Das Brunnenviertel ist der widersprüchlichste Teil des Wedding. Zunächst einmal, weil es gar ursprünglich gar nicht zum Wedding gehörte. Die nördliche Stadtgrenze Berlins wurde ab 1829 in der Grenzstraße festgelegt. Alles außerhalb davon gehörte zum Landkreis Niederbarnim, also auch das Gebiet des Wedding und Gesundbrunnen. Erst 1861 kam letzteres Gebiet mit 7.600 Einwohnern endgültig zu Berlin. Was heute Brunnenviertel heißt (auch dieser Name ist erst Ende des 20. Jahrhunderts eingeführt worden), war vorher als Rosenthaler Vorstadt bekannt.
v.l. Feldstraße, Gedenkstein an der Bernauer Str./Swinemünder Str. , Gleimtunnel
Geprägt vom Humboldthain-Park und der Industrie
Was das weitgehend unbesiedelte Gebiet vor den Toren Berlins im 19. Jahrhundert prägen sollte, war die Anlage des Humboldthains. Ab 1869 wurde die 34 Hektar großen Grünanlage gebaut. Gartendirektor Gustav Meyer, nach dem die südlich angrenzende Gustav-Meyer-Allee benannt wurde, legte eine Parklandschaft an, die anlässlich des 100. Geburtstags von Alexander von Humboldt den Namen Humboldthain erhielt. Der Park bestand aus verschiedenen Themenbereichen, die nach Klimazonen und Kontinenten gegliedert waren und auch fremdländische Bäume und Sträucher enthielten. An einer geologischen Wand (die sich heute im Botanischen Volkspark in Pankow befindet) konnten die Besucher auch etwas über Gesteine lernen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Park vollständig neu gestaltet, unter anderem mit einem Rosengarten.
In der gleichen Zeit erwarb der Eisenbahn-Unternehmer Henry Bethel Strousberg das Gelände zwischen Humboldthain und Usedomer Straße, um einen Schlachthof für Berlin anzulegen. Schon 1881 wurde dieser an den östlichen Stadtrand verlegt, die Hallen wurden abgerissen. Im neu entstandenen Gebiet Volta-, Watt- und Jasmunder Straße errichteten Investoren Wohnhäuser.
Auch Industrie siedelte sich im heutigen Brunnenviertel an, was der zweite wichtige Wachstumsimpuls für das Gebiet war. Ab 1888 produzierte die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, AEG, im Viertel. Zunächst am Gartenplatz, wo sie die Weddingsche Maschinenbauanstalt übernommen hatte, danach im Nordteil des abgerissenen Schlachthofs. Dort sollte bis zum Ende des ersten Weltkriegs eine riesige Produktionsstätte entstehen, in der 7.500 Menschen Arbeit fanden. Die Hallen, die Peter Behrens an der Hussiten- und an der Voltastraße errichtete, gehören bis heute zu den beeindruckendsten Industriebauten Deutschlands.
v.l.: Sebastiankirche/AEG-Stammsitz, AEG-Montagehalle, AEG-Quartier am Humboldthain
Wie ein Viertel ins städtebauliche Abseits geriet
Sind einige der AEG-Produktionsstätten auch nach der Abrisswut der Nachkriegszeit stehengeblieben, kann man das von der dichten Mietskasernenbebauung der nördlichen Rosenthaler Vorstadt nicht behaupten. Durch den Mauerbau 1961, der den Kiez entlang der Bernauer Straße jäh geteilt hatte, war das Gebiet entlang der nördlichen Brunnenstraße ins städtische Abseits geraten. Die Mauer machte den Kiez zwischen Gartenstraße, Bernauer Straße und dem heutigen Mauerpark zu einer auf drei Seiten von der Mauer abgeriegelten Zone am Rand des damaligen Westberlins.
Foto links: Meyer's Hof, Foto: Bert Sass; Putbusser/Ramlerstr., Graunstr.
Gerade dort konnte man bis 1972 mit Meyer's Hof ein besonders berüchtigtes Symbol des Wohnungsbaus des 19. Jahrhunderts besichtigen. Mit zehn Metern Abstand wurden hinter einem Vorderhaus in der Ackerstraße 132-33 fünf Querriegel errichtet, die anhand von Torbögen miteinander verbunden wurden. Insgesamt gab es 280 nicht abgeschlossene Wohnungen mit Gemeinschaftsküchen. Vor allem durch Vernachlässigung und zu hohe Bevölkerungsdichte galt Meyer's Hof zuletzt als Negativbeispiel. Letztlich wurde es abgerissen und durch gesichtslose Neubauten ersetzt.
v.l.: Brunnenstr., oben: Als noch die Brunnen flossen; u.r.: Brunnenstr./Usedomer Str.
Als Sanierung noch Totalabriss bedeutete
Das stand im Zusammenhang damit, dass das ganze heutige Brunnenviertel, Wahlkreis von Willy Brandt, mit seinen 40.000 Einwohnern 1963 als Sanierungsgebiet ausgewählt wurde. Und das hieß damals: Abriss und Neubebauung. Bis die "Sanierung" in den 1980ern fertig war, gab es in der Bundesrepublik kein größeres Sanierungsgebiet. 1980 waren von den 40.000 nur noch 14.000 Bewohner übrig. War die Rosenthaler Vorstadt bis dahin ein auf die Innenstadt ausgerichtetes Viertel, ist die dichte Blockstruktur weitgehend zerstört worden.
Radikal wurden Wohnen und Arbeiten entflochten. Der Verkehr und die Geschäfte wurden auf die Brunnenstraße konzentriert, wobei nicht viel von der kleinteiligen lokalen Wirtschaft übrig blieb. Wichtige Straßen und Plätze wie die Swinemünder Straße und der Vinetaplatz wurden total verkehrsberuhigt und begrünt. Fast alle Wohnhäuser (wenige alte Vorderhäuser sind noch an der Graunstraße, Putbusser Straße, Ramlerstraße, in den Höfen der Hussitenstraße 4 und anderen Stellen zu finden) wurden abgerissen, nur Kirchen und Schulen wurden verschont.
v.l.: Baublock am Vinetaplatz, leerstehendes Diesterweggymnasium, Putbusser/Demminer Str.
Zuerst bauten die Architekten sehr brutalistische, hohe Riegelbauten wie an der Kreuzung Demminer Straße/Brunnenstraße, wo es sogar eine Straßenüberbauung gibt. Aber je weiter die Sanierung voranschritt, desto eher orientierten sich die Architekten wieder an den klassischen Blockrändern und Bauhöhen. Es wurden wieder Wohnhöfe gebaut - am bekanntesten ist der Wohnblock Vinetaplatz/Demminer Straße/Wolliner Straße/Bernauer Straße von Josef Paul Kleihues. Man kam schließlich vom flächigen Abriss ganzer Blöcke ab und besann sich auf die „behutsame Stadterneuerung“, die 1981 offiziell in Westberlin eingeführt wurde. Dabei wurden auch Altbauten wieder einbezogen und statt dessen grundsaniert.
o.: Brunnenstr., u.: Ernst-Reuter-Schule
Kahlschlagsaniert und zerrissen
Am Brunnenviertel kann man heute, insbesondere seit der Wiedervereinigung, deutlich sehen, was es mit historisch gewachsenen Wohnvierteln macht, wenn ihre Häuser radikal abgerissen und vollkommen neu gebaut werden. Trotz ihrer innerstädtischen Lage wirken viele Blöcke oft nicht urban, sondern abweisend und kaum belebt. Für die Bewohner hingegen zeigen sich auch Vorteile - beispielsweise beim Schnitt und Komfort der modernen Wohnungen, mit ausreichend Licht, begrünten Höfen und verkehrsberuhigten Stadtplätzen wie dem Vinetaplatz. Mit dem nahen Mauerpark und dem Park am Nordbahnhof ist auch noch mehr Grünfläche hinzugekommen, wovon die Brunnenviertler enorm profitieren.
l.: Lortzingstr./Swinemünder Str., o.: Gleimoase, u.r.: Swinemünder Str.
Die Vereinigung der beiden Stadthälften hat sich auf das Brunnenviertel nicht unbedingt nur positiv ausgewirkt. Die Bevölkerung in den benachbarten Ortsteilen Alt-Mitte und Prenzlauer Berg ist sozial oft bessergestellt, höher gebildet und weniger migrantisch geprägt. Die Bernauer Straße, über die seit 2010 auch wieder eine Straßenbahn fährt, fühlt sich daher nicht nur baulich, sondern auch sozial noch immer wie eine scharfe Demarkationslinie an. 30 Jahre Teilung, Abriss und Neubau und Neuansiedlung von Bewohnern haben deutlich sichtbare Spuren hinterlassen. Das Zusammenwachsen der Stadt braucht auch hier noch Zeit.
l.: Besucherzentrum Berliner Mauer, o.r.: Beamtentor, u.r.: Mauergedenkstätte
Voller baulicher Zeitzeugen
Unabhängig davon bietet das Brunnenviertel zahlreiche Sehenswürdigkeiten, vielleicht sogar mehr als andere Teile des Weddings. Die Berliner Mauergedenkstätte – Ziel der Touristenströme - befindet sich in der Bernauer Straße Ecke Ackerstraße. Auch das Besucherzentrum der Gedenksstätte Berliner Mauer liegt im Brunnenviertel, genau an der Ecke Gartenstraße/Bernauer Straße. Sehenswert sind auch das AEG-Beamtentor von 1896/97 an der Brunnenstraße 107a, der Gleimtunnel, der seit 1990 das Brunnenviertel wieder mit dem Prenzlauer Berg verbindet und die Liesenbrücken aus den 1890er Jahren. Die funktionslose Eisenbahnbrücke in Form von geschwungenen Bögen ist Symbol für die Zeit, als das Brunnenviertel einmal eines der Zentren der deutschen Industrie war. Dass es dort heute nur noch wenig Industrie gibt, ist einer der Widersprüche des an Kontrasten reichen Gebiets zwischen Humboldthain, Mauerpark und Bernauer Straße.
o.l.: Lazarushaus, u.l.: Liesenbrücken, r.: Aussichtsplattform Flakturm Humboldthain
Es gibt noch viel mehr zu entdecken, wie die erste U-Bahn Deutschlands zwischen den beiden AEG-Werken, das älteste Krankenhaus des Wedding (Lazarushaus) und der Flakturm im Humboldthain mit seiner Aussichtsplattform. So ist das nüchtern wirkende Brunnenviertel in Wirklichkeit das an historischen Schätzen vielleicht reichste Gebiet im Wedding und unbedingt einen zweiten Blick wert. Auch wenn die Architektur mancher Gebäude zunächst abschreckend wirken mag - in diesem Kiez wurde in vielerlei Hinsicht Geschichte geschrieben.
Das Brunnenviertel als zugespitzter Ausdruck politischen Dilettantismus. Eine sichtbare Trias aus gedankenloser Wohnungsbaupolitik, verfehlter Ausländer- und Asylpolitik sowie sozial- und gesellschaftspolitischen Fehlentscheidungen. Zeitgemäßer Wohnraum mußte her, natürlich, höchst fraglich allerdings schon seinerzeit Konzentration und Ausführung. Potenziert noch obendrein durch Vergabe der neu erstellten Wohnungen so gut wie nur per Wohnberechtigungsschein. In Folge jahrzehntelanger Verschleppung der Anpassung der Einkommensgrenzen war schon in den achtziger Jahren der ursprünglich für den Mittelstand vorgesehene „Soziale Wohnungsbau“ bereits zum Wohnungsbau für arme Leute mutiert und ist es bis heute geblieben. Nicht verwunderlich daher, die kritische räumliche Ballung von Zuwanderern spezieller Provenienz, Asylanten, Sozialhilfeempfängern in zweiter oder dritter Generation, kinderreichen Problemfamilien, Alleinerziehenden und Kleinrentnern. Ein mehr als fragwürdiges Derivat. Spätere Einführung der sog. „Fehlbelegungsabgabe“ ließ dann noch Aufsteiger und Reste des noch ansässigen Bürgertums als gesellschaftliche Korsettstangen das Viertel scharenweise verlassen; ein Überangebot von adäquatem Wohnraum stand sowohl im Stadtgebiet als auch in den im Umland wachsenden Wohnparks mehr als ausreichend zur Verfügung. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Ghettoisierung, der Fortfall der „Berlinpräferenzen“ mit den bekannten Folgen für einfache, aber dennoch auskömmliche Industriearbeitsplätze. Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre, nicht verwunderlich, fortschreitende gesellschaftliche Verwerfungen. Milieuspezifische Verwahrlosungstendenzen, sichtbar an hohem Anteil von Beziehern von Transferleistungen, beachtlichem Anteil von Schülern nichtdeutscher Herkunft ohne Schulabschluß oder Berufsausbildung, steigender Jugend- und Clankriminalität und Brutalisierung des öffentlichen Raumes.
Ach ja, immer die bösen Ausländer…
So lächerlich.
interessante Einblicke in einen von mir bis jetzt komplett unterschätzten Ortsteil. Vielen Dank für den Artikel!
Der ist nicht unterschätzt. Dort möchte keiner wohnen, der nicht muss.