Melinas Fahrrad danach wirklich verschwunden, und weil Dorothea so damit beschäftigt gewesen ist, eine Vase für den Blumenstrauß zu finden, hat sie den Dieb des Fahrrads leider nicht auf frischer Tat ertappt. Sie bezweifelt, dass Melina es wirklich darauf ankommen lässt, ihr Fahrrad zu verlieren, während sie Blumensträuße auf Fußmatten legt. Aber vielleicht ist es ja nicht nur Melina. Vielleicht ist es auch dieser Philipp? Vielleicht arbeiten sie zusammen. Und das Motiv? Ganz einfach: Sie wollen ihr eins auswischen, weil die Jugend von heute nichts Besseres zu tun hat!
Dasselbe Motiv können aber auch die Ausländer-Brüder haben. Wie heißen die nochmal? Achmed? Hiram? Doro kratzt sich am Kopf. Wie auch immer. Jung, dumm, gelangweilt. Ein Streich von kleinen Bälgern. Unglaublich, dieses Haus. Alle stecken sie unter einer Decke.
Sie möchte sich gerade aufmachen, und ihre tägliche Dosis Observierung am Fenster abhalten, als es an der Tür klingelt. Wer stört denn jetzt schon wieder?
Schnaufend macht sie sich auf den Weg zur Tür, öffnet sie… und da liegen sie. Ein Strauß Blumen, diesmal Orchideen. Sofort schaut sie sich um, vielleicht versteckt sich der Täter ja hinter einer Ecke? Aber abgesehen vom Hausmeister befindet sich niemand hier im Haus. Merkwürdig. Der Täter muss jung, schnell, geradezu athletisch sein, dass er so schnell die Biege macht. Und, das muss sie zugeben, er hat Geschmack. Orchideen gehören zu ihren Lieblingsblumen.
Ächzend bückt sich Doro, um die Blumen aufzuheben. In dem Augenblick fällt ihr auf, dass das gleichmäßige Wischen des Hausmeisters aufgehört hat. Es herrscht absolute Stille. Was ist denn jetzt schon wieder los? Sie erhebt sich, runzelt die Stirn, wartet ab. Als nichts weiter passiert, zuckt sie mit den Schultern und schließt die Tür hinter sich. Soll der Hausmeister doch tun, was er will. Wahrscheinlich hat der Trunkenbold bemerkt, dass sein Flachmann leer ist! Und er ist zu doof, um ihn wieder zurück in seine Brusttasche zu packen, weil diese komische Plastik-Orchidee zu viel Platz einnimmt. Merkwürdig, dieser Mann, einfach nur merkwürdig. Würde er nicht immer diese grünlich, befleckte Hausmeistertracht tragen, würde er sich rasieren, etwas aufrechter stehen und nicht immer nach Alkohol stinken, dann wäre er doch ein recht staatlicher Mann. Schön anzusehen. Vielleicht könnte sie ihn auch ihren Freundinnen vorführen. Gertrud, eine jahrelange Freundin von Doro, macht sich schon immer darüber lustig, dass sie zu alt und runzelig für einen Mann wäre, aber Doro ist da ganz anderer Meinung. Sie fühlt sich eher wie eine reife Banane: Von außen etwas veraltet, aber innen schön saftig. So soll es auch sein.
Mit dem Geschenk in der Hand geht sie zurück in die Küche und sucht nach ihrer Lieblingsvase. Nur das Beste für ihre Lieblingsblumen. Eine Melodie summend packt sie die Orchideen hinein, ergötzt sich regelrecht an der schönen violetten Farbe und den feinen Blüten… und hält inne. Auf einmal fällt es ihr wie Schuppen von den Augen.
„Bei der heiligen Maria..“, flüstert sie ehrfürchtig. „… Nie und nimmer…“ Orchideen. Sie hat Orchideen bekommen, auf ihrer Fußmatte. Niemand sonst ist im Haus gewesen… außer dem Hausmeister. Der eine Orchidee stets bei sich hat. Das kann doch nicht sein!
Jetzt, wo sie ein eindeutiges Indiz hat, weiß sie nicht, wie sie sich verhalten soll. Normalerweise hätte sie die Tür aufgerissen und den Übeltäter zur Rede gestellt. So ist sie schon immer gewesen, einfach mit dem Kopf durch die Wand. Aber das hier sind Blumen, auf ihrer Fußmatte, seit Wochen! Vom Hausmeister! Sie kann nicht anders, als sich geschmeichelt zu fühlen. Aber es nagt trotzdem an ihr, dass er wohl nicht den Mut gehabt hat, es ihr einfach direkt und klar zu sagen. Wie ein richtiger Mann, halt. Sie streckt die Hand aus und berührt eine Blüte, während sie von Gedanke zu Gedanke springt. Wie würde Sherlock Holmes handeln?
Es vergehen Minuten, in denen Dorothea mit sich hadert, Minuten, die sich wie Stunden anfühlen. Dann jedoch hat sie genug. Es reicht!
Entschlossen öffnet sie die Tür. „Herr Brown! Kommen se mal runter, bitte.“
Das Wischen, das mittlerweile im zweiten Stock ist, stoppt erneut. Stille dehnt sich wie Kaugummi aus, dann hört sie schwere Schritte, die herunterkommen. Wenig später steht Herr Brown vor ihr, verschwitzt, etwas nach Alkohol stinkend, mit geröteten Wangen. Seine Haare sind ölig (Ist das etwa Haargel?) und er hat sich doch tatsächlich rasiert (unter dem Ohr kann sie eine kleine Schnittstelle erkennen). „Was kann ich für Sie tun?“, fragt er mit tiefer Stimme. Doro hat noch nie bemerkt, wie breit seine Schultern sind und wie hell seine Augen. Ihr Herz fängt an zu klopfen, was absolut lächerlich ist, denn mit ihren 75 Jahren hat sie doch weitaus hübschere Männer gesehen als den hier vor sich. Aber niemand hat ihr je Blumen auf die Matte gelegt, kein einziger.
„Legen sie mir dauernd Blumen auf de Matte?“ Ihre Stimme klingt strenger, als sie es eigentlich vorgehabt hat. Herr Brown richtet sich automatisch auf. Als er spricht, stottert er ein wenig: „ W‑w-ie kommen Sie darauf?“
„Verarschen se mir jetz nich!“ , sie deutet auf seine Plastik- Orchidee. „Ick hab Oogen im Kopp, wissen se? Ick sehe die Orchidee in Ihrer Brusttasche.“
Herr Brown räuspert sich. „Es tut mir lLeid, ich wollte Sie nicht beleidigen.“ Und dann: „Ja, die Blumen sind von mir.“
Doro muss sich ein Lächeln verkneifen. Da ist es jetzt raus. Er hat gestanden. Täter gefunden. Frage: Was jetzt?
„Ham se Lust uff’n Stück Kuchen und ’n Tee?“, fragt sie, genauso streng wie vorher.
Herr Brown wirkt von ihrem Ton noch immer verunsichert, verbeugt sich dann jedoch etwas ungelenk. „Sehr gerne.“
Dorothea dreht sich um und stiefelt zurück in die Wohnung, die Tür lässt sie offen, damit er ihr folgen kann. „Was für einen Tee hätten se denn jerne?“ , ruft sie über ihren Rücken.
Herr Brown folgt ihr und schließt die Tür hinter sich. „Haben Sie Earl Grey Tee?“
Da muss sie zum ersten Mal lächeln. Immer diese Briten.
Fortsetzung folgt!
Alle Figuren und Namen sind rein fiktional und jede Übereinstimmung mit der Realität ist nur zufällig.
Müller42 ist eine Weddingweiser-Textreihe von Ruben Faust und Nethais Sandt. Sie wird immer dienstags und freitags weitergeführt.