Wenn man lange an einem Ort lebt, empfindet man diesen irgendwann ganz selbstverständlich als Heimat. Den Wedding können nur die wenige seiner Bewohnerinnen und Bewohner als Geburtsort angeben, dieser Stadtteil ist schon immer ein Ort der Einwanderung und des Transits gewesen. In unserer Serie berichten wir davon, warum wir in unserem Stadtteil Wurzeln geschlagen haben. Heute: Unsere Autorin Sulamith berichtet aus der Zeit, in der man im Wedding gleich mehrere Wohnungen im gleichen Haus mieten konnte, dann aber Mühe hatte, alle WG-Zimmer zu vermieten…
Zeitungsannoncen durchforsten
Ja, im Frühjahr 1998 gab es schon das Internet. Auch für den privaten Gebrauch. Per Modem wählte man sich in die Weltschaltzentrale ein und sollte nicht vergessen, den Router nach Gebrauch gleich wieder zu trennen, um später nicht Unsummen für die Nutzung zahlen zu müssen. Doch für die digitale Wohnungssuche waren wir noch ein paar Jahre zu früh dran. Inseratszeitungen waren vor mehr als 20 Jahren eher das Mittel der Wahl. Wohnungssuchende versuchten schon im Laden eine in Frage kommende Vermietung beim Durchblättern des Blättchens zu erspähen, um sich den Verkaufspreis von ca. 2–3 DM sparen zu können.
In meiner Erinnerung kam die „Zweite Hand“, so hieß eine dieser Zeitungen voll mit Annoncen, Dienstag und Donnerstag heraus und am Samstag. Oder war es am Montag und Mittwoch? Auf jeden Fall offenbarte einer dieser Tage immer einen fetten Immobilienteil.
Damit zurück zum Anfang. Mein Freund, ein Kumpel von uns, sowie ich und mein damals 4‑jähriger Sohn hatten beschlossen, eine größere WG zu gründen. Wir wollten mit noch mindestens 3–4 weiteren Menschen zusammenleben. Jeder sollte ein eigenes Zimmer bekommen, dazu wünschten wir uns noch einen großen Gemeinschaftsraum für Tanz und Party, ein Esszimmer und vielleicht ein Musikzimmer. Das wären dann locker mal so um die zehn Zimmer, die wir da benötigten!
Die Rubriken im Wohnungsvermietungsteil der „Zweiten Hand“ wurden ab der Überschrift „4 Zimmer“ immer dünner und ab sechs Zimmer zu „6 und mehr Zimmer“ zusammengefasst. Es schien aussichtslos, dass uns jemand acht, neun oder sogar zehn Zimmer anbieten würde.
Dann wurden wir auf ein Inserat aufmerksam bzw. auf mehrere vom gleichen Vermieter. Gleiche Straße, gleiche Hausnummer. In der Nähe der Bornholmer Straße. Zu dieser Zeit wohnten wir in Schöneberg. Also gefühlt am anderen Ende der Stadt. Man kannte niemanden, der in der neuen Gegend wohnte, niemanden, der dort ausging und sich die Nächte um die Ohren schlug. Kino, Theater, Kunst, Party? Eher nicht.
Aber mutig wie junge Pioniere fuhren wir mit der S‑Bahn ins Neuland, um Nachforschungen anzustellen, was es mit den Anzeigen auf sich hat. Wir hatten nämlich bereits eine Idee im Kopf!
Unser zukünftiger Vermieter, ein aufgeschlossener Mittvierziger aus Lichtenrade, zeigte uns die leerstehenden Wohnungen. In der dritten Etage eine schon vom Vormieter vergrößerte Wohnung aus zwei Wohnungen bestehend und zwei einzelne eine Etage darunter. Wir mieteten alle.
Mühe, Mitbewohner zu finden
Nun fehlten nur noch unsere zukünftigen MitbewohnerInnen. Also schnell eine Anzeige schalten. Natürlich in der „Zweiten Hand“. Vor 23 Jahre riss sich, das versteht sich für unsere Generation von selbst, noch kein junger Mensch das Herz aus dem Leib, um dringend im Wedding wohnen zu dürfen. Glücklicherweise hatten wir von unserem Vermieter ein paar Monate Mietfreiheit erhalten, in der wir erst mal umbauen, renovieren und in Ruhe auf WG-Mitgliederpirsch gehen konnten. Wir waren dann auch pünktlich zur ersten fälligen Mietzahlung startklar. Unser WG-Leben im Wedding nahm seinen Lauf.
Als später die ersten WGler auszogen, konnten wir die gerade entstandenen Internetportale wie „wg-gesucht.de“ und dergleichen für Mitwohnkandidaten nutzen. Doch ich muss euch sagen, der Wedding blieb zur damaligen Zeit noch lange bescheiden auf den hintersten Rängen der Bezirke, in denen man, vor allem als Berlin-Neuling, wohnen wollte. Entweder lag die Uni zu weit entfernt, oder viele hatten sich in den Kopf gesetzt, partout im Friedrichshain, in Kreuz- oder Prenzlberg wohnen zu müssen; wieder andere ängstigten sich um die Sicherheit ihres nächtlichen Nachhausewegs (so wild musss das Großstadtleben ja nun auch nicht gleich sein!) oder aber Wedding klang ihnen einfach nicht verheißungsvoll genug in ihren Ohren. Aus diesen Gründen gingen wir dann irgendwann dazu über, „Wedding“ einfach nicht mehr in unseren WG-Zimmerangeboten zu erwähnen. Es war dann die „WG an der Ringbahn“ oder „zentral gelegen – gut mit den Öffentlichen zu erreichen“, „nur über die Brücke bis zum Prenzlauer Berg“. In den sieben Jahren des WG-Lebens stand so manchen Monat bei uns ein Zimmer leer und unbezahlt traurig herum. Das wäre heute einfach, absolut, total, undenkbar. Unmöglich.
Doch heute wohnen mein Freund und ich noch in derselben Wohnung. Es gibt keine WG mehr, auch unser Sohn ist bereits vor einigen Jahren ausgezogen und wir haben zwei von den vier Wohnungen aufgegeben. Vor allem wohnen wir offiziell schon lange nicht mehr im Wedding, sondern im Gesundbrunnen. Doch jetzt, wo der Wedding der letzte Schrei ist, flunkern wir gern ein bisschen.
Bislang erschienen:
Dzień dobry, Wedding! – Oliwia Nowakowska am 25. Dezember 2020
Vom Speckgürtel in die Mitte – Charleen Effenberger am 15. Januar 2021
Adé Prenzlberg, hallo Wedding! – Joachim Faust am 9. Januar 2021
Warum ich in den Wedding zog – und hier so gern lebe – Samuel Orsenne am 29. April 2021
Surfen auf der Mietenwelle – Andrei Schnell am 31. Mai 2021