Während heute einige glauben, ins Sprachgefüge eingreifen zu können, so glaubten in den 1960er Jahre Stadtplaner das gewachsene Stadtgefüge besser formen zu können. Krassestes Beispiel für dieses Experiment ist das Brunnenviertel, Deutschlands größtes Gebiet einer Flächensanierung – Kritiker sprechen von Kahlschlagsanierung. Gab es im Wedding dagegen wirklich keinen Widerstand, wie viele denken? Doch! Das Geschichtsprojekt Anno erzählt zeigt seltenes Filmmaterial vom Kampf um die Putte, einem Jugendzentrum, Schülerladen und Hobbyraum in der Rügener Straße. Eines der frühen besetzten Häuser Berlins.
Anno erzählt zeigt am 16. August zwei filmische Werke der 1970er Jahre, die eng mit stadt- und sozialpolitischen Kämpfen verbunden sind: „Mietersolidarität‟ von Max Willutzki und Gerd Conradts „Putte muss bleiben‟. Der Filmkurator Florian Wüst ordnet zunächst die Bedeutung der Filme ein. Nach der Vorführung beantwortet Filmemacher Gerd Conradt Fragen des Publikums. Einlass ist um 20 Uhr im Olof-Palme-Zentrum in der Demminer Straße 28. Der Eintritt ist frei.
Geschichtlicher Hintergrund
Im Frühjahr 1974 wurde die „Putte“ in der Rügener Straße 20 geräumt und abgerissen. Das Kinder- und Jugendzentrum, das auch als Wohngemeinschaft, Schülerladen und Hobbyraum diente, war eines der ersten besetzten Häuser in West-Berlin. Das von Gerd Conradt gemeinsam mit einer Seminargruppe des Instituts für Theaterwissenschaften der FU Berlin gedrehte Video Putte muss bleiben zeigt den Kampf der betroffenen Weddinger Jugendlichen um den Erhalt ihres Projekts. Neben der Darstellung der Wohn- und Lebensverhältnisse im Brunnenviertel sowie Interviews mit Anwohnern, Mitstreitern der Putte und Vertretern von Polizei und Bezirk dokumentiert das Video die Demonstrationen gegen den Abriss, die damals auf breite Unterstützung stießen, aber letztlich erfolglos blieben: die Abrissbirne durchlöchert mit gnadenloser Gewalt die gemauerten Wände des Hauses. Die zehn Jahre später aktualisierte Fassung des Videos macht sichtbar, dass die Versprechungen, an gleicher Stelle eine neue Einrichtung für Jugend- und Kinderarbeit zu bauen, bis dahin nicht erfüllt wurden.
Als Vorfilm zeigt Anno erzählt Max Willutzkis Kurzfilm Mietersolidarität von 1970 über die verhinderte Zwangsexmittierung einer siebenköpfigen Familie im Märkischen Viertel. Viele der Bewohner des historischen Brunnenviertels wurden damals im Rahmen der städtebaulichen Sanierung des südlichen Weddings in das Märkische Viertel umgesetzt.
Beide Filme sind Beispiele für die Ansätze sowohl der politischen Filmarbeit als auch der Mitte der 1970er Jahre aufkommenden videoaktivistischen Bewegung, um eine kritische Gegenöffentlichkeit herzustellen. Der von den neuen medialen Mitteln unterstützte Widerstand gegen die Sanierungspolitik des Senats führte spätestens in den 1980er Jahren zur Umorientierung hin zu einer behutsameren Stadterneuerung. Was vor 50 Jahren im Wedding und im Märkischen Viertel geschah, ist heute hinsichtlich der wieder zugespitzten Wohnungsfrage und der Verdrängung von einkommensschwachen Haushalten, Kleingewerbe und sozialen wie kulturellen Einrichtungen in Berlin aktueller denn je.
PS: Beschäftigt man sich mit Opposition im Wedding, dann stößt man auf mehr Beispiele als gemeinhin erwartet wird. Der Abriss der Schrippenkirche in der Ackerstraße verlief nicht geräuschlos. Fotos zeigen Demonstrationen zur Bildungspolitik an der ursprünglichen Ranke-Schule in der Lütticher Straße. Der historische Teil der heutigen Bibliothek am Luisenbad steht nur deshalb, weil Bürger die Abrissbagger stoppten. Aus Hausbesetzungen gingen die PA58 und die Fabrik Osloer Straße hervor. Eine systematische Beschreibung von Protestbewegungen im sogenannten stillen und armen Wedding steht noch aus.
(Der Text übernimmt eine Pressemitteilung, verfasst von Florian Wuest. Andrei Schnell ist einer der Organisatoren der Veranstaltung.)