In unserer Reihe geben wir Autor:innen die Möglichkeit, ihre Eindrücke aufzuschreiben und bei uns vorzustellen – eine Stunde an einem Ort im Wedding, eine Stunde voller Beobachtungen, menschlicher Begegnungen und jeder Menge Weddinger Atmosphäre. Heute startet unser Autor Rolf gemütlich in den Samstag.
Ach, was für ein herrlicher Tag! Ein Samstagmorgen im 2.Stock, 2.Hinterhof (neben mir wohnt ein Philosoph, würde Inga Humpe jetzt ergänzen). Ich hab so viel vor heute, will den Tag nutzen. Die To-Do-Liste ist geschrieben. Fenster auf, frische Luft rein! Blauer Himmel – wunderbar! Ran an den Sonnengruß (drei Runden Sonnengruß am Tag werden dein Leben verändern, verspricht mein Yoga-Guru). Als ich bäuchlings auf meiner Matte liege und mich in die Cobra stemme, sehe ich die Staubflusen. Ach ja: Putzen steht noch nicht auf der Liste für dieses Wochenende. Besser raus jetzt, auf die Straße. Der leere Bierkasten kommt mit und eine ungefähre Idee von dem, was ich mit dem Tag anfangen werde. Im „Natürlich Bio“ ein kleiner Schwatz mit der Besitzerin. Ach, umgezogen? Ja, 1.200 Euro warm, ja, ja, nicht leicht heute, aber ich gönn mir das, strahlt sie. Vielleicht sollte ich mir das auch mal sagen. Weiter zum Markt hinter dem Rathaus, die große Tasche dabei. Hier stimmt die Welt für mich. Für ein bisschen Kleines kriege ich mehr als ich tragen kann und was nettes Süßes noch dazu.
Auf dem Leopoldplatz ist Flohmarkt. Steht nicht auf meinem Zettel. Geh nicht hin, sag ich mir. Du hast genug eigenes Gerümpel und keinen Platz sowieso. Und schon stehe ich mitten drin. Zwischen den Resten vergangener Existenzen. Früher wollte ich davon immer etwas retten, etwas bei mir weiterleben lassen. Jetzt schaue ich nur interessiert. Bilderrahmen mit einem fröhlichen Mädchen in verschiedenen Lebensphasen. Ein FDJ-Ausweis dazu, ausgestellt 1976, letzte 30 Pfennig-Marke eingeklebt im Dezember 1989. Erinnerungen einer toten Mutter, deren Tochter jetzt Mitte 40 ist und sich nicht mehr für ihre Vergangenheit interessiert. Schnell weg hier, sonst denke ich noch daran, was meine Tochter mit dem Bild von ihr machen wird, das bei mir an der Kühlschranktür klebt und sie stolz bei der Bachelorfeier zeigt….
Als ich zu meinem Fahrrad zurückkomme, hat jemand die Spitze des türkischen Baguettes abgebissen, das ich auf dem Gepäckträger gelassen hatte. Es ist Zeit für den ersten Kaffee. Das Café Leo ist ein gefördertes Multi-Kulti-Anti-Drogen-Projekt. Ich muss mir das in Erinnerung rufen, sonst würde ich sagen, es ist eine enge Döner-Bude mit einem großen Zelt hinten dran, damit die Alkis auf dem großen Platz ein Plätzchen im Trockenen haben. Draußen kreischt eine Frau in orthopädischen Schuhen, weil der nicht ganz so helle Café-Gehilfe ihren halb abgebissenen Burger abgeräumt hat, während sie sich von einem abgerissenen Typen die Funktion eines Haschisch-Inhalators hat erklären lassen.
Mein Kaffee wirkt, die Sonne wärmt mir die Stirn. Es wird Zeit, sich zu konzentrieren. Bücher, denke ich, du wolltest dir noch Bücher empfehlen lassen für den Urlaub. Es gibt tatsächlich eine Buchhandlung bei uns, versteckt in einer Seitenstraße zwischen Rossmann und Asia-Imbiss. „Belle et Triste“ heißt sie, aber hat nix Schönes – außer den Büchern und der goldlächelnden Händlerin, die irgendwo aus Dahlem eingeflogen sein muss. Sie empfiehlt mir die „Schopenhauer-Kur“ und „Der Distelfink“ von Donna Tartt. Ein Buch übers Älterwerden – ein Buch über einen Jungen, der ins Leben startet. Genau dazwischen hänge ich ja, als alter Vater mit drei kleinen Jungs. Ich nehme sie beide. „Eins für die Hinreise und eins für die Rückreise“, sagt sie unerwartet kess. Ich fühle mich gut beraten.
Im Treppenhaus treffe ich die Nachbarin, die schon 20 Jahre hier wohnt. Sie macht irgendwas mit Kunst. Sie ist die Einzige im Haus, mit der ich Kontakt habe. Sonst alles junges Volk und Menschen, die fremde Sprachen sprechen. Sie singt im Chor und das will ich auch mal wieder. Ein kleiner Schwatz, eine Adresse, bei der ich mal vorsprechen kann – wunderbar!
Zu Hause packe ich meine Schätze aus. Aus den frischen Sachen vom Markt wird ein schnelles Steh-Buffet und mir fällt ein, dass ich nicht mehr auf meinen Zettel geguckt hab. Egal, ich leg mich erst mal hin. Über dem Wedding strahlt die Sonne und ich brauche Kraft für den Rest vom Tag.