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Achtsamkeitskolumne zum Pausemachen:
Was wir vom Winter lernen können

24. September 2023

Neu­lich traf ich mich mit einer Freun­din in einem Café im Brun­nen­vier­tel, unweit der Mau­er­ge­denk­stät­te. Wir setz­ten uns ans Fens­ter mit Blick auf die brei­te Insel, die den Bür­ger­steig von der Brun­nen­stra­ße trennt. Hier bemalt eine Künst­le­rin nach und nach die Stäm­me der Bäu­me mit wei­ßen, orna­ment­haf­ten Mus­tern. „Wie geht es dir?“, frag­te ich mei­ne Freun­din, nach­dem wir uns am Tisch ein­ge­rich­tet und Kaf­fee bestellt hat­ten. Sie begann zu erzäh­len, dass sie beruf­lich meh­re­re Pro­jek­te am Lau­fen hat, die sich teil­wei­se über­lap­pen, und dass sie auch pri­vat stark ein­ge­bun­den. Wobei, wie sie anmerk­te, das Beruf­li­che und das Pri­va­te manch­mal gar nicht so rich­tig zu tren­nen sei.

Bemalter Baum in der Brunnenstraße. Foto: Hensel
Bemal­ter Baum in der Brun­nen­stra­ße. Foto: Hensel

Mei­ne Freun­din ist Frei­be­ruf­le­rin und selbst für die Struk­tur in ihrem All­tag zustän­dig. Als Selbst­stän­di­ge hat sie kei­ne Vor­ge­setz­ten, die ihr sagen, was sie wann und wie lan­ge zu tun hat. Sie seufz­te, dass sie bis Ende des Herbs­tes kaum einen frei­en Tag im Kalen­der ste­hen habe. Wenn sie nicht auf­pas­se, sähen die Win­ter­mo­na­te bald eben­so aus. 

„Selbst und stän­dig!“, sag­te sie mit leicht gequäl­tem Lachen, „du kennst ja den Spruch.“

Die Bedie­nung brach­te unse­ren Kaf­fee, und wäh­rend ich einen Schluck nahm, schau­te ich aus dem Fens­ter auf die kunst­voll ver­zier­ten Baum­stäm­me. Die Künst­le­rin, so dach­te ich, muss eine Engels­ge­duld haben. Mit fei­nen Pin­seln arbei­tet sie die Far­be so in die zer­furch­ten Stäm­me ein, dass am Ende trotz aller Uneben­hei­ten ein glat­tes Bild ent­steht. Es wird bis ins nächs­te Jahr hin­ein dau­ern, bis das Pro­jekt voll­endet ist, denn im Win­ter macht die Künst­le­rin bestimmt eine Pause. 

„Win­ter­pau­se!“, rief ich. Mei­ne Freun­din sah mich fra­gend an.

Ich schil­der­te ihr mei­ne Gedan­ken: Die­ses Kunst­pro­jekt geht mit den Jah­res­zei­ten, wäh­rend denen die Bäu­me mehr­mals ihr Erschei­nungs­bild ändern. Sie tru­gen fri­sche hell­grü­ne Knos­pen im Früh­ling, haben jetzt, im Som­mer, dich­tes dun­kel­grü­nes Laub, das sich im Herbst all­mäh­lich bunt ver­färbt. Die Bäu­me zie­hen in die­ser Zeit alle Nähr­stof­fe aus den Blät­tern, trans­por­tie­ren vor­han­de­ne Gift­stof­fe hin­ein und las­sen dann das Laub fal­len. Im Win­ter läuft der Orga­nis­mus auf klei­ner Flam­me, der Baum ist kahl, macht Pau­se. Im Früh­ling beginnt der Zyklus dann wie­der von vorn.

„Ich glau­be nicht, dass ‚selbst und stän­dig‘ auf Dau­er gesund ist“, sag­te ich zu mei­ner Freun­din. „Hast du dir mal über­legt, eine Win­ter­pau­se ein­zu­le­gen?“ „Nicht so wirk­lich …“, gab sie zu.

Die Künstlerin Josefine Günschel beim Bemalen eines Baumes. Foto: Schnell
Die Künst­le­rin Jose­fi­ne Gün­schel beim Bema­len eines Bau­mes. Foto: Schnell

Mit Blick auf die wun­der­schö­nen wei­ßen Mus­ter sin­nier­ten wir über die Kreis­läu­fe des Lebens. So wie die Natur sich immer wie­der in Zyklen neu erfin­det, so sind auch wir Men­schen Zyklen unter­wor­fen. Auch für uns gibt es bestimm­te Zei­ten, etwas zu initi­ie­ren, es her­an­wach­sen zu las­sen und zu pfle­gen, dann die Früch­te zu ern­ten und uns schließ­lich aus­zu­ru­hen. Lei­der haben wir Men­schen ver­lernt, unse­re Zyklen zu respek­tie­ren. Statt­des­sen glau­ben wir, immer gleich leis­tungs­fä­hig sein zu müs­sen. Was wir dabei oft ver­ges­sen, ist die Win­ter­zeit. Eine Zeit, in der schein­bar nichts pro­du­ziert, nichts geleis­tet wird. Doch wir Men­schen als Teil der Natur brau­chen genau die­se Ruhe­pha­se. Um uns zu sam­meln. Die Kräf­te nach innen zu zie­hen. Alles los­zu­las­sen, was nicht mehr dien­lich ist. Und das, was blei­ben soll, neu anzu­ord­nen.
Ohne den Win­ter gäbe es in unse­ren Brei­ten kei­ne Ver­än­de­rung und kei­nen Neu­an­fang. Ohne Win­ter wür­de das Sys­tem frü­her oder spä­ter zusammenbrechen.

Irgend­wann wur­de es Zeit zu gehen. Wir tran­ken unse­ren Kaf­fee aus, schlen­der­ten durch die Allee mit den ver­zier­ten Bäu­men und bewun­der­ten die viel­fäl­ti­gen Mus­ter und Orna­men­te. Als wir zu den Stäm­men kamen, die erst im kom­men­den Jahr bemalt wer­den, fass­ten wir einen Ent­schluss: „Sobald wir zu Hau­se sind, tra­gen wir aus­rei­chend freie Tage in unse­re Kalen­der ein. Von wegen ‚selbst und stän­dig‘. Es lebe die Winterpause!“

Schriftzug "Mach mal Pause!" Grafik: Stephanie Esser
Gra­fik: Ste­pha­nie Esser

Stephanie Esser

Stephanie Esser lebt und arbeitet im Brunnenviertel. Auf ihrem Blog www.danke-ich-liebe-dich.de schreibt sie über das Hawaiianische Vergebungsritual Ho’oponopono und darüber, wie wir unser tägliches (Zusammen-)Leben positiver gestalten können.

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