Der Wedding. Endliche Weiten. Dies sind die Abenteuer der Bewohner des Wohnhauses in der Müllerstraße 42, die schon oft zuvor da gewesene Gentrifizierung bekämpfen und dahin gehen, wo schon viele Weddinger zuvor gewesen sind.
Eine Fortsetzungsgeschichte von Ruben Faust und Nethais Sandt
Was bisher geschah: Melina (Musikstudentin) muss mit großem Schrecken feststellen, dass ihr Fahrrad geklaut wurde. Nach einer erfolglosen Suche durch den Wedding entschließt sie sich, einen Trost- Döner in „Mohammads Döner Store“ essen zu gehen. Dabei hört Mohammad, Inhaber des Dönerladens und allseits bekannter „Mann des Vertrauens“, ihren Sorgen geduldig zu. Der Hausmeister Herr Brown kümmert sich derweil um die Wasserlache, die er versehentlich im Hausflur erschaffen hat. Frau Faterl (ehemalige Bayerin) schlägt sich mit den Problemen einer Mathelehrerin herum . (Folge 1: Das Fahrrad) (Folge 2: Die Wasserlache) ( Folge 3: Die Lehrerin)
Der Windstoß bläst die weißen Vorhänge auf, ein kleiner Sonnenstrahl bahnt sich einen Weg in das dunkle Zimmer und direkt in Phils Gesicht. Er runzelt die Stirn, noch müde vom letzten Abend, und dreht sich weg vom Licht. In seiner Erinnerung ist er nach ein paar Gläsern Wein alleine ins Bett gegangen, aber jetzt wo er die Augen öffnet, liegt da plötzlich eine Frau neben ihm. Ihre braunen Locken über das ganze Kissen verteilt. Er muss gar nicht genauer hinsehen, um zu wissen, dass er sich bei dieser Frau um niemand geringeren handelt als um Melina. Seine Mitbewohnerin. Zu allem Überfluss sind sie beide nackt, woraus sich gut schließen lässt, was passiert sein muss. Verdammt.
Er setzt sich auf und vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie beide am nächsten Morgen nebeneinander aufwachen. Die ersten zwei Male hat man es noch auf den Alkohol schieben können, nach dem dritten Mal kommen da schon ein paar Fragen auf, jetzt, beim vierten Mal sollten sie vielleicht mal darüber reden. Phil seufzt. Wieso nur passiert sowas immer ihm? Er wirft einen kurzen Blick zu Melina. Sie ist schon attraktiv, keine Frage, und reden kann man auch mit ihr. Aber er hatte keine Gefühle für sie und sie seines Wissens nach auch nicht für ihn, und eigentlich sind sie beide nicht der Typ für alles außerhalb einer Beziehung. Also wieso…?
Langsam gleitet er von der Kante des Bettes. Sie würden schon noch ein Gespräch deswegen führen, nur vielleicht nicht jetzt. Solange er keine Antworten auf irgendwas hat, zieht er es lieber vor, dem Gespräch aus dem Weg zu gehen. Auf Fußspitzen schleicht er zur Zimmertür, vergisst wie eigentlich immer das Kabel seiner Lampe (Welcher Idiot verlegt überall Steckdosen, nur nicht in der Nähe des Bettes?) und fällt der Länge nach hin. Dabei reißt er sowohl die Lampe als auch die leere Weinflasche von seinem Nachttisch mit sich herunter und knallt mit dem Kinn auf die Holzdielen. Vor Schmerz saugt er tief Luft ein.
„Phil…?“, ertönt Melinas verschlafene Stimme vom Bett aus. Phil schließt die Augen und verdammt sich ein weiteres Mal für seine Vergesslichkeit.
„Was ist…?“ Er hört, wie die Decke zurückgeschlagen wird. Stille. Dann: „Nicht schon wieder. Nein, nein, nein…“ Melinas verzweifelte Stimmlage ruft ihm erneut vor Augen, in was für einem Schlamassel sie stecken. „Phil!“
Mühsam stemmt er sich vom Boden auf. „Willst du Kaffee oder Tee?“, fragt er mit gekünstelt fröhlicher Stimme, ehe er sich zu ihr umdreht und Melina ins Gesicht schaut. Die Reue kommt sofort, als er ihr ansieht, wie sehr sie die Tränen zurückhalten muss. „Das hier bleibt unter uns“, sagt Melina todernst und mit zitternder Stimme. „Und wird nie wieder passieren. Schwöre es!“
„Also theoretisch haben wir uns das bereits letztes Mal geschworen…“, fängt er an, aber da hat Melina sich die Decke schon um den Körper gewickelt und ist an ihm vorbei aus dem Zimmer gerauscht. Zwei Sekunden später hört er ihre Tür zuknallen.
Er bleibt noch ein wenig stehen, fährt sich durch die verwuschelten, schwarzen Haare und die Bartstoppeln an seinen Wangen, seufzt. Dann fällt ihm etwas ein und er ruft: „Die Decke gehört übrigens mir!“
Melinas Tür öffnet sich einen Spalt breit, genug, damit sie ihren Arm durchstrecken und ihm den Mittelfinger zeigen kann. Dann schlägt sie die Tür erneut mit einen lautem Rumms! zu.
Zwei Stunden später sitzen sie am Frühstückstisch und trinken Kaffee. Es herrscht eine unangenehme Stille. Phil schüttet etwas Zucker in seine Tasse, Melina rührt schon gefühlt das zehnte Mal um.
„Hast du eigentlich dein Fahrrad wieder gefunden?“, versucht er ein Gespräch anzufangen.
Melina schüttelt den Kopf. „Ich habe es ja nicht einmal verloren. Irgendein Idiot muss es geklaut haben.“
„Hast du Doro gefragt? Die Alte hat den ganzen Tag doch nichts anderes zu tun als aus dem Fenster zu schauen.“
Melina nickt. „Sie hat auch nichts gesehen… dass sie ausgerechnet dann, wo man sie braucht, wegschaut…“ Müde schaut sie auf ihre Armbanduhr, schreckt auf und kippt sich den Kaffee herunter. „Sorry, ich habe ganz vergessen, dass die Vorlesung heute früher anfängt! Muss jetzt los, ich wasche später ab, okay?“ Ohne weiter seine Antwort abzuwarten, hetzt sie aus der Küche heraus.
Phil hebt die Augenbrauen, trinkt seinen Kaffee ebenfalls und stellt die Tasse zu dem riesigen Berg aus dreckigem Geschirr, welcher schon seit Tagen vor sich hingammelt. Irgendwas mit dem Fahrrad beunruhigt ihn. Er weiß nicht was, aber ganz vage ist ihm so, als hätte er es noch irgendwo gesehen. Nur wo…? Und wieso..?
Er verlässt die Küche und geht ins Badezimmer. Während er duscht, wird ihm auf einmal klar, wo er das Fahrrad gesehen hat. Und wer es geklaut hat. Hastig klettert er aus der Badewanne heraus und trocknet sich ab. Unterwäsche, Hoodie, Jeans, Socken – noch nie hat er sich so schnell angezogen und wäre er nicht so in Eile gewesen, hätte er sich dafür vielleicht kurz dafür auf die Schulter geklopft. So schnappt er sich nur seine Schlüssel und verlässt die Wohnung. Im Treppenhaus trifft er glücklicherweise Herrn Brown, den Hausmeister. Dieser unterhält sich zwar gerade mit Albert und Elena, dem Paar aus Prenzlauer Berg, aber Phils Problem ist dringender als alle Probleme der Welt. Und nur Herr Brown kann ihm dabei helfen.
“Entschuldigen Sie, Herr Brown.”, unterbricht er also die laufende Konversation. Der Hausmeister wendet sich ihm mit einem dankbaren Gesichtsausdruck zu, während Elena entrüstet die Arme verschränkt. “Haben Sie zufällig ein blaues Fahrrad im Keller stehen sehen?“
Der britische, schon etwas in die Jahre gekommene Mann wirkt verwirrt, nickt jedoch. „Ja, doch, schon. Sie haben es doch selbst dort hingebracht?“ – „Und haben es dort vergessen, ist doch jetzt auch kein Weltuntergang.“, unterbricht sie Albert. Elena nickt. Das Prenzlauer-Berg-Paar steht ungeduldig an seiner Tür, nicht besonders erfreut über die Unterbrechung von Phil. Dieser hebt die Hände, wie um die negative Energie abzuwehren, und verabschiedet sich von den dreien. Als er die Treppen herunterhetzt, kommt er nicht umhin, als Mitleid mit dem Hausmeister zu haben. Das Elternpaar hat sehr gereizt gewirkt. Wahrscheinlich geht es um die bevorstehende Hausrenovierung, welche er jetzt auch schon seit Monaten bewusst verdrängt.
Er hat schon genug Probleme, und jetzt sogar noch ein neues: Er, stolzer BWL- Student, hat das Fahrrad seiner Mitbewohnerin ohne ihre Erlaubnis in den Keller gebracht, aus Angst, es könnte gestohlen werden. Zum Glück hat er ja einen Zweitschlüssel des Fahrradschlosses. Was als Akt der Nächstenliebe hätte durchgehen können, ist jetzt leider zu einem Dilemma geworden, denn er, Trottel, hat natürlich vergessen, es ihr zu sagen. Wie zur Hölle soll er Melina das beibringen, ohne dass sie ihn komplett zur Schnecke macht?
Mittlerweile im Erdgeschoss angekommen, holt er seinen Schlüssel hervor und schließt die Tür zum Keller auf. Und tatsächlich. Da steht es: Brav angeschlossen glänzt ihn das blaue Gestell von Fahrrad an. Wie er es so anschaut, weiß Phil keinen anderen Weg, als sich den Rat eines guten Freundes einzuholen: Mohammad, dem Inhaber vom “Mohammad’s Döner Store.”
Wenig später sitzt Phil an der Theke und schildert dem Mann des Vertrauens das Problem. „Vielleicht rufe ich sie einfach kurz an“, beendet er seine Geschichte. Mohammad, der gerade Gurken und Salat in den Döner füllt, antwortet in seinem für ihn typischen Akzent: „Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Frauen sind nicht gerade begeistert davon, per Telefon ein Geständnis zu bekommen. Das ist genauso wie mit Liebeserklärungen. Oder wenn du Schluss machen willst.“ Er hält kurz inne und scheint kurz mit den Gedanken woanders zu sein. Dann schüttelt er sich und murmelt: „Frauen…“
„Ich mache ihr ja keine Liebeserklärung!“, verteidigt Phil sich. „Ich sage ihr nur, dass ich das Fahrrad gefunden habe. Im Keller.“ Gerade, als die Worte seinen Mund verlassen, werden Phils Augen ganz groß. „Das ist die Idee!“, flüstert er begeistert. Mohammad schaut ihn zweifelnd an und reicht ihm den Döner. „Drei Euro fünfzig, bitte.“
Phil fängt an, in seiner Hosentasche zu kramen und holt ein paar Münzen heraus. „ Mohammad, ich muss ihr gar nicht sagen, wer das Fahrrad geklaut hat“, erklärt er hastig seinen Schlachtplan, „ Wenn ich nur sage, dass ich das Fahrrad unten im Keller gefunden habe, wird sie sich wahrscheinlich nur kurz wundern und es dann auf ihre eigene Vergesslichkeit schieben!“
„Phil, als wahrer Weddinger…“, fängt Mohammad an, doch da hat Phil schon sein Handy gezückt und ist mit dem Döner aus dem Laden gerannt. „Melina?“, ruft er, sobald die Mailbox rangeht, „Ich war gerade im Keller. Hab dein Fahrrad dort gesehen. Sicher, dass du es nicht einfach reingebracht und es dann dort vergessen hast? Wie auch immer, ich muss jetzt los zur Uni.“ Er hält kurz inne. Und fügt dann hinzu: „Ach, und könntest du eine Packung Milch mitbringen? Wir haben keine mehr…“
Alle Figuren und Namen sind rein fiktional und jede Übereinstimmung mit der Realität ist nur zufällig.
Müller42 ist eine Weddingweiser-Textreihe von Ruben Faust und Nethais Sandt. Sie wird immer dienstags und freitags weitergeführt.