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Kleine Fluchten: Großes Kino für Ältere

15. November 2023

Auf der Kino­lein­wand geht es nur um jun­ge Men­schen und ihre Geschich­ten. Ist das noch immer so? In Blick in die Spiel­plä­ne zeigt: neu­er­dings wächst der Markt an Film­an­ge­bo­ten, die sich haupt­säch­lich der Lebens­si­tua­ti­on der Alten wid­met. Auf Movie­pi­lot fin­den sich in ver­schie­de­nen Kate­go­rien wie “Die bes­ten Senio­ren­fil­me” oder auch “Senio­ren­thril­ler” ins­ge­samt über 150 beschrie­be­ne Titel. Und auch in den Wed­din­ger Licht­spiel­häu­sern kom­men immer mehr Ü60 vor.

Die soge­nann­ten Baby­boo­mer, die­je­ni­gen also, die zwi­schen etwa 1955 bis 1969 gebo­ren wur­den, gehen spä­tes­tens ab 2020 bis 2036 in Ren­te und brin­gen einen rasan­ten Auf­schwung an Kino­fil­men mit sich, die das The­ma Alter(n) und ent­spre­chen­de Lebens­si­tua­tio­nen humo­rig und vol­ler Mensch­lich­keit auf­grei­fen. Man den­ke an „Honig im Kopf“ (2014), „Wenn wir alle zusam­men­zie­hen?“ (2011) oder den – doch nicht – ers­ten die­ser Fil­me nach einem Buch aus dem Jahr 2009 „Der Hun­dert­jäh­ri­ge, der aus dem Fens­ter stieg und ver­schwand“. Mit die­sem letz­te­ren Titel war etwas ange­spro­chen, was schon im Jahr 1978 all­ge­mein anste­ckend begeis­ternd war, näm­lich (Klei­ne Fluch­ten, 1978) das nai­ve aber ziel­stre­bi­ge Im-Schlaf­an­zug-aus-dem-Fens­ter-klet­tern, los­ge­hen und mit dem Mofa los­fah­ren … und abhe­ben. Schon Ende der 1970er hat mich, selbst Baby­boo­me­rin, und ande­re die­se Fan­ta­sie von den Kino­stüh­len in die Höhe gerissen.

Wel­che Viel­falt an Rest­wel­ten im Alter tut sich da auf? Schau­en wir etwas genauer!

Kino­saal des City Kino Wed­ding. Ein Blick ins Pro­gramm lohnt sich auch für älte­re Menschen. 

Das Gen­re Senio­ren­film ist noch nicht offi­zi­ell, man kann schon ahnen, dass unter den Gen­res und Unter­gen­res die­se Fil­me und Kult­fil­me als eige­nes bald erschei­nen wird, denn lives go on, und auch die Jün­ge­ren aus der Inter­net­zeit wer­den älter und hoch­alt­rig wer­den und ihre Lebens­welt im Alter kul­ti­vie­ren und trotz Inter­net an Eng­päs­se sto­ßen, die auf­müp­fig wer­den las­sen oder auch melan­cho­lisch, wenn­gleich das The­ma Ein­sam­keit im Alter offi­zi­ell durch poli­ti­sche Maß­nah­men ver­schie­de­ner Art flan­kiert wird.

Was gibt es nicht doch im Alter an Außer­ge­wöhn­li­chem zu erle­ben? Ist es nicht schon anstren­gend genug, die Ein­füh­rung und all­tags­re­vo­lu­tio­nie­ren­de Ver­brei­tung des Inter­net und der Gerä­te wie PC, Note­book, Tablet und Smart­phone zu erlei­den? Nie­mand dach­te zunächst dar­an, die Senio­ren zu schu­len, so dass vie­le Senior:innen nun leid­voll nicht ein­mal ein Ticket und oben­drein ein Zeit­fens­ter im Web buchen und aus­dru­cken kön­nen. Ist es für vie­le nicht schon neben Mühen und Leid, ein Aben­teu­er, den All­tag mit klei­nen Ein­schrän­kun­gen zu meistern?

Aber es geht noch wei­ter! Was die Lebens­si­tua­ti­on der Alten nun so komisch macht, sind das Auf­ein­an­der­pral­len der alten und der neu­en Welt im Alter neben der höhe­ren Fit­ness und den wohl­stän­di­schen Ansprü­chen der heu­ti­gen Zei­ten. Hin­zu kommt, dass alte Men­schen heu­te 20 bis 30 Jah­re nach der Beren­tung wei­ter­le­ben und mehr gesun­de Jah­re denn je haben. Wenn­gleich sich für vie­le und ver­mehrt Senior:innen die Fra­ge „Län­ger leben – wovon eigent­lich?“ stellt, so ist das Tei­len doch auch ein net­ter Trend und eine Lösung in und durch Netz­wer­ke gewor­den und Zugang zum Kino­film lässt sich finden.

So kom­men gro­ße, teils dra­ma­ti­sche Geschich­ten daher: Was pas­siert auf Rei­sen, wenn man den Flie­ger ver­pass­te, weil man sich in einer frem­den Stadt ver­lief und die Rei­se­grup­pe aus den Augen ver­lor? Möch­ten sie mit Ihren betag­ten Wohn­freun­den immer wie­der den schon lan­ge ver­stor­be­nen Hund suchen gehen oder den alten Jugend­freund das Haus durch Bade­was­ser über­schwem­men las­sen? Möch­ten sie bevor­mun­det wer­den und mit kaum gesprächs­fä­hi­gen Mit-Alten im Wohn­heim leben und dort fak­tisch ein­ge­sperrt sein und kul­tu­rell und see­lisch ver­küm­mern? Möch­ten sie trotz hoher sport­li­cher Leis­tungs­fä­hig­keit auf ihre Muckis ver­zich­ten oder doch am Mara­thon teil­neh­men (Sein letz­tes Ren­nen, 2013)? So viel­fäl­tig die The­men, so viel­fäl­tig die Lösun­gen und Hap­py­ends oder dra­ma­ti­schen Aus­gän­ge der Film­sto­rys, die wir erzählt bekom­men. Humor mit Gebiss ist iro­nisch und auch immer im Spiel!

Und wel­che Typen wer­den als Haupt­fi­gu­ren gezeigt? Alte mot­zi­ge Ker­le, die ros­tig und den­noch vol­ler Taten­drang trotz man­geln­den Kapi­tals an die Grün­dung einer WG gehen (Alte Jungs, 2017) wie auch in „Allei­ne war ges­tern“ (2015), das die mög­li­chen Schick­sals­schlä­ge beim Grün­den einer WG nicht ver­hehlt und dra­ma­ti­siert. Auch Jane Fon­da und Robert Red­ford, die als zwei ver­wit­we­te Nach­barn zu einer sexu­el­len Bezie­hung fin­den (Unse­re See­len bei Nacht, 2017) oder die Alten aus „Jetzt oder nie“ (2000), die unein­ge­schüch­tert von Geset­zen ihre Skat­kas­se auf­bes­sern möch­ten. Oder auch „Enkel für Anfän­ger“ (2020), in dem Alte die Kin­der der Gene­ra­ti­on ihrer eige­nen Kin­der ernst neh­men und Cha­os am eige­nen Leben erzeugen.

Alle­samt bis­her uner­füll­te Träu­me, Flucht vor einer unwirt­li­chen neu­en Wirk­lich­keit der Ver­wal­tung und Abschie­bung der Alten, gewach­sen aus schon lan­ge brö­ckeln­den Fami­li­en­ban­den, in noch so teu­re Gegen­den, Wut im Bauch über nicht akzep­tier­te erlit­te­ne Lebens­nach­tei­le, nach­ge­hol­te Wunsch­er­fül­lung wider die Kli­schees von Kin­dern, Ver­wandt­schaft und Nach­barn. Alle­samt also das Bes­te, was Kino bie­tet, näm­lich Geschich­ten, die nur das Leben selbst schrei­ben kann: krass, herz­er­grei­fend, ver­steh­bar, aber auch wider­sin­nig, Glück ver­hei­ßend, über­ra­schend, son­der­lich wie das Altern, vol­ler Schocks in Folge …

Frei­luft­ki­no Reh­ber­ge im Park Reh­ber­ge. Foto: And­rei Schnell

Und da schrei­tet das Leben vor sich hin, im Film anschau­lich pur­zelnd in einen noch nicht begreif­ba­ren Zustand. Das Leben über­schlägt sich sobald die Alten mit ihren laten­ten Träu­men und Resis­ten­zen zusam­men­kom­men und dem Drang des jun­gen Alters nach­ge­ben. Der Kon­trast zwi­schen fra­gi­ler Jugend­lich­keit, dem Drauf­los­ma­chen und der End­lich­keit, Ein­fach­heit und Beschränkt­heit der Optio­nen erzeugt schon Span­nung allei­ne, aber die Alten in den Fil­men trei­ben es noch wei­ter und Drit­te wer­den invol­viert, die fas­sungs­los dage­gen­hal­ten oder naiv mitwirken.

Einer die­ser Fil­me aus den 2000er hat mich sehr beein­druckt, weil es um das Ler­nen und das Mut­ha­ben des Zuge­ste­hens und des aus­drück­li­chen Anspre­chens der Ein­sam­keit im Alter geht. Das sich Stel­len der drän­gen­den Sehn­sucht nach einem Part­ner oder einer Beglei­te­rin, das in der Halb­öf­fent­lich­keit eines Speed Datings statt­fin­det und dabei die Span­nung aus­zu­hal­ten, etwas zu sagen beim Blick in ein von Fal­ten umspiel­tes frem­des Augen­paar in weni­ger als einem Meter kör­per­li­chen Abstands, und den Abstand wah­ren zu kön­nen, so lan­ge man „d a s Kreuz­chen“ auf dem Fra­ge­bo­gen nach der Ver­an­stal­tung und die Aus­wer­tung durch den Ver­an­stal­ter nicht erhal­ten hat. Ich mei­ne den Film „Alters­glü­hen – Speed Dating für Senio­ren“ aus dem Jahr 2014, in dem auf den ers­ten Blick kaum pas­sen­de Paa­re zusam­men­kom­men, um sich neben einer Bar in einer Run­de klei­ner Tische aus­zu­tau­schen unter Mit­men­schen, die sich des Wün­schens bei den jewei­lig wech­seln­den Tisch­part­nern genau bewusst sind und an sich zwei­feln könn­ten, weil der Ande­re dem eige­nen Typ­pro­fil nicht ent­spricht. Bei die­sem eher ruhi­gen fein­füh­li­gen Film, soll­te man nicht ein­schla­fen, denn erst in den letz­ten Film­mi­nu­ten wird die Auf­lö­sung des Rät­sels – Wer mit wem – durch kur­ze Sze­nen gezeigt!

Spielorte im Wedding

In unse­rem Stadt­teil gibt es eini­ge Orte, die lus­ti­ge Senio­ren­fil­me bie­ten und mit ori­gi­nel­len The­men über­ra­schen. Sogar Dach­ter­ras­sen-Kino und das Frei­luft­ki­no Reh­ber­ge (je Mai bis Sep­tem­ber) sind dabei, aber auch hier und dort wer­den die gro­ßen alten Brand­mau­ern für Vor­füh­run­gen genutzt. Eine die­ser Adres­sen ist Ungarn­stra­ße 83 (Sied­lung Schil­ler­hö­he, nahe Hal­te­stel­le H Osram­hö­fe), wo sich ein Dach­gar­ten in der 4. Eta­ge als stän­di­ger Senio­ren­treff befin­det. So zeig­te die GESOBAU in Schil­ler­hö­he Ende August 2023 in luf­ti­ger Höhe unter Ster­nen den inter­ge­ne­ra­tio­nel­len Film „Früh­stück bei Mon­sieur Hen­ri“ (2015), eine Tra­gi­ko­mö­die über eine jun­ge Stu­den­tin und einen alten Herrn Henri.

Viel­leicht wer­den es noch mehr die­ser Orte und Senio­ren­film­an­ge­bo­te wer­den. Viel­leicht als ein regel­mä­ßi­ges Ritu­al zu einer bestimm­ten Zeit, so dass es sich her­um­spricht. Und man soll­te ab der Som­mer­sai­son auf die aus­ge­leg­ten Fly­er und News­let­ter achten.

Zum Weiterlesen

  • Das Film­pro­gramm des City Kino Wed­ding ver­sam­melt ganz ver­schie­de­ne Geschich­ten aus dem Bereich des Art­house­ki­nos. Das aktu­el­le Pro­gramm fin­det sich online: www.citykinowedding.de
  • Das Cine­plex Alham­bra an der Ecke Mül­ler- und See­stra­ße zeigt beim “Film Cafe” immer Mitt­woch einen beson­de­ren Film – mit Kaf­fee und Kuchen. Kuchen am 14 Uhr, Film ab 15 Uhr. Das Pro­gramm fin­det sich auf der Web­sei­te des Alham­bra: Film Café
  • Im Sine­ma Tran­sto­pia in der Lin­dower Stra­ße gibt es auch regel­mä­ßig ein inter­es­san­tes, trans­na­tio­na­les Pro­gramm: Sine­ma-Pro­gramm
  • In den Som­mer­mo­na­ten lohnt ich auch ein Blick ins Pro­gramm des Frei­luft­ki­nos Rehberge
  • Wei­te­re Kinos außer­halb des Wed­ding: Kinos in Berlin

Renate Straetling

Ich lebe seit dem Jahr 2007 in Berlin-Wedding, genauer gesagt im Brüsseler Kiez - und ich bin begeistert davon. Wir haben es freundlich, bunt ohne Überspanntheit.
Jg. 1955, aufgewachsen in Hessen. Seit dem Jahr 1973 zum Studium an der FU Berlin bin ich in dieser damals noch grauen und zerschossenen Stadt. Mittlerweile: Sozialforschung, Projekte. Seit 2011 auch Selfpublisherin bei www.epubli.de mit fast 60 Titeln. Ich verfasse Anthologien, Haiku, Lesegeschichten, Kindersachbücher und neuerdings einen ökologisch orientierten Jugend-SciFi (für Kids 11+) "2236 - ein road trip in einer etwas entfernteren Zukunft" (Verlagshaus Schlosser, 28.11.22).-
Meine Beiträge zu meiner Kolumne Ü 60 habe ich für alle, die lieber analog lesen, in einem Sammelband zusammengefasst
Renate Straetling
Kolumne Ü 60 - Sommer 2022 – Sommer 2024
Ein Sammelband
Sachbuchformat, 336 Seiten
ISBN: 978-3-759847-6, - Überall im Buchhandel oder online

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