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33 Jahre Mauerfall:
Gleich nach der Wende im Wedding

9. November 2022
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Die Mau­er ging zum Wed­ding auf. Und so war der Wed­ding auch der ers­te Teil von West­ber­lin, den die Ost­ber­li­ner nach Öff­nung des Grenz­über­gangs an der Born­hol­mer Stra­ße am 9. Novem­ber 1989 errei­chen konn­ten. In den Mona­ten danach wur­de unser Stadt­teil von Besu­che­rin­nen und Besu­chern aus der DDR geflu­tet. Was waren die belieb­tes­ten Zie­le der DDR-Bür­ger im Wed­ding? Wo kann man die­se Orte heu­te noch im Ori­gi­nal bewun­dern? Und was kommt wieder?

Bun­des­ar­chiv, Bild 183−1989−1118−028 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wiki­me­dia Commons

Kauf­häu­ser

Nicht nur das KaDe­We, son­dern auch die Kauf­häu­ser im Wed­ding erleb­ten nach der Grenz­öff­nung einen unvor­stell­ba­ren Zulauf aus dem Osten. Die Kar­stadt-Filia­le am Leo­pold­platz war Anfang der 90er sogar über Jah­re hin­weg deutsch­land­weit die umsatz­stärks­te Filia­le des Kauf­haus­kon­zerns. Heu­te unvor­stell­bar. Denn seit Jah­ren kämpft das Haus an der Ecke Mül­ler-/Schul­stra­ße ums Über­le­ben. Mitt­ler­wei­le hat der Kon­zern Gale­ria Kar­stadt Kauf­hof Insol­venz angemeldet.

Auch von außen sieht der ehe­ma­li­ge Publi­kums­ma­gnet nicht mehr gut aus. Die Beton­fas­sa­de ist schon so maro­de, dass die Besu­che­rin­nen und Besu­cher durch Net­ze vor her­ab­fal­len­den Bro­cken geschützt wer­den müs­sen (soll­te es zur Reno­vie­rung nicht einen Zuschuss vom Bezirk geben?). Aber das Waren­an­ge­bot, das vor mehr als 30 Jah­ren man­chem Ost­ber­li­ner Trä­nen der Ver­zü­ckung in die Augen und das Begrü­ßungs­geld (sie­he unten) aus der Tasche zau­ber­te, gibt es zum Teil heu­te noch. Im Erd­ge­schoss fin­det man neben Arm­band­uh­ren und der unver­meid­li­chen Par­füm­duft­in­sel so soli­de Arti­kel wie Geld­bör­sen aus Leder, halt­ba­re Her­ren­so­cken und prak­ti­sche Taschen­tü­cher aus Stoff (nach­hal­tig!). Folgt man den glän­zen­den Roll­trep­pen in die obe­ren Stock­wer­ke, gibt es dort, seit das Näh­ma­schi­nen­ge­schäft am Leo­pold­platz einem Cof­fee-to-go-Laden gewi­chen ist, die wahr­schein­lich letz­te Kurz­wa­ren­ab­tei­lung des Wed­ding zu ent­de­cken – und natür­lich auch noch ech­te West-Jeans (Lewis 501).

Buch­lä­den

Win­fried Kell­mann vom Buch­la­den Bel­le-et-tris­te in der Ams­ter­da­mer Stra­ße wider­legt in einem Gespräch das böse Gerücht, dass es den Besu­chern aus dem Osten im „Schau­fens­ter des Wes­tens“, wie West­ber­lin beschö­ni­gend genannt wur­de, nur um mate­ri­el­le Din­ge gegan­gen sei. „Vor unse­rem Laden stan­den die Leu­te gedul­dig Schlan­ge, um Bücher zu bekom­men, die es in der DDR nicht gab. Man­che frag­ten mit säch­si­schem Dia­lekt „Hom se Garl Moy?“ Es dau­er­te eine Wei­le, bis ich ver­stand, dass Karl May gemeint war. Wir hat­ten und wir haben ihn immer noch im Sor­ti­ment.“ Nicht so in der DDR: Der Aben­teu­er­schrift­stel­ler aus dem säch­si­schen Rade­beul wur­de von der DDR-Füh­rung lan­ge als „Ras­sist und Deutsch­tüm­ler“ ein­ge­stuft und selbst sei­ne Win­ne­tou-Bücher wur­den im Osten nur in einer klei­nen Auf­la­ge gedruckt. Das Bel­le-et-Tris­te, das die­ses Jahr sein 40-jäh­ri­ges Bestehen fei­ert, hat sich seit der Wen­de äußer­lich nicht viel ver­än­dert. Die Schlan­gen vor der Tür sind weg – aber drin­nen gibt es nach wie vor Holz­re­ga­le, Lin­ole­um­bo­den und sonst nichts als gute Bücher – die man jetzt aller­dings auch online bestel­len kann.
Unver­än­dert, oder neu belebt, ist auch die Dis­kus­si­on über Win­ne­tou, nach­dem der Ravens­bur­ger Ver­lag ein Win­ne­tou-Kin­der­buch nach Ras­sis­mus-Vor­wür­fen ein­ge­stampft hat. „Über­ho­len ohne ein­zu­ho­len“ ist eigent­lich ein Slo­gan aus der DDR. Aber zumin­dest bei der Karl-May-Kri­tik hat West­deutsch­land jetzt mit dem über­wun­den geglaub­ten Ost-Regime gleichgezogen.

Buchladen
Foto: Wed­ding­wei­ser

Sex-Shops

„War schon ‘ne Men­ge los bei uns, damals.“, erin­nert sich der Mann hin­ter der Kas­se, den wir „Hans“ nen­nen wol­len, an den Ansturm nach der Mau­er­öff­nung. Seit 1983 gibt es den „Sex-Laden“ in der See­stra­ße 63. Und seit Anfang an ist auch Hans dabei. „Fami­li­en­be­trieb“, mehr ver­rät der Mann, den ich auf Mit­te 50 schät­ze, nicht. Der Laden sieht von innen und von außen noch immer so aus, wie ein Sex-Shop in den 80ern im Wes­ten aus­se­hen muss­te: Drau­ßen grel­le Far­ben und blin­ken­de Lich­ter, drin­nen Däm­mer­licht, Video­ka­bi­nen, Por­no­hef­te in abge­schab­ten Plas­tik­hül­len und Sex­spiel­zeug. „Die Ossis waren neu­gie­rig und haben viel gelacht“, erin­nert sich Hans. Wo sei­ne Kund­schaft heu­te her­kommt, fra­ge ich ihn. „Aus aller Welt. Und aus der Nach­bar­schaft“, grinst er viel­deu­tig. „Die Kids hier aus der Ecke die freu­en sich schon, wenn sie 18 wer­den und end­lich hier rein dür­fen.“ Auch des­we­gen gebe es den Laden noch. „Und weil wir bil­li­ger sind. Wir haben sogar Ori­on über­lebt“, sagt er stolz und meint damit die ehe­ma­li­ge Filia­le der Ero­tik-Ket­te „Ori­on“ im seit lan­gem geschlos­se­nen Schil­ler­park-Cen­ter. Nur eins hat sich in den Jah­ren geän­dert. „Die Schau­fens­ter­schei­be haben sie uns schon zwei Mal hin­ter­ein­an­der ein­ge­schmis­sen. „Jetzt haben wir sie nicht mehr erneu­ert, son­dern nur noch geklebt. Aber wir bleiben.“ 

Foto: Rolf Fischer

Super­märk­te

Vol­le Rega­le! Das war das Ver­spre­chen, mit dem der kapi­ta­lis­ti­sche Wes­ten die unter der sozia­lis­ti­schen Man­gel­ver­sor­gung lei­den­den Ost­ber­li­ner über die Gren­ze lock­te. Tat­säch­lich boten die dama­li­gen West­ber­li­ner Kon­sum­tem­pel Bol­le, EDEKA oder Kaiser‘s für sie eine unge­kann­te Fül­le von Waren und Ver­lo­ckun­gen. Doch damit war bald Schluss. Durch den Ansturm der Brü­der und Schwes­tern aus dem Osten erleb­ten die Wed­din­ge­rin­nen und Wed­din­ger zum ers­ten Mal seit der Luft­brü­cke von 1948 Lücken in der Lebens­mit­tel­ver­sor­gung. „Ganz schlimm für mich war, dass kurz vor Weih­nach­ten nir­gends mehr Domi­no­stei­ne zu krie­gen waren“ beschreibt Micha­el, ein gebo­re­ner Wed­din­ger, die trau­ma­ti­sche Situa­ti­on, die ihn auch noch nach mehr als 30 Jah­ren nicht los­lässt. „Seit­dem hor­te ich jedes Jahr Domi­no­stei­ne, sobald es wel­che zu kau­fen gibt.“
Wer sich anschau­en möch­te, wie ein West­ber­li­ner Super­markt in den 1980er Jah­ren aus­sah, kann EDEKA Schatz in der Spren­gelstra­ße besu­chen. Die kah­len Neon­röh­ren sind zwar durch LED-Leis­ten ersetzt wor­den. Aber sonst hebt sich die kar­ge Ori­gi­nal-Innen­ein­rich­tung mit in enger Rei­he ste­hen­den Rega­len und abge­schab­tem Kalk­putz ange­nehm von den Ein­kaufs-Erleb­nis-Land­schaf­ten ab, die in ande­ren Filia­len Ein­zug gehal­ten haben und bei denen der abblät­tern­de Putz nur ein sty­li­sches Gestal­tungs­ele­ment ist.

Foto: Rolf Fischer

Die Lücken in den Rega­len sind aber dort und bei ande­ren Super­märk­ten nie wie­der ganz ver­schwun­den. Domi­no­stei­ne gibt es zwar über­all jedes Jahr schon seit Sep­tem­ber. Aber nach Toi­let­ten­pa­pier (Coro­na) und Kin­der­milch­pul­ver (Chi­ne­sen) ist es jetzt der gemein­sa­me Kampf der gro­ßen Han­dels­ket­ten gegen die Preis­po­li­tik US-ame­ri­ka­ni­scher Süß­wa­ren- und Geträn­ke­kon­zer­ne wie Mars und Coca-Cola, der dazu führt, dass man­che belieb­te Lecke­rei im Ange­bot fehlt. West­deut­sche Kauf­leu­te im Kampf gegen US-Impe­ria­lis­ten. Wenn Erich Hon­ecker das noch erle­ben dürfte.

Rat­haus

Auch am neu­en Rat­haus Wed­ding in der Mül­lerstra­ße, an dem sich jeder DDR-Bür­ger nach der Ankunft in West-Ber­lin 1989 sein Begrü­ßungs­geld von 100 D‑Mark abho­len konn­te, haben die mehr als 30 Jah­re seit der Wen­de erstaun­lich wenig ver­än­dert. Im Gegen­teil: Es strahlt, frisch reno­viert, schö­ner denn je, seit dort das Job­cen­ter Mit­te ein­ge­zo­gen ist. Der ehe­ma­li­ge Stadt­rat Bernd Schimm­ler erin­nert sich in sei­nem Buch „Der Wed­ding –Ver­gan­gen­heit und Ver­än­de­rung“ (Ver­lag Wal­ter Frey, 2022) an die her­aus­for­dern­den Tage im Novem­ber 1989, an dem die Ber­li­ner Ver­wal­tung im dama­li­gen BVV-Saal zu heu­te undenk­ba­ren Höchst­leis­tun­gen auf­lief. „Es gab (am Tag nach der Grenz­öff­nung) kei­ne Schwie­rig­kei­ten, Beam­te für das Wochen­en­de zu fin­den, die das Begrü­ßungs­geld im BVV-Saal aus­zahl­ten, wäh­rend sich auf dem Rat­haus­vor­platz lan­ge Schlan­gen bil­de­ten.“ Das Geld, 1 Mil­li­on DM, wur­de laut Schimm­ler vom Finanz­stadt­rat per­sön­lich in Plas­tik­tü­ten von der gegen­über­lie­gen­den Ber­li­ner Bank abge­holt. Dass das recht­lich nicht ganz sau­ber war, fiel spä­ter auch dem Ber­li­ner Rech­nungs­hof auf. Der dama­li­ge Finanz­stadt­rat ver­sprach dar­auf voll­mun­dig „Das Bezirks­amt wird sich bei der nächs­ten Wie­der­ver­ei­ni­gung an die Kas­sen­re­geln hal­ten.“ Wäre er heu­te noch im Amt, müss­te er sich an sei­nen Wor­ten von damals mes­sen las­sen. Denn neben dem Job­cen­ter, vor dem Klin­ker­bau des alten Rat­hau­ses Wed­ding in der Mül­lerstra­ße, bil­den sich seit dem Früh­ling 2022 wie­der jeden Mor­gen Schlan­gen von Men­schen, die sich Geld abho­len wol­len. Dies­mal kom­men sie aus der Ukraine.

Rolf Fischer

Ich lebe gerne im Wedding und schreibe über das, was mir gefällt. Manchmal gehe ich auch durch die Türen, die in diesem Teil der Stadt meistens offen stehen.

3 Comments Leave a Reply

  1. Lie­be Regi­ne, es gibt im Wed­ding ja auch noch die Mau­er-Gedenk­stät­te in der Ber­nau­er Stra­ße. Viel­leicht willst du zum nächs­ten Gedenk­tag einen Bei­trag über das Mau­er-Geden­ken im Wed­ding schrei­ben. Wür­de mich freuen.

  2. Hi Rolf
    Hät­te nicht gescha­det, wenn du den Platz des 9. Novem­ber 1989 an S Born­hol­mer erwähnt hättest.

    https://www.berlin.de/mauer/mauerweg/stadtroute/wollankstrasse-nordbahnhof/platz-des-9-november-1989–262939.php

    Dort wur­de die Ber­li­ner Mau­er erst­mals geöff­net, und auf dem beschei­de­nen Platz als Gedenk­ort wird auf Foto­ta­feln und anhand von Boden­plat­ten in Etap­pen das War­ten auf die Öff­nung an die­sem Abend gezeigt.

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