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Prinzenallee 54–56:
Emanuel Meyer und die Weddinger Leder-Industrie

8. Oktober 2023
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Der Name Ema­nu­el Mey­er stand für bes­tes Nap­pa-Leder. Es war ein gro­ßer Name. Heu­te ist er weit­ge­hend unbe­kannt, so wie das bei vie­len jüdi­schen Unter­neh­mern ist, die sich bereits vor 1871 in Ber­lin nie­der­ge­las­sen hat­ten. Dabei gehör­te sein Leder-Unter­neh­men mit bis zu 400 Arbei­tern zu den größ­ten der Reichs­haupt­stadt. Die Spu­ren­su­che in der Prin­zen­al­lee 54–56 beginnt.

So roch einst der Soldiner Kiez

Über das Fabrik­ge­län­de berich­te­te Mar­ga­re­the Mey­er, Ehe­frau von Her­mann Mey­er, zum 100-Jäh­ri­gen Fir­men­ju­bi­lä­um 1932: 

“Die Pan­ke bil­de­te die Rück­gren­ze des­sel­ben. In die­sem Flüss­chen, dem Eldo­ra­do der Ger­ber, wur­den die Fel­le gewa­schen. Zwei Mann schwenk­ten einen mit Draht­git­ter umspann­ten, einen Meter gro­ßen, vier­ecki­gen Behäl­ter, solan­ge im Was­ser bis die Wol­le sau­ber war. Dar­an kamen die Fel­le in die soge­nann­ten Aescher­gru­ben, die in die Erde ein­ge­mau­ert waren und eine Brü­he von Grün­kalk aus der Gas­an­stalt, von Hun­de­kot, der auf der Stras­se gesam­melt wur­de, und von Urin aus den Kaser­nen, ent­hiel­ten; die­ses Gemisch „Jau­cke“ genannt, dien­te zum Ent­haa­ren. Zum geschmei­dig machen kamen dann die Fel­le in einen Brei von Wei­zen­mehl und Sal­bei und dann zum Trocknen.” 

Die­se Beschrei­bung lässt die har­te Arbeit, den ekel­haf­ten Geruch und den auf­wän­di­gen Vor­gang erah­nen. Jedoch war Ema­nu­el Mey­er, die jüdi­schen Wur­zeln sei­ner Fami­lie las­sen sich bis 1636 zurück­ver­fol­gen, nicht von Anbe­ginn an in der Leder­her­stel­lung tätig. Er grün­de­te vor 191 Jah­ren, am 8. Okto­ber 1832, in Hal­ber­stadt eine Hand­schuh­nä­he­rei, die schnell erfolg­reich ver­grö­ßert wer­den konnte.

Emanuel Meyer, Handschuhmacher und später Lederhersteller.
Fir­men­grün­der:
Ema­nu­el Mey­er (*1811, +1883).

Auf nach Berlin: Emanuel Meyer versucht sein Glück

Mit sei­ner Frau Sabi­ne und den acht Kin­dern ging Ema­nu­el Mey­er 1853 nach Ber­lin, um sei­ne Waren in der damals 400.000 Ein­woh­ner zäh­len­den Stadt zu ver­kau­fen – Paris kam schon auf 1 Mil­li­on Ein­woh­ner. Im Ber­li­ner Adress­buch 1854 taucht Ema­nu­el Mey­er mit fol­gen­der Anga­be auf: “Hand­schuh en gros Geschäft, Span­dau­er­str. 70 u. Papen­str. 14, Vorm. 9–12, Nm. 2−6”. Im Adress­buch von 1856 ändert sich die Anga­be in: “Hand­schuh­fa­brik en gros, Span­dau­er­str. 38”. Die Hand­schuh­fa­bri­ka­ti­on zähl­te damals zu den Boom-Bran­chen: 1859 gab es in Ber­lin um die 200 Hand­schuh-Fabri­kan­ten und ‑händ­ler. Auch Ema­nu­el Mey­er konn­te sich mit sei­nem Sor­ti­ment etablieren.

Ema­nu­el Mey­er wünsch­te sich, dass sich einer sei­ner Söh­ne für sei­ne Arbeit begeis­tert, doch erst der vier­te, Her­mann, zeig­te Inter­es­se. So kam es, dass Her­mann nach der Schu­le eine Leh­re bei einem Ger­ber samt Gesel­len­prü­fung mach­te und um 1868 nach Paris ging, um die neu­es­ten Tech­ni­ken der Bran­che ken­nen­zu­ler­nen. Der Plan des Vaters war, zukünf­tig für die Hand­schu­he die Fel­le selbst zu ger­ben, um den Zwi­schen­han­del aus­zu­schal­ten und bil­li­ger pro­du­zie­ren zu kön­nen. Jeder Ger­ber hat­te sein eige­nes Ver­fah­ren und expe­ri­men­tier­te mit unter­schied­li­chen Zusät­zen, um das Leder noch geschmei­di­ger zu machen. Für Her­mann war es nicht leicht, in Paris Fuß zu fas­sen, denn sowohl gegen­über Juden als auch gegen­über Deut­schen gab es vie­le Vor­be­hal­te. Und schließ­lich führ­te der Kriegs­aus­bruch 1870 dazu, dass er nach Ber­lin zurück­kam. Gemein­sam mit dem Vater begann der Auf­stieg der Fir­ma Ema­nu­el Mey­er zu einem Leder-Imperium.

Vom Gesundbrunnen in die Welt: Die Fabrik in der Prinzenallee 54–56

Hier oben im Gesund­brun­nen, genau an der Kreu­zung Prin­zen­al­lee Ecke Sol­di­ner Stra­ße, lagen zunächst noch gro­ße Län­de­rei­en, die suk­zes­si­ve in klei­ne­re Par­zel­len auf­ge­teilt wur­den. Juden durf­ten nur durch das süd­öst­lich gele­ge­ne Rosen­tha­ler Tor Ber­lin betre­ten. Womög­lich inter­es­sier­te sich aus die­sem Grund – und weil es an der Prin­zen­al­lee bereits Weiß­ger­ber, Leder­zu­rich­ter und Ger­ber gab, Ema­nu­el Mey­er für die­se Gegend. Erst­mals taucht Ema­nu­el Mey­ers Hand­schuh­ma­nu­fak­tur in der Prin­zen­al­lee im Ber­li­ner Adress­buch von 1861 auf. Dies bestä­tigt auch die Bau­ak­te. Auf dem Grund­stück Prin­zen­al­lee 54–56, damals 33–34 und des­sen Eigen­tü­mer Ema­nu­el Mey­er war, ent­stand an der Prin­zen­al­lee ein klei­nes Wohn-/Ge­schäfts­haus mit Neben­räu­men und in den 1860er Jah­ren meh­re­re klei­ne Anbau­ten. Zunächst pro­du­ziert er Leder­hand­schu­he. Die Wohn­adres­se der Mey­ers war Span­dau­er­stra­ße 38 – ab 1865 die Alex­an­der­stra­ße 55, wäh­rend in der Prin­zen­al­lee Fabrik, Ver­kauf und Lager waren. Zu Beginn der 1870er Jah­re, nach­dem der Sohn Her­mann aus Paris zurück war, began­nen Vater und Sohn mit der eige­nen Lederherstellung. 

Laut dem Ber­li­ner Adress­buch von 1872 han­del­te es sich nun um eine Leder- und Hand­schuh­fa­brik mit Spe­zia­li­sie­rung auf Zie­gen­le­der. In die­sem Jahr wur­de Her­mann Mey­er die Pro­ku­ra erteilt und 1877 wur­den Vater und Sohn gleich­be­rech­tig­te Part­ner – spä­ter wur­de auch der Bru­der Georg Mit­in­ha­ber. Her­mann reis­te 1873 nach Ame­ri­ka, knüpf­te dort neue Geschäfts­kon­tak­te und kam mit der Über­zeu­gung zurück, dass zukünf­tig der allei­ni­ge Fokus auf Leder­her­stel­lung lie­gen soll­te. Nach zahl­rei­chen Expe­ri­men­ten gelang es ihm, eine neue, beson­ders fei­ne Leder­qua­li­tät her­zu­stel­len, die er “Nap­pa” nann­te. Fir­men in Ber­lin, Paris und New York ris­sen sich um die­ses Leder, was dem Unter­neh­men einen erheb­li­chen Wachs­tums­im­puls gab.

Um 1874 bestand das Mey­er­sche Are­al aus: Vor­gar­ten und Wohn-/Ge­schäfts­haus an der Prin­zen­al­lee, dahin­ter die alte Ger­be­rei, Stall- und Remi­sen­ge­bäu­de sowie wei­ter zur Pan­ke die neue Ger­be­rei – spä­ter als Leder­fa­brik bezeich­net. Und unten an der Pan­ke wur­den zwei Spül-Bas­sins mit Frisch­was­ser gespeist. An die neue Leder­fa­brik wur­den wei­te­re Gebäu­de ange­baut: Kes­sel­haus, Lager- und Tro­cken­raum. 1878 fin­det man im Ber­li­ner Adress­buch die Anga­be: “Gla­cé­le­derfbrk u. Fär­be­rei, Spe­zi­al. in Zie­gen, Matt und Fut­ter­le­der, Prin­zen-Allee 54–56.” Ein Hin­weis dar­auf, dass die hier her­ge­stell­ten Leder beson­ders weich waren, gibt auch die Anga­be, dass es Leder für die Porte­mon­naie-Fer­ti­gung war.

Das große Firmenfest in Weimanns Volksgarten

In den ers­ten 50 Jah­ren hat sich die Fir­ma von einer klei­nen Hand­schuh­ma­che­rei zu einem renom­mier­ten Leder­her­stel­ler mit inter­na­tio­na­len Kun­den ent­wi­ckelt. Das muss­te groß gefei­ert wer­den. Und so berich­te­te das Ber­li­ner Tage­blatt in sei­ner Mor­gen­aus­ga­be vom 7.10.1882 von dem Jubi­lä­um und der geplan­ten Fei­er fol­gen­des: “Am Abend fin­det in Wey­manns Volks­gar­ten ein gro­ßes Fest statt, zu wel­chem sich das gesam­te in der umfang­rei­chen Gla­cé­le­der-Fabrik und Fär­be­rei beschäf­tig­te Per­so­nal in fei­er­li­chem Anzu­ge begibt.” Der Volks­gar­ten lag nur 850 m süd­lich der Fabrik – an der Bad­stra­ße. Aus einer ande­ren Quel­le erfährt man, dass zu die­sem Zeit­punkt um die 200 Arbei­ter bei Mey­ers beschäf­tigt waren. Bevor es in den Volks­gar­ten ging, über­reich­te die Füh­rungs­ebe­ne dem Fir­men­grün­der einen ver­zier­ten Sil­ber­po­kal von H. Mey­en & Co., wäh­rend die Juni­or-Chefs Her­mann und Georg Mey­er ein in Bres­lau kunst­voll gefer­tig­tes Ban­ner erhiel­ten. Anschlie­ßend ging es zum Fest mit Abend­essen, Frei­bier, Ball und Belus­ti­gung, wel­ches bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den dau­er­te. Am nächs­ten Tag kamen zahl­rei­che Geschäfts­part­ner, Ver­tre­ter der Ber­li­ner Leder­in­dus­trie und ehe­ma­li­ge Lehr­lin­ge und Ange­stell­te, um Ema­nu­el Mey­er zu beglückwünschen.

Berlin, Jüdischer Friedhof Weißensee, Grab Emanuel und Sabine Meyer, Aufnahme August 2023.

“An Arbeit und an Liebe reich, der Arm so stark, das Herz so weich…”

Ema­nu­el Mey­er war stets ein gesun­der und kräf­ti­ger Mann. Um 1880 erlitt er einen Schlag­an­fall, von dem er sich nicht mehr rich­tig erhol­te. Ein hal­bes Jahr­hun­dert hat­te er dafür gesorgt, dass er sei­ne Fami­lie ver­sor­gen und den Ange­stell­ten einen Lohn zah­len konn­te. Am 16. Janu­ar 1883 starb Ema­nu­el Mey­er im Alter von 72 Jah­ren. Drei Tage spä­ter, am Frei­tag den 19. Janu­ar, trat der Ver­stor­be­ne sei­ne letz­te Rei­se von der Prin­zen­al­lee zum Jüdi­schen Fried­hof Wei­ßen­see an, wo er um 12:30 Uhr sei­ne Ruhe­stät­te fand. “An Arbeit und an Lie­be reich, der Arm so stark, das Herz so weich”, ist noch heu­te auf der Tafel gut les­bar und lässt erah­nen, was für ein anpa­cken­der Mensch er war. Ins Unter­neh­men trat sei­ne Frau Sabi­ne Mey­er als Han­dels­ge­sell­schaf­te­rin ein, die Fami­li­en­ma­na­ge­rin und stets tat­kräf­ti­ge Part­ne­rin an der Sei­te von Ema­nu­el Mey­er war. Somit blieb alles in Fami­li­en­hand, wobei im Han­dels­re­gis­ter eben­falls ver­merkt wur­de, dass sie die Gesell­schaft nicht ver­tre­ten durf­te. Sabi­ne Mey­er starb am 30. Juni 1896 – 36 Enkel­kin­der beglei­te­ten den Sarg, als die­ser zum Jüdi­schen Fried­hof Wei­ßen­see gebracht wur­de. Sie fand ihre letz­te Ruhe­stät­te bei ihrem Mann. Nun lag die Fir­ma in den Hän­den der Söhne.

Berlins größte Lederindustrie an und nahe der Prinzenallee

Im Jahr 1883 ent­stan­den zahl­rei­che Gebäu­de auf dem Are­al, die einen Her­stel­lungs­pro­zess erah­nen las­sen: an der Pan­ke das Spül-Bas­sin, dann kamen Äscher­ge­bäu­de, Ger­be­rei, Kes­sel­haus, Schup­pen. Auf dem Grund­stück dane­ben – Prin­zen­al­lee 57–58 – befand sich noch die Leder­fa­brik von einem Herr Sei­ler mit Wohn­ge­bäu­de an der Prin­zen­al­lee und dahin­ter Fär­be­rei, Ger­be­rei, Käl­ke­gru­be, Tro­cken-Schup­pen, eini­gen Neben­ge­bäu­den und Spül-Bas­sin an der Pan­ke. In den spä­ten 1880-er kamen an unter­schied­li­chen Stel­len noch klei­ne Neben­ge­bäu­de hin­zu. Nach dem Tod des Vaters reich­te Her­mann Mey­er 1885 meh­re­re Plä­ne für sein reprä­sen­ta­ti­ves Wohn­haus mit Neo-Renais­sance-Fas­sa­de ein – errich­tet 1886–87. Und auf dem Nach­bar­grund­stück ver­schwand die Leder­fa­brik, denn die jüdi­sche Fami­lie Gat­tel ließ hier eine neue Hut­fa­brik bauen.

Einen wei­te­ren Impuls setz­te Her­mann Mey­er 1891 mit den Pla­nun­gen für ein neu­es Fabrik­ge­bäu­de mit fünf Eta­gen und moder­nen Guss­ei­sen­pfei­lern. Die Plä­ne hier­zu mach­te der jüdi­sche Archi­tekt Georg Lewy – er war gleich­zei­tig für die Gat­tels auf dem Nach­bar-Are­al tätig. Auch das Kes­sel­haus mit dem impo­san­ten Schorn­stein wur­de ver­grö­ßert. An der Sol­di­ner Stra­ße ent­stan­den eine neue Fär­be­rei und ein gro­ßes Lager­ge­bäu­de. Anschlie­ßend erhiel­ten vor­han­de­ne Gebäu­de Ver­bin­dungs­öff­nun­gen und teil­wei­se Ober­licht­fens­ter. Hier­für war u.a. die Fir­ma „Breest & Co.“ (Bau­an­stalt für Eisen­kon­struk­tio­nen, Wollank­stra­ße 54–55) tätig. Her­mann Mey­er war durch und durch Unter­neh­mer, und so ließ er 1903 ein 2‑geschossiges Well­blech­haus zum Zweck der Ben­zin­ent­fet­tung gegerb­ter Fel­le pla­nen – nicht realisiert.

Wel­che Bedeu­tung die Fir­ma Ema­nu­el Mey­er in den 1870er und 80er Jah­ren erlang­te, lässt sich wie­der­um aus den Erin­ne­run­gen von Mar­ga­re­the Mey­er erah­nen: “In der Bran­che hiess die Fabrik, durch die auf­grund der auf wis­sen­schaft­li­cher Basis her­ge­stell­ten Fabri­ka­te all­ge­mein ‘die Uni­ver­si­tät’. Wer in ihr gelernt hat­te, wur­de über­all gern ein­ge­stellt.” Eben­falls nahm die Fir­ma Ein­fluss auf das Umfeld. Oft­mals wur­den aus klei­nen Hand­werks­be­trie­ben gut gehen­de Leder­ma­nu­fak­tu­ren. Ent­lang und rund um die Prin­zen­al­lee ent­stan­den bis 1900 die meis­ten Gla­cé­le­der-Fabri­ken Ber­lins: Aug. Anders (Prin­zen­al­lee 47), L. Eward (Wollank­str. 57), Gün­ther Schnei­der (Prin­zen­al­lee 59), Schwarz­mann (Prin­zen­al­lee 78), Kar­plus & Herz­ber­ger (Prin­zen­al­lee 82), Leuch­ter & Böhm (Gericht­stra­ße 23), L. Her­ger­mann (Kolo­nie­stra­ße 18–19), Schu­bert (Wollank­stra­ße 58). Dar­über hin­aus wur­den Saf­fi­an-Leder bei Fuchs & Sohn (Kolo­nie­stra­ße 22), Hal­lich & Co. (Wollank­stra­ße 60) sowie Ross­le­der bei Bei­ers­dorff (Ber­nau­er Stra­ße 80) her­ge­stellt. Zu den wei­te­ren Leder­fa­bri­ken der Gegend gehör­ten Carl Jas­mand (Prin­zen­al­lee 59) und D. Römer (Wollank­stra­ße 62). Hin­zu kamen zahl­rei­che Leder­hand­lun­gen, die es im Wed­ding und in der gan­zen Stadt gab.

Weiches Leder, rauher Umgang

Eine Leder­fa­brik gewinn­brin­gend zu eta­blie­ren, dass war trotz Grün­der­zeit nicht immer leicht. Die Fir­ma Ema­nu­el Mey­er kam 1881 mit einem gewis­sen “Fleisch­mehl” in die Tages­pres­se, was sie in land­wirt­schaft­li­chen Zei­tun­gen als Mast­fut­ter für Horn­tie­re und Schwei­ne bewarb. Statt Fleisch­sub­stanz – so fand damals eine Unter­su­chung her­aus – bestand das Fut­ter zu 25–30 %  aus Stoll­mehl der Alaun­ger­bung, einem Abfall­pro­dukt bei der Her­stel­lung von Hand­schuh­le­der. Schein­bar war Fleisch­mehl kein geschütz­ter Begriff, so dass ihn Ema­nu­el Mey­er für ein eher min­der­wer­ti­ges Pro­dukt nutz­te, was rich­tig dekla­riert “Hand­schuh­le­der­mehl” hät­te hei­ßen müssen.

Die Tages­zei­tun­gen berich­te­ten immer wie­der von klei­ne­ren und grö­ße­ren Feu­ern in der Fabrik, die auf wei­te­re Gebäu­de über­grif­fen und den Nor­den des Gesund­brun­nens hell erleuch­te­ten. So bra­chen 1882 gleich zwei­mal gro­ße Feu­er aus – im Janu­ar und April. Und 1889 stand das Dach des Maschi­nen­hau­ses in Flam­men. In der Fabrik wur­de alles durch Hand­ar­beit, Arbeits­zeit von 6 Uhr früh bis 7 Uhr abends, von zir­ka 400 Arbei­tern bewäl­tigt. Nur weni­ge Maschi­nen stan­den zur Ver­fü­gung. Erst nach und nach wur­den neu erfun­de­ne ange­schafft. Es war eine schwe­re und har­te Arbeit. Nun ent­wi­ckel­te sich Ber­lin immer rasan­ter – mit stei­gen­den Mie­ten, teu­ren Lebens­mit­teln und schlech­ter Ver­sor­gung für die Ärmsten.

Wie in ande­ren Fir­men kam es in der Leder­fa­brik in den 1890er Jah­ren zu Streiks. Beson­ders lan­ge dau­er­te der Streik von gut 90 Weiß­ger­bern und Farb­le­der­zu­rich­tern. Ihre For­de­run­gen waren eine Auf­he­bung der Lohn­re­duk­ti­on und die Abstel­lung von Miss­stän­den in der Fabrik. Der Streik begann im Novem­ber 1895. Anfang Janu­ar 1896 sah es nach einer Eini­gung aus, denn laut der Zei­tung Vor­wärts hat­te sich Mey­er ver­pflich­tet, alle Strei­ken­de wie­der ein­zu­stel­len und die alten Löh­ne wei­ter zu zah­len sowie die sani­tä­ren Bedin­gun­gen in der Fabrik durch bau­li­che Maß­nah­men zu ver­bes­sern. Dar­über hin­aus ging es dar­um, die Kon­trol­le der Mit­ar­bei­ter auf mor­gens, mit­tags und abends zu redu­zie­ren und eine Kom­mis­si­on ein­zu­set­zen, um die Ein­hal­tung der Ver­spre­chen zu über­wa­chen. Es wur­de das Ende des Streiks beschlos­sen. Jedoch soll­te in der Fabrik kei­ne dau­er­haf­te Ruhe ein­keh­ren. Ins­be­son­de­re der Fall der 17-jäh­ri­gen Arbei­te­rin The­re­se Bowitz, die ihre Mie­te nicht zah­len konn­te und den Frei­tod wähl­te, kam in die Tages­zei­tun­gen (Vor­wärts, 19.1.1907). Zum Glück ret­te­te ein Pas­sant am Nord­ha­fen das Mädchen.

Der große Finanzskandal und das endgültige Ende 

In der Zeit, nach­dem die Mut­ter gestor­ben war und die Fir­ma gut zehn Jah­re in den Hän­den der Söh­ne Her­mann und Georg gele­gen hat­te, schien sich eini­ges nicht zum Woh­le des Unter­neh­mens zu ent­wi­ckeln. Die Kon­kur­renz durch die bei­den Fir­men Eyck & Stras­ser und Kar­plus & Herz­ber­ger (Prin­zen­al­lee 82) ließ den Absatz sin­ken. Bei Mey­ers begann man mit dem Chrom­säu­re­ver­fah­ren und die Fel­le wur­den aus dem Ori­ent impor­tiert. Inves­ti­tio­nen in einen neu­en Pro­duk­ti­ons­stand­ort in den USA in Höhe von rund einer Mil­li­on Mark hielt die Bran­che zunächst für einen klu­gen Schach­zug – begon­nen um 1904. Jedoch soll­te sich her­aus­stel­len, dass dies nicht zum gewünsch­ten Erfolg führ­te – Finanz­mit­tel wur­den in erheb­li­chem Umfang gebun­den. Viel­mehr war das Gegen­teil der Fall: Am 2. Sep­tem­ber 1907 berich­te­ten deutsch­land­weit sämt­li­che Zei­tun­gen von einer bevor­ste­hen­den Insol­venz: die Akti­va lagen bei 4,816 Mil­lio­nen Mark und die Pas­si­va bei 4,914 Mil­lio­nen Mark. In die­sen Finanz­skan­dal waren 14 Ban­ken und Fir­men aus Lon­don, Paris und dem Ori­ent betei­ligt. Anschlie­ßend begann ein kom­ple­xes Abwicklungsverfahren. 

Nach fast einem hal­ben Jahr­hun­dert an der Prin­zen­al­lee began­nen um 1909 Abbruch­ar­bei­ten auf dem Are­al Sol­di­ner Stra­ße Ecke Prin­zen­al­lee. Anschlie­ßend ent­stan­den eher pro­vi­so­ri­sche Gebäu­de, die in den Bau­ak­ten als Lau­ben und Buden bezeich­net wer­den. Erst 1922 wur­den umfas­sen­de­re Plä­ne zur Neu­ge­stal­tung des pro­mi­nen­ten Eck­grund­stücks ein­ge­reicht – die jedoch nicht rea­li­siert wur­den und somit blieb das Gelän­de unbe­baut. Zu die­sem Zeit­punkt hat­te die Fir­ma ihren neu­en Pro­duk­ti­ons­stand­ort in Guben auf­ge­baut: 1932 wur­de dort das 100-Jäh­ri­ge Jubi­lä­um gefei­ert. Jedoch zogen über Guben dunk­le Wol­ken auf. Die Leder­fa­brik führ­ten in drit­ter Gene­ra­ti­on die Brü­der Men­del-Ema­nu­el Mey­er und Lud­wig Mey­er. Sie ver­lie­ßen Deutsch­land 1934 aber, Lud­wig blieb vor­erst auf dem Papier Eigen­tü­mer der Gube­ner Fabrik. 1938 wur­de die Fir­ma ari­siert und unter dem Namen Wil­helm O. Mau­rer Leder­fa­brik wei­ter­ge­führt. Damit geriet das Lebens­werk von Ema­nu­el Mey­er und die Bedeu­tung der Wed­din­ger Leder­in­dus­trie in Vergessenheit.

Quel­len: His­to­ri­sche Tages­zei­tun­gen, Bau­ak­ten im Lan­des­ar­chiv Ber­lin, Adress­bü­cher Ber­lin, Erin­ne­run­gen und Fotos aus dem Pri­vat­be­sitz von Nick Nash (Aus­tra­li­en).

Carsten Schmidt

Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern. Im Juni 2023 erschien sein neues Buch Bittersweet - Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871–1933 Zu finden ist er auch auf Twitter.

2 Comments

    • Hal­lo Ilk

      such dir einen Haus­num­mern genau­en Stadt­plan… und Tusch Trom­mel­wir­bel.… fin­det man sel­ber die Antwort
      Tip­pe mal aus der Hüf­te her­aus auf Wohnhäuser

      gol­de­nen Okto­ber noch

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