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Telekom deaktiviert letzte öffentliche Fernsprecher:
Wo einst die Groschen fielen

Im November endete die Münzzahlung bei öffentlichen Telefonzellen, nun auch die Funktion mit Telefonkarten. Betrachtungen zu einem wichtigen, aber aussterbenden Stadtmöbel.
12. Februar 2023
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Tele­fon­säu­le der Tele­kom – Foto Til­man Vogler

Ein ers­ter sog. Fern­sprech­ki­osk stand ab Janu­ar 1881 in Ber­lin, der Trend kam aus Ame­ri­ka. Ende der 1890er wur­den Tele­phon-Bil­lets aus­ge­ge­ben, die nach Minu­ten­län­ge ver­kauft wur­den. Ab den 1920er Jah­ren waren Münz­fern­spre­cher im Stadt­bild nor­mal, ver­schie­de­ne Far­ben waren jeweils die Norm, bis ab 1951 Deutsch­land in Ost und West das Gelb ein­zog. Die gel­ben Häus­chen der Bun­des­post gab es zwi­schen den Jah­ren 1947 bis 1994. Mit­te der 1990er Jah­re wur­de die Farb­ge­bung der Münz­fern­spre­cher dem Design der Tele­kom in Weiß-Grau-Magen­ta angepasst.

Nun wer­den fast alle rest­li­chen öffent­li­chen Fern­spre­cher abge­baut. Im Wed­ding sind es allen­falls noch 20 Tele­fon­häus­chen und in Gesund­brun­nen höchs­tens noch 33. Und da hat sich auch schon etwas geändert.

Die Groschen fielen (oft genug) durch

Ab 1978 wur­den die gel­ben Häus­chen auf­ge­stellt. Sie wur­den kurz TelH78 genannt. Bis zum Jahr 1984 konn­te man dort noch für 20 Pfen­ni­ge pro Ein­heit fern­spre­chen! Kos­ten­güns­tig und außer­dem wirt­schaft­lich ist das Tele­fo­nie­ren am Münz­fern­spre­cher schon lan­ge nicht mehr, denn ein Inland­s­an­ruf kos­tet für die ers­te Minu­te bereits 1,20 € und jede wei­te­re Minu­ten­ein­heit 10 Cent. Zudem. Anders­her­um betrach­tet sind die Tele­fon­häus­chen dem Van­da­lis­mus und Sil­ves­ter­schä­den pro Jahr in Mil­lio­nen­hö­he aus­ge­setzt, die meis­ten haben grund­sätz­lich einen Strom­ver­brauch wie ein spar­sa­mer Kühl­schrank im Jahr (fast 15 Mil­lio­nen KWh pro Jahr) und etwa 3800 von 12000 ver­blie­be­nen Tele­fon­häus­chen brach­ten gar kei­nen Umsatz mehr. Die kri­ti­sche Gren­ze wur­de 2021 bei 50 € ange­setzt, die­je­ni­gen, die weni­ger Umsatz ein­brach­ten, wur­den dann abgebaut.

Fas­se dich kurz!

Nimm Rück­sicht auf die War­ten­den!

Tele­fon kann Leben retten!

(Merk­sprü­che der Post)

Was konn­te man an Umstän­den, Über­ra­schun­gen und Beson­der­hei­ten beim Nut­zen der Tele­fon­häus­chen erle­ben! Ich sel­ber erin­ne­re mich an die Woh­nungs­su­che als Stu­den­tin in West­ber­lin. Wenn man wuss­te, wo die Aus­ga­ben der gro­ßen Ber­li­ner Wochen­end­zei­tun­gen mit dem Immo­bi­li­en­teil nachts aus­ge­ge­ben wur­den – damals war der Ver­mie­te-Anteil und nicht der Ver­kau­fe-Bereich in den Zei­tungs­aus­ga­ben noch der Wesent­li­che – dann soll­te man auch gleich­zei­tig vor Ort ein Tele­fon­häus­chen geka­pert haben, um durch Fake-Gesprä­che nach Wes­si­land die Pole-Posi­ti­on ein­zu­neh­men, was natür­lich auch zu Fake-War­te­schlan­gen an den Münz­fern­spre­chern rund um den Bahn­hof Zoo führte.

Es gab schar­fe Bli­cke, hef­ti­ges Anklop­fen an der Schei­be und böse Zun­gen, wenn man damit auf­fiel und den Ver­dacht nähr­te, hier Zeit zu schin­den, um das geka­per­te Häus­chen zu hal­ten. Die­ser Auf­wand nütz­te aller­dings nur, wenn man auch einen Ver­mie­ter sams­tags abends am Tele­fon erreich­te, der bereit war, sofort Besich­ti­gungs­ter­mi­ne zu vereinbaren.

Vie­le Jah­re spä­ter. Die­se Münz­fern­spre­cher waren auch noch nütz­lich, als die Kin­der klein und immer mit zwei Gro­schen unter­wegs waren, nach­mit­tags auf eige­nen Wegen und man zwi­schen­durch gern eine Nach­richt erhal­ten moch­te, um zu wis­sen, es ist alles gut mit dem Kind. So hat­te mein Sohn ein­mal einen uner­be­te­nen und eigent­lich einen von mir ver­bo­te­nen Aus­flug mit sei­nem Rad unter­nom­men, und er rief nach etwas län­ge­rer Pau­se tat­säch­lich an, um mir mit­zu­tei­len: „Ich bin bei den gro­ßen Män­nern unter der Brü­cke! Es dau­ert etwas län­ger!“ Mir fiel – ob Sie es glau­ben oder nicht – tat­säch­lich der Tele­fon­hö­rer im Schock aus der Hand, was in die­sem Moment unprak­tisch und wider­sin­nig war, denn ich woll­te sofort wis­sen, wo genau er war. Mein stren­ger Rat, sofort von den Clo­chards weg­zu­ge­hen und einen U‑Bahnhof auf­zu­su­chen, wo ich bald sein wür­de, um ihn abzu­ho­len, wur­de ange­nom­men. Und mei­ne Sor­ge lös­te sich nur ein wenig in Luft auf, da mein Sohn Borofsky‘s Mole­cu­le Men am Trep­tower Park meinte. 

O Schreck, lass nach! Man kann sich nicht vor­stel­len, wie zor­nig mich schon in mei­ner Jugend die Tat­sa­che mach­te, dass man die­se Fern­spre­cher nicht anru­fen oder rück­ru­fen konn­te. Bald schon nach die­sem Aus­flug, der zudem mit einem Plat­ten ende­te, gab es erschwing­li­che Han­dys auch für Kin­der und die gro­ße Wel­le des Schü­ler­han­dys setz­te ein.

Seit Dezem­ber 2021 mit dem Inkraft­tre­ten des neu­en Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­set­zes (TKG) hat die Tele­kom nicht mehr den Auf­trag, die­se Uni­ver­sal­dienst­leis­tung der öffent­li­chen Fern­spre­cher und Not­ru­fe flä­chen­de­ckend anzubieten.

Bun­des­weit gab es Mit­te der 1990er Jah­re 160.000 Tele­fon­häus­chen, ‑zel­len und ‑säu­len. Nach­dem etwa 90 % der Tele­fon­häus­chen abge­baut wur­den, sind es heu­te noch maxi­mal 12.000. Davon wer­den vor­aus­sicht­lich etwa 3000 an zen­tra­len Orten zu sog. Small Cells, Anten­nen­stand­or­te umge­wan­delt wer­den; die­se ent­las­ten die Dach­stand­or­te für die gro­ßen Mobilan­ten­nen. Vom Fern­spre­cher zur Funkzelle!

In Ber­lin stan­den im Jahr 2016 noch etwas über 1230 Zellen.

Aber was wird mit den alten und letz­ten Tele­fon­zel­len gesche­hen? Tau­sen­de sind nahe Pots­dam bei Michen­dorf im Wald auf einem Zel­len-Depot gela­gert, erkenn­bar als ein Farb­klecks auf Goog­le Maps. Man kann die­se als Pri­vat­per­son gebraucht kau­fen und wei­ter­ver­wen­den. Für das gel­be Häus­chen TelH78 sind etwa 450 € zu zah­len, für TelH90, also die magen­ta-grau­en Zel­len, muss man etwa 350 € berappen.

Dane­ben gibt es wei­te­re Umnut­zun­gen, die sich in den Städ­ten ver­brei­ten: die Bücher­box zum frei­en Tau­schen und Neh­men von Büchern. So zählt Wiki­pe­dia in Ber­lin im Sep­tem­ber 2021 84 Bücher­bo­xen, die alle­samt gepflegt und gehegt wer­den, oft nahe bei sozia­len Pro­jek­ten: So im Wed­ding im Sol­di­ner Kiez an der Grün­ta­ler Stra­ße auf der Mit­tel­in­sel oder bei der Fabrik Oslo­er Stra­ße, auch am Cent­re Fran­cais, Mül­lerstra­ße 74, neben dem klei­nen Eif­fel­turm (Hier­bei han­delt es sich aller­dings um eine fran­zö­si­sche Telefonkabine).

Der Fan­ta­sie sind kaum Gren­zen gesetzt: ob als Dusche im Gar­ten, als deko­ra­ti­ves Gewächs­haus, als Requi­si­te im Kino oder gar als Sou­ve­nir für das Ken­nen­ler­nen beim Tele­fo­nie­ren am Tele­fon­häus­chen, hier lässt sich etwas Indi­vi­du­el­les oder Ori­gi­nel­les bas­teln. Viel­leicht fin­den sich wei­te­re pfif­fi­ge Ideen für die­ses Kul­tur­gut aus dem aus­klin­gen­den Zeit­al­ter des Analogen.

Text © Rena­te Straetling

Links

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/telefonzellen-101.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Telefonzelle_(Deutschland)

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96ffentlicher_B%C3%BCcherschrank#Listen_von_B%C3%BCcherschr%C3%A4nken

Renate Straetling

Ich lebe seit dem Jahr 2007 in Berlin-Wedding, genauer gesagt im Brüsseler Kiez - und ich bin begeistert davon. Wir haben es bunt ohne Überspanntheit.
Jg. 1955, aufgewachsen in Hessen. Seit dem Jahr 1973 zum Studium an der FU Berlin bin ich in dieser damals noch grauen und zerschossenen Stadt. Mittlerweile: Sozialforschung, Projekte. Seit 2011 auch Selfpublisherin bei www.epubli.de mit etwa 55 Titeln. Ich verfasse Anthologien, Haiku, Lesegschichten, Kindersachbücher und neuerdings einen ökologisch orientierten Jugend-SciFi (für Kids 11+) "2236 - ein road trip in einer etwas entfernteren Zukunft" (Verlagshaus Schlosser, 28.11.22).-
Ich habe noch viel vor!
www.renatestraetling.wordpress.com

3 Comments

  1. Gut recher­chier­ter Bei­trag, lie­be Rena­te. An der Tele­fon­säu­le auf dem Titel­bild ‑in der dama­li­gen Lüde­ritz­stra­ße habe ich mei­ne Jungs in die Kunst des Tele­fo­nie­rens per Münz­fern­spre­chers ein­ge­wie­sen. Ich dach­te, das wür­den sie mal für spä­ter brauchen.
    Was aus den Tele­fon­zel­len wird? Ich ken­ne sie als Ruhe­räu­me in Groß­raum­bü­ros, wenn man mal kon­zen­triert nach­den­ken will, als Rau­cher­zel­len mit Abzugs­hau­be und als moder­ne Tele­fon­zel­len in Co-Working-Spaces, wenn man mit sei­nem Han­dy mal ein Gespräch füh­ren will, bei dem nicht alle zuhören. 😉

  2. So übel war die Tele­fon­zel­len­kul­tur nicht. Sehr sinn­lich die gan­zen Gerü­che, Geräu­sche und Sozi­al­kon­tak­te. Kom­mu­ni­ka­ti­on, auch mit wild­frem­den, hat­te eine viel grö­ße­re Bedeu­tung als heu­te! In vie­ler Hinsicht!!

    Kom­mu­ni­ka­ti­on muss­te gewollt sein, und gekonnt: man muss­te dafür orga­ni­siert sein. – Wenn Kom­mu­ni­ka­ti­on erwünscht war: Ich kann­te wel­che, die nann­ten das Tele­fon “Kul­tur­brem­se”, weil es sie von der Arbeit abhielt und sie dann weni­ger Muße hat­ten, ihre Fami­lie und Freun­de zum Essen zu tref­fen. Ich sel­ber stell­te mein Tele­fon öfters in den Kühl­schrank. Da konn­te es klin­geln, ohne zu stö­ren, aber war trotz­dem nicht “besetzt”.

    Ein Smart­phone heu­te ist gera­de­zu lang­wei­lig. Denn nie wie­der waren die Han­dys so futu­ris­tisch wie zu Beginn, als sie noch gar nicht ‘Han­dys’ hie­ßen. 1988 hat­te ich mein ers­tes, einen Moto­ro­la Piep­ser im grün­trans­pa­ren­ten Gehäu­se für die Hosen­ta­sche. Ich konn­te mich anpiep­sen las­sen (auch laut­lo­se Vibra­ti­on ließ sich bereits ein­stel­len!), es blink­te wie bei E.T., die Num­mer erschien auf dem Dis­play und ich ging zum Zurück­ru­fen wohin? – In die nächs­te Telefonzelle!

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