Ausblick verpflichtet: ein Balkon, der einen Park überblickt, zwei rote Klappstühle und ganz viel Zeit. Grund genug, das Geschehen zu dokumentieren. Denn es gibt weiterhin viel zu sehen.
Nach einer weiteren Woche daheim fühlt sich die neue Lage seltsam normal an. Dass eine Freundin anbietet, einem im Vorbeigehen eine Portion schwedische Kartoffelsuppe zuzustecken, wird erfreut registriert, nicht verstört hinterfragt. Und die Beobachtungen vom Balkon laufen sowohl Netflix als auch Nachrichten mühelos den Rang ab.
Night shift
Dienstag, 22:35 Uhr
Leicht angetrunken überblicke ich das nächtliche Panorama. Manchmal braucht es eine Videokonferenz, um die Videokonferenzen des Tages zu besprechen. Mein persönliches Quarantini-Rezept: Lieblingskollegin, Grauburgunder und eine nicht geschüttelte Internetverbindung. Danach lässt sich der Laptop gleich viel entspannter zuklappen. Und am nächtlichen Balkon nimmt langsam der Wind dem Wein den Wind aus den Segeln. Und wie ich da in Richtung Ausnüchterung steuere, blinkt mir ein rotes Licht entgegen. Die Leuchtschrift auf dem Dach von „Mediamarkt“ flackert. Wie bezeichnend. Dieses Bollwerk der Technik und schlechten Werbesprüche, mit der grellen Beleuchtung und den für immer kursiv gesetzten PREISKNÜLLERN: Jetzt ist es genauso leer wie der Wortwitz der aktuellen Osterkampagne.
Zugegeben, Elektrofachgeschäfte bedeuten für mich das Grauen, das andere bei schwedischen Möbelhäusern empfinden – und dass diese in meiner Familie lange Tradition haben (und teils genauso schlechte Wortspiele) will und kann ich nicht verheimlichen, hier auf meinem roten Klappstuhl, der vermutlich Sitzgöd heißt. Noch dazu arbeiten in beiden Unternehmen viele Menschen, die einen tollen Job machen und ihn daher auch behalten sollen. Eher sind es die Kunden solcher Elektro-Läden, die mir suspekt sind: die iPhone-Vorbesteller, die Flatscreen-Fanatiker, die Geiz-Geilfinder. Und beim Gedanken an sie wird mir plötzlich klar, welche Schäfchen ich an diesem Abend zählen werde. Während die roten Lichter rhythmisch zum Fenster hinein flackern, sehe ich die Szene genau vor mir: ein Black Friday mit 1,5 Metern Sicherheitsabstand. Und einer Schnäppchenjäger-Schlange bis dahin, wo die Panke entspringt.
Throwback Thursday
Donnerstag, 14:15 Uhr
Wer schon länger im Wedding wohnt oder wandelt, erinnert sich vielleicht noch an eine Bar namens Fat Louis. Sie vereinte im Grunde die üblichen Klassiker: zusammengewürfelte Möbel, Tischtennis im Hinterzimmer, Free Jazz, wenn der Besitzer wollte, dass die letzten nach Hause gehen. Aktuell sind auch die letzten längst zu Hause, da braucht es keinen Free Jazz. Warum ich mich trotzdem gerade in diese Bar zurückversetzt fühle, liegt auch nicht an zusammengewürfelten Möbeln oder Tischtennis (Hinterzimmer Fehlanzeige). Es liegt an einem Cheesecake. Einem Cheesecake, wie es ihn nur im Fat Louis gab. (Warum nicht mehr Bars Kuchen zum Bier anbieten, wird mir für immer ein Rätsel sein.) Gebacken hat ihn aber kein Free-Jazz-Fan, sondern die beste Nachbarin der Stadt, inklusive Lieferung an die Türschwelle und Schwätzchen auf Abstand. Sie ist eine von vielen Freundschaften, die irgendwie rund um diese Bar entstanden – und geblieben sind.
Während ich das perfekte Verhältnis von Cheese und Cake in mich hineinschaufle, denke ich an das perfekte Verhältnis von Menschen, das sich in meinem Freundeskreis so Schicht für Schicht aufeinandergelegt hat. Ich freu mich über das Pärchen, das sich damals im Fat Louis den ersten Cocktail geteilt hat und mir heute mit zwei (deutlich elaborierteren) Gin Tonics in die Kamera prostet. Über die Kuchen, Suppen, Trinksprüche und Traditionen, die immer noch und jetzt erst recht ihren Weg zu mir finden. Zugegeben, langsam vermute ich auch ein leichtes Sugarhigh hinter diesem emotionalen Balkon-Moment. Trotzdem sage ich laut zu mir selbst: „Wir sind was ganz Besonderes.“ Und erwarte irgendwie schon wieder Applaus dafür. Was ich bekomme, ist eine demonstrativ zugeknallte Balkontür links oben. Unbewusst habe ich angefangen, eine Playlist namens „The sound of Free Jazz“ durch meine Bluetooth-Box zu jagen. Naja, ist eh Zeit zum Nachhausegehen.
Fotos/Text: Alexandra Resch