Sonntag, 06.03.2022
Nach dem Treffen mit Janusz geht es für mich am späten Vormittag weiter Richtung Süden. Heute steht wieder ein Reisetag an. Ich gleite über Landstraßen, die Grenze immer einige Hundert Meter bis wenige Kilometer zu meiner Linken. Nach etwa einer Stunde gelange ich zum Übergang Dołhobyczów-Uhrynów. Ich parke, laufe umher und frage mich, warum ich das eigentlich noch mache. Sind es nicht doch wieder die gleichen Bilder? Warum pendle ich von Orten im Landesinneren, von einer Art Normalität, immer wieder zurück zu den Stellen, wo all die Menschen ankommen? Wird das mittlerweile eine Art Selbstzweck? Was erhoffe ich noch zu sehen? Ist das nicht absurd?
Links: Eine Frau hält ihren Reisepass. Rechts: Menschen sind soeben auf der polnischen Seite angekommen.
Mich begleitet seit dem Aufbruch zu meiner Reise dieses Unbehagen. Verursacht durch das Wissen darüber, in welcher privilegierten Lage ich mich befinde. Ich hatte die Freiheit, mich in Berlin auf mein Motorrad zu setzen und hierhin zu fahren. Und ich habe jederzeit die Wahl den Ort zu wechseln und mich der Situation irgendwie entziehen zu können. Die Menschen, die hier über die Grenze kommen, haben nicht bewusst gewählt hier zu sein. Sie haben sich für die Flucht vor Gewalt, vor dem Tod entschieden und landen hier.
Am Ende ist es so, dass ich als Fotograf immer auf der Suche bin nach Motiven, die diese Krise zeigen, anders zeigen. Auch fällt es mir in manchen Momenten schwer zu glauben, dass die Menschen wirklich an allen Punkten über die Grenze strömen. Ich will unbewusst eine Bestätigung dafür und es dokumentieren. Ich weiß ja, dass es so ist und kann es doch nicht fassen.
Oben links: Feldküche.
Oben rechts: Teller liegen zur Ausgabe bereit. Fehlt nur noch die Wurst.
Unten: Mops mit Jacke.
Ich nehme ankommende und wartende Menschen wahr. Sehe zwei Transporter, einer mit deutschem, einer mit ukrainischem Kennzeichen, Kofferraum an Kofferraum geparkt. Hilfsgüter werden umgeladen. Reifenspuren auf der Wiese. Ukrainische Pässe. Kinder halten sich die Ohren zu, als ein Krankenwagen mit Sirene vorbeifährt. Zwei Freiwillige schnappen sich die blau-gelbe Flagge von ihrem Auto und posieren.
Oben: Güter werden umgeladen.
Mitte: Kinder halten sich die Ohren zu.
Unten: Zwei Freiwillige posieren.
Als ich weiterfahre, komme ich vorbei an einem mit Sträuchern überwachsenen Friedhof, passiere noch halb zugefrorene Weiher, eine verlassene Tankstelle, die wie für ein Filmset gemacht scheint. Dann wieder nichts als Felder und Wälder. Das graue Winterlicht lässt nur so viel Sättigung zu, wie es der Stimmung entspricht.
Oben links: Bewachsener Friedhof.
Oben rechts: Teilweise gefrorener Weiher.
Unten: Verlassene Tankstelle.
Nächster Stopp ist Hrebenne. Hier, einen Kilometer vor der Grenze: auch wieder ein Polizei-Checkpoint, die Frage, wo man hin will, dann problemloses Durchlassen. Hrebenne ist einer der größeren Übergänge. Ich stelle mein Motorrad ab und laufe an den Zelten am Rande eines Ackers vorbei einen Hügel hinauf. Von dort sehe ich in der Ferne die Auto- und Menschenschlangen auf der ukrainischen Seite. Es gibt viele Geflüchtete, die zu Fuß unterwegs sind. Stundenlanges Warten in der Kälte.
Links: Stanislaw. Rechts: Hinteransicht von Zelten.
Ich gehe ein wenig umher, bemerke Stanislaw, der mit einer Kiste vor dem Bauch Süßigkeiten verteilt. Er ist 16 Jahre, kommt aus Warschau, ist vor wenigen Stunden eingetroffen. Er bleibt zwei Tage. „Es ist ein gutes Gefühl, dass hier so viele Leute sind und mithelfen“, sagt er. Ich komme noch ins Gespräch mit zwei Brandenburgern, die hier sind, um Bekannte abzuholen. Kurz bevor ich mich wieder aufmache, sehe ich im Trubel ein Auto mit ukrainischem Kennzeichen und daneben offenbar Vater und Sohn. Der Junge packt sein Saxophon aus. Er sitzt nicht verängstigt in irgendeiner U‑Bahnstation oder in einem Keller, sondern setzt sich das Instrument an den Mund und fängt an zu spielen.
Junge mit Saxophon.
Bildredaktion: Liane Geßner
Auf dieser Seite haben wir ein paar Informationen zusammengestellt, wie man von Berlin und Wedding aus helfen kann. Die Seite wird nach und nach befüllt.
Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6 der Serie nachlesen.
Lieber Tilman,
es freut mich, dass ich auf diesem Weg etwas von Deiner Arbeit, Deinem Engagement mitbekomme. Bin tief beeindruckt davon, dass Du ‚einfach‘ losgefahren bist und tust, was Du empfindest tun zu können, tun zu müssen. Ja, solche authentischen Bilder mit Deinen persönlichen Kommentaren sind was ganz anderes als Fotos in Zeitungen und Gazetten . Ich finde, da kommt viel mehr rüber. Danke dass Du mich teilhaben lässt auf diese Weise.
Wann wird Deine Reise enden? Physisch und seelisch? Ich hoffe es tut Dir gut bei allem Leid das Du so hautnah an Dich heran lässt, einfach weil Du es an Dich heranlässt und nicht abstreifst wie es die meisten tun. Meistens aus guten, Gründen um sich zu schützen. Vor der Ohnmacht. Vor der Überforderung. – Und doch tun gerade jetzt viele Menschen etwas um etwas beizutragen zu einer solidarischeren und friedlicheren Welt. ….
Gestern traf ich eine Gruppe Radfahrer*innen, sportlich unterwegs mit blau-gelben Schleifchen am Sattel auf einer Sponsorentour für Hilfsgüter in die Ukraine. Rührend und gut. In einer Gemeinschaft etwas zu tun gibt Kraft und Bestätigung.
Kraft und Bestätigung holst Du aus den zahlreichen Begegnungen unterwegs. Auch aus der mit Dir selbst offenbar. Raus aus der Sprachlosigkeit zu kommen ist das Eine. Anderen, die eine solche Reise nicht machen, Teilhabe zu ermöglichen das Andere. Und sicher motiviert das Mit-Erleben auch die eine oder den anderen dazu, sich sozial und politisch für den Weg in einen stabilen Frieden zu engagieren.
Meine herzlichen Grüß in Richtung Osten mögen Dich erreichen.
Komm heil wieder zurück!
Sibylle
Hallo Sibylle,
danke dir für deine Worte.
Ja, irgendetwas zu tun nimmt schon einmal dieses Gefühl der Ohnmacht weg. Und ich glaube / hoffe auch über diese Art der persönlichen Erzählung mehr Menschen direkt erreichen und etwas bewegen zu können.
Aber die Erfahrungen sind in jedem Fall auch sehr intensiv und anstrengend. Tatsächlich nehme ich mir gerade eine Auszeit bzw. lasse die Tour langsam ausklingen.
Ein paar Berichte kommen aber noch.
Grüße zurück in den Westen!