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Die jüdische Badstraßen-Community von 1897–1939:
Prinzenallee 87: Synagoge des “Brunnens”

10. Juli 2021
Ehe­ma­li­ge Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87, Foto: Andar­as Hahn (Juni 2021).

“Ber­lin, 9. April 1912. In der Nacht zum Oster­sonn­tag wur­den zwei Ein­bre­cher, als sie in der Syn­ago­ge in der Prin­zen­al­lee einen Ein­bruch ver­üb­ten und bereits meh­re­re wert­vol­le Gebets­ge­gen­stän­de zusam­men­ge­rafft hat­ten, von zwei patrouil­lie­ren­den Schutz­leu­ten ver­haf­tet. Eini­ge ande­re im Tem­pel befind­li­che Ein­bre­cher gaben Schüs­se auf die Poli­zei­be­am­ten ab und ent­ka­men”. So berich­tet unter der Über­schrift “Schie­ßen­de Tem­pel­ein­bre­cher” das Deut­sche Volks­blatt am 9. April 1912 über einen Vor­fall in der Syn­ago­ge in der Prin­zen­al­lee 87. Etwas anders wird das Gescheh­nis im Israe­li­ti­schen Fami­li­en­blatt dar­ge­stellt: dem­nach fie­len die bei­den Ein­bre­cher zwei Poli­zis­ten am Brun­nen­platz auf und es begann eine wil­de Ver­fol­gungs­jagd mit Schusswechsel. 

Kom­men Sie mit ins jüdi­sche Leben zwi­schen Bad­stra­ße und Oslo­er Straße!

Gegend Bad­stra­ße Ecke Prin­zen­al­lee, um 1908 (Strau­be 1910)

1.
1899–1939 Ahavas Achim: Von der Gründung bis zur Zwangsliquidation

Es begann mit einem Pau­ken­schlag, mit enga­gier­ten Kauf­leu­ten und Gelehr­ten, mit jüdi­schen Bür­gern ganz unter­schied­li­cher Her­kunft, die im Wed­ding den pri­va­ten Reli­gi­ons­ver­ein Aha­vas Achim (Israe­li­ti­scher Reli­gi­ons­ver­ein Aha­was Achim) im Jahr 1899 gegrün­de­ten, so das Grün­dungs­jahr laut Jüdi­scher Rund­schau, Heft 27, vom 3. Juli 1903. Aber die Grün­dungs­ge­schich­te reicht etwas wei­ter zurück: wohl schon 1897 orga­ni­sier­ten Lou­is Rosen­bach und Wil­helm Kurz eher pro­vi­so­ri­sche Got­tes­diens­te an den hohen Fei­er­ta­gen, so ein Rück­blick auf 30 Jah­re Syn­ago­gen­ver­ein, erschie­nen im Israe­li­ti­schen Fami­li­en­blatt am 7. Novem­ber 1929. 

Aus die­sen ers­ten Zusam­men­künf­ten ent­wi­ckel­te sich eine klei­ne Grup­pe jüdi­scher Bür­ger, die die­se Tra­di­ti­on nicht auf­ge­ben son­dern stär­ken woll­te. Die ers­ten Got­tes­diens­te fan­den noch in Wei­manns Volks­gar­ten statt – es wur­de ein Saal gemie­tet. Somit kam es zur Ver­eins­grün­dung 1899, und nach­dem der Saal im Volks­gar­ten zu klein war, zog der jun­ge Ver­ein in ein Gar­ten­häus­chen in der Bad­stra­ße, wel­ches für got­tes­dienst­li­che Zwe­cke umge­baut wur­de. Am ers­ten Abend des Cha­nuk­ka­fes­tes 1899 wur­de die­se ers­te Syn­ago­ge am “Brun­nen” ein­ge­weiht. Inner­halb eines Jah­res war der Raum aber­mals zu klein und der Ver­ein zog im Sep­tem­ber 1900 in einen Neu­bau an der Adres­se Prin­zen­al­lee 87.

Vier Jah­re nach sei­ner Grün­dung hat­te der Pri­vat-Syn­ago­gen­ver­ein Aha­was Achim 40 Mit­glie­der und 20 Schü­ler. Für Ber­lin wur­de um 190203 davon aus­ge­gan­gen, dass in der Stadt ca. 120.000 Juden leben. Somit gab es ver­gleichs­wei­se weni­ge jüdi­sche Bewoh­ner im Wed­ding. Und nicht jeder mit jüdi­scher Her­kunft woll­te sich im Kiez enga­gie­ren, son­dern besuch­te die Alte oder Neue Syn­ago­ge, die sei­ner­zeit gut 45 Minu­ten ent­fernt lagen. 

Was gab es an jüdi­schen Ein­rich­tun­gen im Wed­ding? Im Jahr 1899 stand ledig­lich fest, dass an der Exer­zier­stra­ße (heu­te Ira­ni­sche Stra­ße) ein jüdi­sches Alten­heim ent­ste­hen wird. Es wur­de am 21. Sep­tem­ber 1902 mit­samt Syn­ago­ge (gro­ßem Bet­saal) eröff­net. Zeit­gleich und nur 800 m ent­fernt voll­brach­te der pri­va­te Syn­ago­gen­ver­ein Aha­was Achim ein klei­nes Wun­der. In den ers­ten zehn Jah­ren war als Rab­bi­ner Dr. Pick tätig, der für meh­re­re pri­va­te Reli­gi­ons­ver­ei­ne in Ber­lin arbei­te­te. Den Vor­stand des Syn­ago­gen­ver­eins Aha­was Achim bil­de­ten: Herr Wol­pe, Herr Rosen­bach, Herr Baer, Herr Kurz, Herr Dr. But­ter­milch, Herr Schrey­er und Herr Joseph*. Seit Juni 1900 küm­mer­te sich der Ver­ein um Reli­gi­ons­un­ter­richt – Leh­rer war Rab­bi­ner Dr. Pick, in der städ­ti­schen Gemein­de­schu­le an der Prin­zen­al­lee, so Der Gemein­de­bo­te am 31. August 1900.

Der Syn­ago­gen­ver­ein plan­te Ver­an­stal­tun­gen. Jüdi­sches Leben begann sich am Gesund­brun­nen zu zei­gen und es gab täg­li­che Got­tes­diens­te. Im Jahr 1925 folg­te die Umbe­nen­nung in “Syn­ago­gen­ver­ein Gesund­brun­nen Aha­was Achim”. Die Geschäfts­stel­le befand sich in der Bad­stra­ße 61 bei Dr. Adolf Levy. 25 Jah­re nach der Grün­dung, im Jahr 1925, gehör­ten noch immer eini­ge Grün­dungs­mit­glie­der zu den wich­tigs­ten Mit­glie­dern: Lou­is Rosen­bach (2. Vor­sit­zen­der) und Isaac Baer (Schrift­füh­rer). Über­lie­fert ist, dass 150 Män­ner ein­ge­tra­gen waren, wäh­rend über die Anzahl der Frau­en kei­ne Zah­len vor­lie­gen. Bereits zu Beginn der 1930er Jah­re ver­zeich­net der Ver­ein einen Rück­gang bei den Mit­glie­dern – dafür ist die libe­ra­le Bewe­gung im Wed­ding sehr erfolg­reich. Ab 1934 muss­ten die Ver­eins­ver­samm­lun­gen poli­zei­lich ange­mel­det wer­den und ein Beam­ter wohn­te den Ver­samm­lun­gen bei. Am 20. Okto­ber 1939 begann man mit der Durch­set­zung des Reichs­bür­ger­ge­set­zes vom 4. Juli 1939 und der Syn­ago­gen­ver­ein wur­de aufgelöst.

Prin­zen­al­lee 87 mit Syn­ago­ge im Innen­hof an der Gren­ze zur Haus­num­mer 86

2.
Im Herzen des Gesundbrunnen und wenige Meter von der Quelle entfernt

Die Bad­stra­ße war um 1900 der Mit­tel­punkt des Stadt­vier­tels. Es reih­ten sich neue Wohn- und Geschäfts­häu­ser anein­an­der. Eine rege Bau­tä­tig­keit ver­wan­del­te vor­mals zwei- und drei­ge­schos­si­ge Gebäu­de in impo­san­te Bau­ten mit reprä­sen­ta­ti­ver Aus­strah­lung. Und die Men­schen ström­ten vom 1872 eröff­ne­ten und 1895 bis 1898 erwei­ter­ten Bahn­hof Gesund­brun­nen auf die Bad­stra­ße und ver­teil­ten sich in den Häu­sern und Nebenstraßen.

Zwi­schen Pan­ke und Prin­zen­al­lee befand sich die ursprüng­li­che Quel­le, wel­che dem Gesund­brun­nen sei­nen Namen gab und schon im frü­hen 19. Jahr­hun­dert eine rege Bau­tä­tig­keit evo­zier­te. An der Kreu­zung Bad­stra­ße Ecke Pank­stra­ße stand seit 1835 eine von Schin­kels Vor­stadt­kir­chen und nur fünf Haus­ein­gän­ge ent­lang der Prin­zen­al­lee soll­te der 1899 gegrün­de­te jüdi­sche Reli­gi­ons­ver­ein Aha­was Achim einen fes­ten Ort zur Reli­gi­ons­aus­übung eta­blie­ren. Die Nähe zur Quel­le könn­te durch­aus eine wich­ti­ge Rol­le gespielt haben, denn eine Syn­ago­ge soll­te ent­we­der auf einer Anhö­he oder in der Nähe einer Quel­le erbaut werden.

3.
Prinzenallee 87: Erste Synagoge eingeweiht

Die Adres­se Prin­zen­al­lee 87 war um 1900 mit Vor­der­haus und Sei­ten­flü­gel bebaut. Das Grund­stück hat eine außer­ge­wöhn­li­che Form, denn der hin­te­re Hof­be­reich ist gut drei­mal brei­ter als die Stra­ßen­fas­sa­de. Laut der Kar­te von Strau­be 1910 stand im Hof­be­reich ein lang­ge­streck­tes Gebäu­de und eini­ge Neben­ge­bäu­de. Womög­lich befand sich in einem der Hof­ge­bäu­de die am 20. Sep­tem­ber 1900 ein­ge­weih­te ers­te Syn­ago­ge – es wird von einem “neu­erbau­ten” Bet­haus gespro­chen. Unklar ist die genaue Lage und Gestaltung.

Über die Ein­wei­hung berich­tet Der Gemein­de­bo­te recht aus­führ­lich. Zunächst heißt es über das Gebäu­de: “Das Bet­haus macht einen stim­mungs­vol­len Ein­druck und erweckt beim Ein­tre­ten das­sel­be durch die gan­ze Aus­stat­tung andachts­vol­le Anre­gung. Män­ner und Frau­en des Ver­eins tru­gen das Ihre durch zum Theil recht wert­h­vol­le Weih­ge­schen­ke zur Aus­schmü­ckung bei”. Über die Zere­mo­nie wird berich­tet, dass nach­dem “Ma Towu” ver­klun­gen war, die Tora­rol­len von den Vor­stands­mit­glie­dern her­ein­ge­bracht und nach einer Anspra­che von Rab­bi­ner Dr. Pick das “ewi­ge Licht” ent­zün­det wur­de. Anschlie­ßend trug man die Tora­rol­len sie­ben­mal durch die Syn­ago­ge (Haka­fot). Abschlie­ßend hielt Rab­bi­ner Dr. Pick die Weiherede. 

“Die Theil­neh­mer waren von der Fei­er sicht­lich geho­ben. Man nahm zugleich den Ein­druck mit, daß der Vor­stand des Ver­eins flei­ßig gear­bei­tet haben muß, da es ihm gelun­gen, in ver­hält­nis­mä­ßig kur­zer Zeit die­ses, wenn auch in beschei­de­nen Gren­zen sich zei­gen­de, doch viel Mühe und Opfer ver­ur­sa­chen­de Werk zu Stan­de zu brin­gen”, so Der Gemein­de­bo­te. Der zere­mo­ni­el­le Vor­gang macht die klas­sisch, tra­di­tio­nel­le Aus­rich­tung des Reli­gi­ons­ver­eins deut­lich. Es war die ers­te Syn­ago­ge am Gesund­brun­nen und Wedding.

Fas­sa­de der neu­en Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87 (1910), Ein­gang, Zeich­nung und Foto.

4.
Prinzenallee 87: Umbau und Erweiterung

Zwei Jah­re spä­ter, am 28. Sep­tem­ber 1902, wur­de nach einem Umbau/Erweiterung die Syn­ago­ge in der Prin­zen­al­lee 87 erneut ein­ge­weiht. Es wur­de der Bet­raum ver­grö­ßert. Die Zere­mo­nie blieb unver­än­dert klas­sisch und wur­de mit dem Mar­riw-Gebet (Abend­ge­bet) abge­schlos­sen. Unter den Anwe­sen­den waren Oscar Ber­lin, Mit­glied des Reprä­sen­tan­ten-Col­le­gi­ums, und Herr Lewin­sky, Vor­sit­zen­der des Ver­bands der Syn­ago­gen-Ver­ei­ne, so berich­tet es Die Jüdi­sche Pres­se am 1. Okto­ber 1902.

5.
Prinzenallee 87: Der Neubau von 1910 mit Mogen David

Die wohl größ­te jüdi­sche Ver­an­stal­tung nach tra­di­tio­nel­lem Ritus und mit allen klas­si­schen Merk­ma­len von der Beklei­dung bis zum Ein­zug der Tora­rol­len fand am Sonn­tag den 4. Dezem­ber 1910 statt. Es wur­de die neue Syn­ago­ge mit vie­len städ­ti­schen Ver­tre­tern (Poli­zei­prä­si­dent, Stadt­ver­ord­ne­te, Land­tags­ab­ge­ord­ne­te, Vor­stand der jüdi­schen Gemein­de etc.) ein­ge­weiht. Der Neu­bau befin­det sich auf dem Hof an der rech­ten Mau­er zum Nach­bar­grund­stück Prin­zen­al­lee 86. Im Zusam­men­hang mit dem Syn­ago­gen­bau ent­stand auch mit reich­lich Abstand ein lang­ge­streck­tes mehr­ge­schos­si­ges Wohn­haus auf dem Hof und die Bewoh­ner hat­ten einen direk­ten Blick auf die Syn­ago­ge, die von der Stra­ße nicht sicht­bar war.

Die Ver­eins­syn­ago­ge – cir­ca 19,5 x 10,5 m mit einer First­hö­he von 9 m bzw. 6,5 m in der Vor­hal­le – besteht aus dem Erd­ge­schoss und Empo­ren­ge­schoss. Ein­deu­ti­ge Sym­bo­le jüdi­schen Glau­bens befin­den an der drei­ach­si­gen Haupt­fas­sa­de in Ost­aus­rich­tung: über dem Haupt­ein­gang und den bei­den seit­lich anschlie­ßen­den turm­ar­ti­gen Vor­bau­ten mit fla­chen Kup­peln gibt es jeweils einen David­stern (Magen David) als Bekrö­nung. Dar­über hin­aus befin­det sich über dem zen­tra­len Ein­gang ein Schrift­zug auf Hebrä­isch. Das 2‑geschossige Gebäu­de ist groß­zü­gig auf der nach Jeru­sa­lem aus­ge­rich­te­ten Sei­te durch­fens­tert: es gab im unte­ren Bereich brei­te Rund­bo­gen­fens­ter im Wech­sel mit Schmuck­or­na­men­ten, dar­über recht­ecki­ge Fens­ter und ein abschlie­ßen­der Mäan­der­fries zwi­schen Ober­ge­schoss und Sat­tel­dach – so zumin­dest in der über­lie­fer­ten Zeich­nung. Die Syn­ago­ge glie­dert sich in das Ves­ti­bül, den Bet­saal und dem hei­li­gen Bereich mit Alme­mor zur Ver­le­sung der Tora und die hei­li­ge Lade – dar­über der Chor fast auf der Höhe der Frau­en­em­po­re. Wäh­rend die Män­ner durch das Ves­ti­bül in den Bet­saal ein­tre­ten, gehen die Frau­en über die seit­li­che Trep­pe auf die Empo­re. Die­se Tren­nung ist für ortho­do­xe Gemein­den seit dem Mit­tel­al­ter üblich. Dar­über hin­aus ermög­licht das Ves­ti­bül einer wich­ti­ge For­de­rung nach­zu­kom­men und zwar dass der Beten­de zwei Türen pas­siert, an der ers­ten streift man die äuße­re Welt ab und an der zwei­ten Tür tritt er in das Hei­lig­tum ein.

Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87, Sei­ten­fas­sa­de, rechts die seit­li­che Gestal­tung des Ein­gangs mit Kup­peln, 1910. 

Wie mutet das Inne­re der Syn­ago­ge an? Im Bet­saal stand ein dunk­les Gestühl mit 175 Sitz­plät­zen für die Män­ner: “Sämt­li­che Män­ner­sit­ze befin­den sich in der Mit­te des Rau­mes, unter den Frau­en-Empo­ren lie­gen nur die Durch­gän­ge”, so das Israe­li­ti­sche Fami­li­en­blatt am 15. Dezem­ber 1910. Die glei­che Anzahl an Sitz­plät­zen stand den Frau­en auf den drei Empo­ren in Stock­werks­hö­he zur Ver­fü­gung, so Der Gemein­de­bo­te vom 16. Dezem­ber 1910. Ins­ge­samt gab es um die 300 Plät­ze. Den Mit­tel­punkt bil­det der pavil­lon­ar­ti­ge Alme­mor mit jeweils seit­lich plat­zier­ten sie­ben­ar­mi­gen Leuch­tern, der Vor­be­ter­tisch und die hei­li­ge Lade. Es gibt wei­te­re Infor­ma­tio­nen über den Innen­raum: es gab gol­de­ne Säu­len und die Wän­de waren in einem mat­ten Gelb gehal­ten, so das Israe­li­ti­sche Fami­li­en­blatt. Und an der Decken­mit­te eine dun­kel­blaue Rosette mit einem David­stern. “Das neue Got­tes­haus, im mau­ri­schen Sti­le gehal­ten und von eigen­ar­ti­gem archi­tek­to­ni­schen Rei­ze, ist von der Bau­fir­ma Sau­er­wald und dem Archi­tek­ten Becker, nach des letz­te­ren Plä­nen errich­tet und macht einen unge­mein gefäl­li­gen Ein­druck”, so Der Gemein­de­bo­te. “In der Rei­he der Pri­vat­syn­ago­gen bil­det die­ses neue Got­tes­haus zwei­fel­los eine der schöns­ten”, so das Urteil von 1910. Im Israe­li­ti­schen Fami­li­en­blatt wird für das Inne­re der Syn­ago­ge von einer vor­neh­men Ein­fach­heit und war­men Inti­mi­tät gesprochen. 

Spä­ter ord­ne­te der Kunst- und Archi­tek­tur­his­to­ri­ker Harold Ham­mer-Schenk das Gebäu­de in den Jugend­stil ein. Auch wur­de der Syn­ago­ge ein Bezug zur Land­haus­ar­chi­tek­tur attes­tiert und Ele­men­te von Neu­ro­ma­nik und Klas­si­zis­mus erkannt. Gene­rell gibt es kei­ne Vor­schrif­ten für die Gestal­tung von Syn­ago­gen in ihrer Gesamt­heit, wes­halb sie ganz unter­schied­li­che Fas­sa­den­ge­stal­tun­gen haben kön­nen. Anders ist es bei der inne­ren Struk­tur. In der Syn­ago­ge an der Prin­zen­al­lee 87 wur­de gehei­ra­tet, fan­den Bar Miz­was und Trau­er­ge­be­te für ver­stor­be­ne Mit­glie­der statt. Hier spiel­te sich das Gemein­de­le­ben der jüdi­schen Bewoh­ner am “Brun­nen” ab.

Zeich­nung 1935, Innen­raum Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87, Künst­ler: Max Raymer

6.
Rabbiner an der Synagoge

In den vier Jahr­zehn­ten (1899−1939) waren unter­schied­li­che Rab­bi­ner für den Syn­ago­gen­ver­ein Aha­was Achim tätig. Es soll an die­je­ni­gen erin­nert wer­den, die meh­re­re Jah­re wirk­ten. Rab­bi­ner Dr. Jacob Sän­ger war in der Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87 von 1911 bis 1915 tätig und danach als Feld­rab­bi­ner an der Front. Sän­ger stammt von einer Rab­bi­ner­fa­mi­lie ab, denn er über­nahm in sechs­ter Gene­ra­ti­on den Beruf des Rab­bi­ners. Nach dem Stu­di­um in Ber­lin und Würz­burg war der Reli­gi­ons­ver­ein Aha­was Achim sei­ne ers­te Wirk­stät­te als Rab­bi­ner und Reli­gi­ons­schul­lei­ter. Er starb 1938 im Alter von nur 60 Jah­ren nach ein­jäh­ri­ger Krank­heit, so die Cen­tral-Ver­ein-Zei­tung am 30. Juni 1938.

Im Jahr 1920 wur­de Rab­bi­ner Dr. A. Rosen­thal von den Mit­glie­dern des Reli­gi­ons­ver­eins Aha­vas Achim zum neu­en Rab­bi­ner und Reli­gi­ons­leh­rer gewählt – er war bis 1922 tätig. Ab Mai 1924 über­nahm die­se Auf­ga­be Rab­bi­ner Dr. Sieg­fried Alex­an­der. Bei sei­ner Amts­ein­füh­rung war die Syn­ago­ge voll besetzt und Herr David Wol­pe, Vor­sit­zen­der des Vor­stan­des, sag­te zur Begrü­ßung: “Wir alle, jung und alt, vor allem aber die Kran­ken und Lei­den­den, war­ten auf den Leh­rer und Trös­ter; und Sie wer­den ein rei­ches Arbeits­feld bei uns fin­den. Aber die­se Betä­ti­gung wird Ihnen Freu­de machen, denn wir brin­gen Ihnen von vorn­her­ein unse­re Hän­de und Her­zen ent­ge­gen, um Ihnen den erns­ten und schwe­ren Beruf nach Mög­lich­keit zu erleich­tern. So hof­fen und wün­schen wir, daß durch ste­tes gegen­sei­ti­ges Ver­trau­en Ihre Tätig­keit bei uns für Sie sel­ber und für die gan­ze Gemein­de von Got­tes reichs­tem Segen gekrönt sein möge!”, so das Israe­li­ti­sche Fami­li­en­blatt in der Aus­ga­be vom 8. Mai 1924. Er war bis 1938 Rab­bi­ner an der Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87 und ab Novem­ber 1938 haupt­säch­lich an der Syn­ago­ge im Jüdi­schen Kran­ken­haus tätig. Eine Lie­bes­er­klä­rung an die Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87 mit Zeich­nung und Erwäh­nung des Rab­bi­ners erschien in Jüdi­sche Biblio­thek, Unter­hal­tung und Wis­sen am 5. Dezem­ber 1935: 

“Blick in ein Got­tes­haus: Die Ber­li­ner Syn­ago­ge Gesundbrunnen

Im Nor­den Ber­lins, vie­len Ber­li­ner Juden unbe­kannt, steht ein schlich­ter Tem­pel­bau, in dem sich zur Gebet­zeit die Gemein­de Gesund­brun­nen ver­sam­melt. Der beschei­de­ne Raum löst andachts­vol­le Fest­esstim­mung aus, wenn das Got­tes­haus im Lich­ter­glanz der bei­den sie­ben­ar­mi­gen Leuch­ter und des Kron­leuch­ters erstrahlt. Der geis­ti­ge Betreu­er der Gemein­de ist Rabb. Dr. Alexander”

Rab­bi­ner Dr. Sieg­fried Alex­an­der (*12.10.1886) war mit Adel­heid Ada (*19.02.1897), gebo­re­ne Ries – Toch­ter von Bet­ty Ries, ver­hei­ra­tet. Bei­de wur­den am 12.3.1943 nach Ausch­witz depor­tiert und ermordet.

Rab­bi­ner Dr. Sieg­fried Alex­an­der, Foto datiert 1939. Quel­le: Yad Vashem

7.
Jüdische Badstraßen-Community

Zu den enga­gier­ten Mit­glie­dern gehör­te Isaac Baer, der von der Grün­dung bis zur Auf­lö­sung für den Reli­gi­ons­ver­ein Aha­vas Achim tätig war – zeit­wei­se auch im Vor­stand. Über Isaac Baer ist eini­ges bekannt, denn er führ­te an der Bad­stra­ße Ecke Prin­zen­al­lee, wo heu­te der U‑Bahneingang ist, ein Her­ren- und Kna­ben­be­klei­dungs­ge­schäft. Es han­del­te sich um das ehe­ma­li­ge Eck­ge­bäu­de Bad­stra­ße 26/Prinzenallee 91, wel­ches Baer 1903 erwarb. Zu die­sem Zeit­punkt wohn­ten Isaac und Nan­ny Baer auch selbst in dem Haus, was er nach dem Kauf moder­ni­sie­ren ließ, denn die Woh­nun­gen beka­men Bäder und Toi­let­ten. Das Geschäft wur­de suk­zes­si­ve ver­grö­ßert und in den 1920er Jah­ren arbei­te­te die gan­ze Fami­lie Baer in dem über zwei Eta­gen gehen­den Laden. Ab 1933 gab es mas­si­ve wirt­schaft­li­che Ein­bu­ßen und Anfein­dun­gen. Schließ­lich wur­de das Geschäft 1938 auf­löst. Isaac Baer und sei­ne Toch­ter Jen­ny wohn­ten bis 1942 in der Bad­stra­ße 26. Isaac Baer wur­de am 7.8.1942 nach The­re­si­en­stadt depor­tiert, ermor­det am 2.10.1942. Jen­ny Baer wur­de am 9.12.1942 nach Ausch­witz depor­tiert und ermordet.** 

Ein wei­te­res Mit­glied des Syn­ago­gen­ver­eins Aha­vas Achim war Frie­da Mehl­er. Sie wohn­te mit ihrem Mann und Sohn in der Bad­stra­ße 4041, war Kin­der­buch­au­to­rin und lei­te­te den Jüdi­schen Frau­en­ver­ein Wed­ding-Gesund­brun­nen. Frie­da Mehl­er war Ehren­mit­glied bei Aha­was Achim und setz­te sich für die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau ein. Auch kri­ti­sier­te sie, dass Frau­en von Wah­len aus­ge­schlos­sen sind. 

Ein wei­te­rer lang­jäh­ri­ger Bewoh­ner der Bad­stra­ße und akti­ves Ver­eins­mit­glied, u.a. Bei­sit­zer, wur­de 1933 Vor­sit­zen­der: Herr Michae­lis Lesch­nik – zuvor führ­te seit 1926 Dr. Adolf Levy den Vor­sitz. Herr Lesch­nik hat­te wohl 1904/1905 sein ers­tes Geschäft als Uhr­ma­cher in der Bad­stra­ße 42–43 eröff­net, hei­ra­te­te Johan­na Wein­berg und zog 1924 in die Bad­stra­ße 37. Heu­te erin­nert ein Stol­per­stein in der Bad­stra­ße 44 an Herrn Lesch­nik, der sich aus lau­ter Ver­zweif­lung über die Umstän­de und die finan­zi­el­le Not am 13. März 1939 das Leben nahm. 

Vie­le wei­te­re Per­so­nen för­der­ten den Syn­ago­gen­ver­ein, enga­gier­ten sich für sei­nen Erhalt, setz­ten sich mit ihrem Glau­ben und der jüdi­schen Iden­ti­tät auseinander. 

Ehe­ma­li­ge Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87, Juni 2021 (Foto: Andar­as Hahn).

8.
Ein Gebäude im Wandel: Die Synagoge nach 1938

Die Syn­ago­ge Prin­zen­al­lee 87 wur­de am 9. Novem­ber 1938 stark demo­liert. Im Krieg befand sich in dem Gebäu­de ein Beklei­dungs­de­pot der Wehr­macht. Spä­ter wur­de es von den Zeu­gen Jeho­vas genutzt und stark ver­än­dert. Heu­te gibt es einen Ein­gang im 50er Jah­re-Stil, ein Flach­dach, es feh­len die turm­ar­ti­gen Vor­bau­ten und auch die Fens­ter an der Süd­fas­sa­de wur­den durch eine groß­flä­chi­ge Ver­gla­sung ersetzt. Kurz­um, nichts erin­nert an die eins­ti­ge Syn­ago­ge bis auf eine Gedenk­ta­fel, die 45 Jah­re nach der Zwangs­auf­lö­sung des jüdi­schen Reli­gi­ons­ver­eins ange­bracht und medi­en­wirk­sam ein­ge­weiht wur­de. Sei­ner­zeit kamen der Sohn von Rab­bi­ner Dr. Sieg­fried Alex­an­der aus Isra­el nach Ber­lin. Er sag­te: „Wir sind aus Isra­el gekom­men und keh­ren nach Isra­el zurück“. 

Was bis heu­te fehlt, ist ein Hin­weis­schild an der Fas­sa­de Prin­zen­al­lee 87, denn die Gedenk­ta­fel befin­det sich zwi­schen Haupt­haus und Hof. 

Gedenk­plat­te am Mahn­mal Levet­zow­stra­ße für die Syn­ago­ge in der Prin­zen­al­lee 87

9.
Fazit

Die Adres­se Prin­zen­al­lee 87 war für gut vier Jahr­zehn­te der fes­te Ort jüdi­schen Lebens im Wed­ding. In die­ser Zeit wur­de aus einer klei­nen Grup­pe jüdi­scher Bür­ger eine eigen­stän­di­ge Com­mu­ni­ty, die sich ein neu­es jüdi­sches Gemein­schafts­le­ben auf­bau­te. Die 1910 ein­ge­weih­te Syn­ago­ge war ein Zei­chen der Hoff­nung, dass hier am Gesund­brun­nen eine jüdi­sche Gemein­schaft ent­ste­hen und gedei­hen kann. Mit beschei­de­nen Mit­teln ent­stand eine Syn­ago­ge, die archi­tek­to­nisch im klei­nen Maß­stab alle ortho­do­xen Anfor­de­run­gen ent­sprach und fast 30 Jah­re ein Ort war, an dem jüdi­sche Ritua­le gelebt wurden. 

Ein Leben mit Sor­gen und Freu­de, mit ver­trau­ten Men­schen; ein Leben im Ein­klang mit dem jüdi­schen Kalen­der und ein Ort des Abschieds, dies alles ver­ein­te die­se Syn­ago­ge unter ihrem Dach. Beson­ders an der Syn­ago­ge des “Brun­nens” und den zahl­rei­chen per­sön­li­chen Ver­flech­tung wird deut­lich, dass Archi­tek­tur gesell­schaft­li­che Auf­ga­ben hat. Und unse­re Auf­ga­be heu­te ist es, dar­an zu erin­nern. Wenn es eine jüdi­sche Com­mu­ni­ty am Wed­ding und Gesund­brun­nen gab, dann an der Prin­zen­al­lee 87 und ent­lang der Bad­stra­ße sowie in den unmit­tel­ba­ren Nebenstraßen. 

Ich hof­fe, die­ser Text hat zur Erin­ne­rung und zur Bedeu­tung der Syn­ago­ge einen klei­nen Bei­trag geleistet.

* Nach eige­ner Recher­che im „Adress­buch für Ber­lin und sei­ne Vor­or­te“ von 1900 die Vor­na­men und Adres­sen sowie wei­te­re Infor­ma­tio­nen ergänzt: Herr Kfm. D. Wol­pe Pank­stra­ße 31A, Herr Lou­is Rosen­bach Geschäft für Getrei­de und Hül­sen­früch­te in der Bad­stra­ße 40, Herr Isaac Baer Geschäft für Her­ren­be­klei­dung Bad­stra­ße 26, Herr Wil­helm Kurz, Herr Dr. Wil­helm But­ter­milch Bad­stra­ße 17, Herr Schrey­er und Herr Joseph. Ledig­lich die Anga­ben zu Isaac Baer sind durch die Publi­ka­ti­on: „Am Wed­ding haben sie gelebt“ gesichert.

** Stan­ge, Hei­ke (1998): Die Bears: Eine Fami­li­en- und Fir­men­ge­schich­te, in: „Am Wed­ding haben sie gelebt“, S. 159ff.

Lite­ra­tur:

Ber­li­ner Geschichts­werk­statt (Hrsg.) (1998): Am Wed­ding haben sie gelebt: Lebens­we­ge jüdi­scher Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, Berlin.

Ham­mer-Schenk, Harold (1981): Syn­ago­gen in Deutsch­land, Geschich­te einer Bau­g­at­tung im 19. und 20 Jahr­hun­dert in 2 Tei­len, Hamburg.

Keß­ler, Karin (2007): Ritus und Raum der Syn­ago­ge, Schrif­ten­rei­he der Bet Tfi­la Band 2, Fulda.

Syn­ago­gen in Ber­lin (1983): Zur Geschich­te einer zer­stör­ter Archi­tek­tur, Teil 2, Berlin.

Carsten Schmidt

Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern. Im Juni 2023 erschien sein neues Buch Bittersweet - Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871–1933 Zu finden ist er auch auf Twitter.

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