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Seit Jahrzehnten bewährt:
Durchfahrt verboten – na und?

Beim The­ma Ver­kehrs­po­li­tik kochen die Gemü­ter schnell mal hoch. Pol­ler hier, Rad­we­ge da, da gibt es Wut- und Kotzs­mi­leys, böse Kom­men­ta­re und aggres­si­ve Ges­ten, wo immer sich die Mög­lich­keit in den sozia­len Medi­en ergibt. Da wird es Zeit, viel­leicht ein­mal die Ver­än­de­run­gen ein­zu­ord­nen. Denn vie­les, was als Zumu­tung daher­kommt, gab es frü­her auch schon an zahl­lo­sen Stel­len. Nur haben sich inzwi­schen alle dar­auf ein­ge­stellt und ihre Gewohn­hei­ten ange­passt. Dar­auf soll­ten wir uns wie­der besin­nen. Also: raus aus der (gesell­schaft­li­chen) Sackgasse!

Die Welt ver­än­dert sich stän­dig. Die Tech­nik auch. Gab es frü­her Stadt­plä­ne aus Papier, zei­gen heu­te Navis die schnells­ten Rou­ten am Stau vor­bei an. Das ist enorm prak­tisch und spart Zeit. Nur für die Leu­te, deren Neben­stra­ßen auf ein­mal zu nicht mehr ganz so gehei­men Schleich­we­gen wur­den, ist das gar nicht lus­tig. Denn die Wohn­stra­ßen sind nicht dar­auf aus­ge­legt. Hier soll­ten Anwoh­ner, die einen Park­platz suchen, Eltern mit Kin­dern auf dem Weg zur Kita, Fuß­gän­ger auf dem Weg zu ihren Besor­gun­gen und Rad­fah­rer, die die Haupt­stra­ßen man­gels guter Rad­we­ge umfah­ren wol­len, das Sagen haben. 

Noch eine Ände­rung, die man wohl oder übel zur Kennt­nis neh­men muss: Der Lie­fer­ver­kehr hat dank des Online­han­dels eben­falls enorm zuge­nom­men. Kein Wun­der, dass immer mehr Innen­stadt­be­woh­ner die Lust am Auto­fah­ren ver­lie­ren und auf umwelt­freund­li­che Fort­be­we­gungs­ar­ten umstei­gen. Das lässt sich anhand von Sta­tis­ti­ken ein­deu­tig bele­gen. Daas die Auto-Zulas­sungs­zah­len stei­gen, gilt vor allem für die Außen­be­zir­ke und sagt auch nichts dar­über aus, wie vie­le Kilo­me­ter die Autos tat­säch­lich zurücklegen. 

Hat sich schon vor Jahr­zehn­ten bewährt: 

Schaut man sich außer­halb des Gebiets rund um die Bel­ler­mann­stra­ße, wo seit ein paar Mona­ten Pol­ler­rei­hen das Durch­fah­ren erschwe­ren, den Wed­ding genau­er an, fal­len einem noch viel mehr Durch­fahrts­sper­ren auf. Die Torf­stra­ße kann man nicht von der ein­mün­den­den Trift­stra­ße aus anfah­ren. Die Togo­stra­ße ist zwi­schen Kon­go­stra­ße und Trans­vaal­stra­ße für Autos tabu, die Kon­go­stra­ße selbst auch an der Ecke Togo­stra­ße. Noch­mal Togo­stra­ße: Kei­ne Durch­fahrt für Autos zur See­stra­ße. Die Ofe­ner Stra­ße endet für Kraft­fahr­zeu­ge auf Höhe der Schu­le kuz vor der Edin­bur­ger Stra­ße. Noch­mal Edin­bur­ger Stra­ße Ecke Liver­poo­ler Stra­ße: Durch­fahrt Rich­tung Nor­den nur für Rad­ler! Eben­so wei­ter nörd­lich zwi­schen Lon­do­ner und Them­se­stra­ße. Die Lim­bur­ger Stra­ße ist gleich zwei Mal unter­bro­chen: Zwi­schen der Lüt­ti­cher Stra­ße bis zum Zep­pe­lin­platz und zwi­schen Gen­ter Stra­ße bis zur Mül­lerstra­ße. Die Kiautschou­stra­ße mün­det zwar an der Torf­stra­ße ein, aber hier sit­zen Café­be­su­cher. Das Nord­ufer ist für Autos zwi­schen Samo­a­stra­ße und Torf­stra­ße tabu. Die Ira­ni­sche Stra­ße endet kurz vor der Kreu­zung mit der Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße, zumin­dest für Autos. Die Acker­stra­ße ist an bei­den Enden eine Sack­gas­se (Sche­ring­stra­ße und Ber­nau­er Stra­ße), und die süd­lich der Rüge­ner Stra­ße auto­freie Swi­ne­mün­der Stra­ße lässt alle Que­rungs­stra­ßen stumpf enden. Rund um den Net­tel­beck­platz gibt es vie­le Sper­ren, in der Gericht­stra­ße, zur Rei­ni­cken­dor­fer, zur Lin­dower Stra­ße, und und und…

Man könn­te noch mehr Bei­spie­le auf­füh­ren. Was alle gemein­sam haben? Alle Sper­ren sind vor Jah­ren oder sogar Jahr­zehn­ten gebaut wor­den. Nie­mand stört sich dar­an. Auch ich nicht. Wann immer ich dort mit dem Auto hin muss, pla­ne ich mehr Zeit ein.

Frü­her war auch nicht alles schlechter: 

Kaum wird irgend­wo eine neue Pol­ler­rei­he ange­legt, um den Navi-Durch­gangs­ver­kehr zu unter­bin­den, wer­den die immer glei­chen Stim­men, oft aus dem rech­ten und kon­ser­va­ti­ven Par­tei­en­spek­trum, laut: Man füh­le sich wahl­wei­se ein- oder aus­ge­sperrt, die “Mau­er” wer­de “wie­der auf­ge­baut”, die Pol­ler sei­en eine ästhe­ti­sche Zumu­tung, Leu­te wür­den ster­ben, weil Ret­tungs­kräf­te nicht mehr durch­kom­men, die neu ent­ste­hen­den grü­nen Oasen auf Stra­ßen­flä­chen sei­en sowie­so nur Müllan­samm­lun­gen und über­haupt sei­en Park­plät­ze doch viel schö­ner… man könn­te die Lita­nei end­los wei­ter­füh­ren. Auch siche­re Rad­we­ge an Haupt­stra­ßen wer­den kri­ti­siert, sol­len die Rad­fah­rer doch bit­te auf Neben­stra­ßen aus­wei­chen. Doch eben die­se sind genau­so wenig sicher oder nicht asphal­tiert. Und haben Rad­fah­ren­de nicht das Recht, wich­ti­ge Zie­le an einer Haupt­stra­ße ohne Lebens­ge­fahr zu erreichen?

Die bes­ten Hits der 70er, 80er und 90er Jahre:

Aber von den Maul­hel­den in Kom­men­tar­spal­ten und “Ankli­ckern” von Kotz-Smi­leys soll­te man sich nicht täu­schen las­sen. Denn das alles ist doch nur Kra­kee­len im Netz. Weder ist die Anzahl der Todes­fäl­le durch zu spät kom­men­de Ret­tungs­kräf­te im Kiez­block oder an den bestehen­den Durch­fahrts­sper­ren signi­fi­kant gestie­gen noch ist jemand im Auto ver­hun­gert, weil er oder sie die dicht befah­re­nen Haupt­ver­kehrs­stra­ßen nut­zen muss­te. Hand­wer­ker neh­men auch wei­ter­hin Auf­trä­ge im Kiez an. Pfle­ge­kräf­te las­se kei­ne alten Men­schen wegen einer Pol­ler­rei­he im Stich. Die gewon­ne­ne Auf­ent­halts­qua­li­tät an den ver­kehrs­be­ru­hig­ten Stel­len im Wed­ding möch­te in Wirk­lich­keit nie­mand mehr missen.

Denn die Erfah­rung zeigt: An Dut­zen­den Stel­len im Wed­ding funk­tio­niert die Erreich­bar­keit trotz Sper­ren seit Jahr­zehn­ten, und alle haben sich dar­an gewöhnt. Viel­leicht wird es jetzt Zeit, dass sich die Ewig­gest­ri­gen ein­mal an neue Anfor­de­run­gen anpas­sen, die Stadtbewohner:innen mit und ohne Auto an ihr Umfeld haben. Das ist eigent­lich nicht sehr schwer, und ande­re vor ihnen haben das auch schon geschafft. Und jetzt kom­men wir alle ein­mal run­ter: Durch­fahrt ver­bo­ten – na und?

Bei die­ser Umfra­ge könnt ihr sagen, ob ihr die Durch­fahrts­sper­ren für Autos sinn­voll findet. 

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

11 Comments

  1. Wisst ihr eigent­lich was der Plan in der Bel­ler­mann­stra­ße ist? Bleibt es bei die­ser unfer­ti­ge Umset­zung, wo Autos die Dia­go­nal­sper­re an den Sei­ten ein­fach umfah­ren können?

    • Nein, dazu wis­sen wir bis­her lei­der nichts. Aber wir fra­gen es den neu­en Stadt­rat ganz bald mal, versprochen!

  2. Das ist ein guter Arti­kel. Die Kreu­zung in der Bel­ler­mann­stras­se hät­te sich auch per­fekt für einen begrün­ten klei­nen Parkt geeig­net.. In Ver­bin­dung mit den schon bestehen­den Grün­strei­fen und dem Spiel­platz wäre das eine super Auf­wer­tung gewe­sen. Die Auto­fah­rer sind also momen­tan eigent­lich noch ganz gut bedient.

  3. Ich fin­de die Pol­ler und Stras­sen­re­ser­vie­run­gen für Rad­fah­ren­de und Men­schen zu Fuß sehr gut. Ich möch­te aber gern auf ein ande­res Pro­blem hin­wei­sen, das ver­stärkt in den Som­mer­mo­na­ten auf­taucht: Es gibt immer mehr Renn­fah­rer auf der Mül­lerstra­ße. Motor­rä­der grö­len nachts, aber auch tags­über, mit unglaub­li­cher Laut­stär­ke über die Ampeln und machen ihre Aus­fahr­ten durch den gan­zen Kiez, auch auf den Neben­stra­ßen, in einem Affen­zahn! Auto­fah­rer mit schi­cken Flit­zern beschleu­ni­gen vor gel­ben Ampeln und rasen, oft in Renn­for­ma­ti­on (zwei neben­ein­an­der, die sich über­ho­len wol­len) über die Mül­lerstr. Das alles mit ohren­be­täu­ben­dem Lärm und knal­len­den Aus­puf­fen. Die Poli­zei scheint unin­ter­es­siert oder hilf­los gegen­über die­sem Row­dy­tum, obwohl sie auf dem Park­platz zwi­schen Cent­re Fran­cais und Alten­heim wun­der­bar eine Ver­kehrs­kon­troll­stel­le auf­stel­len und Gebüh­ren kas­sie­ren könn­ten. Kann der Wed­ding­wei­ser bit­te die­ses The­ma mal auf­grei­fen, recher­chie­ren und berich­ten? Danke!

  4. Vie­le der auf­ge­führ­ten Bei­spie­le – Nord­ufer, Kiautschoustr., Trift-/Torf­str., Gerichts­str. usw. – sind alle­samt zu einer Zeit ent­stan­den, als es noch ein funk­tio­nie­ren­des Umfah­rungs­sys­tem gab und die Aus­weich­rou­te über die dafür vor­ge­se­he­nen Haupt­str. verliefen.
    Aber seit­dem durch die Anord­nung wei­te­rer Sper­ren (z. B. Gen­ter Str., Turi­ner Str…. ) bei gleich­zei­ti­ger Ver­en­gung der eigent­lich ein­mal auf­nah­me­be­rei­ten Haupt­str. (Mül­ler- und Luxem­bur­ger -, Schul­str..) das Ver­kehrs­chaos aus­ge­bro­chen ist, kochen die Gemü­ter zu Recht hoch!
    Hier wur­de die eigent­lich gute Idee, näm­lich den Ver­kehr mög­lichst wei­test­ge­hend aus den Kiezen raus­zu­hal­ten, kom­plett kon­ter­ka­riert. Am täg­li­chen Cha­os rund um die gro­ßen Kreu­zun­gen am Leo und an der See­str. läßt sich das Schei­tern der rein ideo­lo­gisch geführ­ten Ver­kehrs­po­li­tik bes­tens ablesen!

    • Lei­der hat ihr Bei­trag nichts mit der Rea­li­tät zu tun. Der Grund für die stei­gen­de Über­las­tung von Haupt­ver­kehrs­ach­sen liegt ein­zig und allein in einer stei­gen­den Anzahl Kfz im Stadt­ver­kehr begrün­det, eine Ent­wick­lung die jahr­zehn­te­lang durch ein­sei­ti­ge Ver­kehrs­po­li­tik zuguns­ten des Autos ent­stand. Dem kann man sich natür­lich wie sie kampf­los erge­ben und wei­ter dabei zuschau­en, wie die Stadt im Stau ertrinkt, der in dem Sys­tem moto­ri­sier­ter Indi­vi­du­al­ver­kehr inher­ent ein­ge­baut ist. Oder man hört unideo­lo­gisch auf die Erkent­nis­se der Ver­kehrs­for­schung und för­dert statt­des­sen ande­re, effi­zi­en­te For­men der Mobilität.

    • Klei­ne Anmer­kung am Ran­de, weil mich das lang­sam wirk­lich nervt: Jede Poli­tik ist ideo­lo­gisch moti­viert, denn sie spie­gelt eine Welt­an­schau­ung wider. Das ist die Defi­ni­ti­on des infla­tio­när falsch ver­wen­de­ten Begriffs. Also ist jede Poli­tik von jeder Par­tei ideo­lo­gisch. Wenn eine Poli­tik nicht inter­es­sens­ge­lei­tet ist, ist sie sinnlos.

      • Nun gut – ich habe ver­sucht, es ent­spre­chend zu umschrei­ben, aber im Klar­text heißt das für mich, dass die Grü­nen mit ihrer Pose auf­dring­li­cher Selbst­ge­wiss­heit bei gleich­zei­ti­ger Igno­ranz der Fak­ten, alles ver­sau­en, was über Jah­re erfolg­reich auf­ge­baut wor­den ist.
        Dies gilt auf der – hier nat. nicht zur Debat­te ste­hen­den – Bun­des­po­li­tik (Kli­ma, Wirt­schaft, Ener­gie …) im Gro­ßen, wie der loka­len Ver­kehrs­po­li­tik (Ver­pol­le­rung, Rad­we­ge­sys­tem …) im Kleinen!
        Man kann nur auf Distanz gehen, zu die­ser Partei!

        • Das kannst Du gern machen, das steht Dir frei. Aber der Arti­kel beschreibt, dass ver­kehrs­be­ru­hi­gen­de Maß­nah­men schon immer und von allen Par­tei­en umge­setzt wur­den und ich fin­de, das ist genau so rich­tig beschrie­ben. Bei die­sem spe­zi­el­len The­ma fin­de ich es quatsch, auf den Grü­nen rum­zu­ha­cken. SPD und Lin­ke sind auch gro­ße Fans von Fahr­rad­we­gen zum Bei­spiel. Und ich kann wirk­lich nicht ganz nach­voll­zie­hen, was Du beim The­ma Ver­kehrs­si­cher­heit im Wed­ding damit meinst, dass “die Grü­nen mit ihrer Pose auf­dring­li­cher Selbst­ge­wiss­heit bei gleich­zei­ti­ger Igno­ranz der Fak­ten, alles ver­sau­en, was über Jah­re erfolg­reich auf­ge­baut wor­den ist” ver­saut haben. Nach mei­ner Beob­ach­tung sind in vie­len Bezir­ken Rad­we­ge ent­stan­den, sogar in Rei­ni­cken­dorf (!), der Wed­ding wur­de immer aus­ge­spart oder ver­ges­sen. Was wur­de im Wed­ding genau auf­ge­baut? Wir waren der ver­ges­se­ne Stadt­teil, das muss man ein­fach so sagen.

  5. Ja, sol­che rela­ti­vie­ren­den Bei­trä­ge sind sooo wich­tig. Dan­ke für eure wert­vol­le jour­na­lis­ti­sche Stadtteilarbeit

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