Tag 8 – Sonntag, 06.03.2022
Ich fahre morgens gegen kurz vor 9 Uhr in das benachbarte Dorf Strzyżów. Dort habe ich mich mit Janusz, über den ich die Familie kennenlernte, verabredet und treffe ihn nach dem Gottesdienst. Er nimmt mich mit zu sich auf sein Grundstück. Heute möchte ich von ihm erzählen.
Ich begegnete Janusz am Freitag am Grenzübergang Zosin. Er arbeitet dort als einer der vielen Freiwilligen. Er ist dabei 12–16 Stunden am Tag ständig in Bewegung, koordiniert, schleppt, verteilt Essen, zeigt Leuten, wo sie was finden, kümmert sich um den Generator. Und er freute sich sehr, mal wieder Deutsch sprechen zu können.
Auf seinem Gartengrundstück steht vorne eine alte Hütte, deren bewohnte Zeiten längt vorbei sind, und dahinter sein Haus. Er erzählt begeistert von seinen Büschen und Pflanzen, wie Hibiskus und Hortensien, und dem Gemüsegarten: derzeit Lauch, Knoblauch, Zwiebeln, Rosenkohl, im Sommer natürlich auch Tomaten und vieles weitere. Wir stehen vor zwei großen Bambusbüschen und er meint: „Wenn du hier im Dorf noch Bambus siehst, haben sie den von mir.“ Man merkt ihm den Enthusiasmus und die Vorfreude auf den bevorstehenden Frühling an.
Oben links: Blick auf seinen Gemüsegarten.
Oben rechts: Kleine Rosenkohl-Pflanzen.
Unten links: Die ersten Blüten.
Unten rechts: Die hohlen Stämme lässt er liegen, damit sich dort Meisen einnisten können.
Wir gehen in sein Haus, das noch nicht fertig ist. Zwei Jahrzehnte ist es her, dass er das Grundstück gekauft hat und vor drei Jahren ist er in seine Heimat zurückgekommen und widmet sich seitdem der Sanierung. Die zieht sich gerade hin, weil er, wie er erklärt, Schwierigkeiten hat, sich für ein Heiz-System zu entscheiden. Anschluss an die Gasleitung oder doch lieber Alternativen? Die Frage kommt mir sehr aktuell vor.
Zunächst führt er mich in den weitgehend fertiggestellten Keller. Dort stehen Regale voller hausgemachter Marmeladen, Konserven, Schmalz, Säfte, Schnaps und mehr. Er hat viel eingelagert „für wenn der Krieg kommt“. Im Erdgeschoss gibt es ein Bad, Gästezimmer, Wohnzimmer, Küche und die Orangerie für die Pflanzen – eine Feige scheint sich ziemlich wohlzufühlen, trotz der einstelligen Temperaturen im Innenbereich. Der Kamin macht gerade Probleme und er heizt nur mit einer Gasflamme. Darüber im ersten Stock, den er derzeit nur kletternd über ein Gerüst erreicht, werden mal das Schlafzimmer und eine große Terrasse entstehen. Es klingt alles sehr durchdacht, auch wenn die Dinge Zeit brauchen.
Oben links: Janusz vor seinem Haus.
Oben rechts: Die Feige in seinem Haus.
Unten links: Wasserkocher in der temporären Küche.
Unten rechts: Die offene Bibel, in der er täglich liest.
Er macht uns Kaffee und kocht eine Wurst als zweites Frühstück. Er hat weder Frau noch Kinder und sagt: „Manche Leute fragen mich, wofür ich das hier alles mache. Warum ein Haus bauen mit Anfang 60, wenn ich doch alleine bin? Aber ich brauche immer etwas zu tun. Wenn ich nur hier sitze und nichts tue, sterbe ich.“ Sein Lebensstil hat etwas Abgeschiedenes und doch scheint er immer unter Leuten zu sein, ist viel in der Kirche aktiv. In seinen meist einfachen Worten höre ich vor allem Bescheidenheit.
Janusz ist jemand, der ständig in Bewegung ist und die Arbeit an verschiedenen Orten gehört zu seinem Leben dazu. Mit 15 Jahren ist er von Zuhause weg. „Ein kleiner, schmaler Junge von 43 kg und nicht mal 1,50 Meter. Ich wollte einfach weg.“ Es muss keine leichte Kindheit gewesen sein, sieben Kinder, der Vater war Alkoholiker. Er ging nach Oberschlesien, arbeitete in einem Kohlebergwerk. Man merkt ihm seinen Stolz an darauf, dass er immer unabhängig war und schon früh auf eigenen Beinen stand. Irgendwann in seinen 20ern begann er längere Episoden unbezahlten Urlaub zu nehmen und fand eine neue Beschäftigung: er reiste quer durch Osteuropa, dienstags immer Budapest, donnerstags immer West-Berlin. Manchmal hatte er 7–10 Taschen dabei, Grenzbeamten wurde Bares zugesteckt, die Waren dann auf dem Markt verkauft. Irgendwann war er der erste in seiner Gegend, der sich einen Trabbi kaufen konnte.
Links: Janusz mit einer wärmenden Tasse Tee. Rechts: Das zweite Frühstück.
Kurz vor dem Fall der Mauer ging er nach Deutschland, Rheinland-Pfalz. Da er niemanden kannte, arbeitete er erst illegal. Dann bekam er Hilfe von einem Bürgermeister und einem Priester, die ihm eine Wohnung besorgten. Mit Hilfe von Freunden folgte eine Aufenthaltsgenehmigung, Mini-Jobs, dann entschied er sich sich selbstständig zu machen. Er fing an als Gärtner zu arbeiten, Autos zu waschen und sonstige Gelegenheitsjobs zu übernehmen. Er arbeitete bei zahllosen Familien: darunter die einer bekannten deutschen Nachrichtenmoderatorin, bei Direktoren verschiedener Firmen, bei Reisebüro- oder Fahrschulinhabern, Familien von Bürgermeistern und Ingenieuren. Jemand, der in Dubai arbeitet, war auch dabei.
Es kam vor, dass er über den Tisch gezogen, für Jobs nicht bezahlt wurde oder er an dubiose Gestalten geriet. „Einmal hat mir das Herz sehr stark gewackelt und ich war im Krankenhaus. Aber Gott sei Dank ist nichts passiert.“ Und dennoch: immer wieder klingt durch, wie viele tolle Menschen er kennengelernt hat, die ihn und seine Arbeit sehr geschätzt haben. Seinen Rasenmäher habe er als Geschenk von einer Familie in Deutschland bekommen „weil sie jetzt einen dieser Roboter haben“.
Morgens beim Treffen an der Kirche.
Zuletzt war er als Pfleger in Deutschland tätig, aber da er sich nicht impfen lassen möchte, kann er dort seit September nicht mehr arbeiten. Da ist dieses Thema also wieder, das man hier schnell vergessen kann, weil es nicht besonders präsent ist. An den Grenzübergängen gibt es meist eine Möglichkeit, sich testen zu lassen und einige Menschen tragen auch eine Maske. Aber Corona ist dort nun einmal gerade nicht das Hauptproblem.
Er sagt, er glaubt nicht an die Impfung. Da dreht sich mir natürlich leicht der Magen um und wenn ich überlege, wie ihm in seinem Alter eine Infektion zusetzen könnte, wird mir etwas mulmig. Ich spüre sein Misstrauen. Ich deute an, bei dem Thema ziemlich anderer Meinung zu sein, halte seine Logik für wissenschaftlich unhaltbar. Aber ich merke auch: Er will mir hier seine Meinung nicht aufbinden, kommentiert auch meine Maske nicht, die ich trage. Meine Motivation, ihn mit gegenteiligen Argumenten zu überzeugen, hält sich dementsprechend in Grenzen.
Blick aus dem Fenster seiner zukünftigen Küche. Wenn man genau hinschaut, sind halbrechts die Schornsteine des Kohlekraftwerks in der Ukraine zu erkennen.
Von seinem zukünftigen Küchenfenster sieht man die Ukraine. Ein Kohlekraftwerk in der Ferne dient als Orientierungspunkt. Ich frage ihn, ob er Angst hat, dass der Krieg auch Polen erreicht. Man kann das nicht wissen, meint er. „Aber wenn was kommt, dann kommt was Großes. Ich habe keine Angst, ich gehe von hier nicht weg.“ Auch auf die Vorfälle in den Atomkraftwerke in der Ukraine kommt er zu sprechen, glaubt aber nicht, dass da etwas passiert, denn „Putin hat Angst, weil wenn der Wind kommt, ist er weg.“ Er wiederholt aber immer wieder, dass er es einfach nicht weiß. Man merkt ihm einen gewissen Optimismus an bezüglich der Stärke der Ukraine und ist froh, dass sie militärische Unterstützung aus Polen, Großbritannien und den USA bekommt.
Kurzer Rückblick auf unsere erste Begegnung am Freitag an der Grenze: Wir unterhielten uns über einen Zeitraum von zwei Stunden zwischen seinen Aufgaben immer wieder minutenweise. Währenddessen kamen vielfach Kolleg*innen zu ihm, stimmten kurz etwas mit ihm ab – auf Polnisch. Und mehrere Male redete Janusz einfach weiter auf Deutsch, bis er nach wenigen Sekunden die verdutzten Gesichter seiner Gesprächspartner*innen bemerkte und stoppte. Das war für mich deshalb so bemerkenswert, weil ich das nicht auf sein Alter zurückführe, sondern auf die Belastung: ich konnte ihm ansehen, wie anstrengend die Arbeit sein muss.
Er ist momentan so involviert in die Hilfsarbeit und überzeugt von deren Wichtigkeit, dass er keine Zeit findet sich um Jobs zu kümmern. „Ich sollte eigentlich meinen CV verschicken. Naja, vielleicht nehme ich morgen mal einen Tag frei.“
Er sagt, dass es ihm hier gut geht, er zufrieden mit seinem einfachen Leben ist. „Wenn du zu viel Geld hast, dann hast du teure Hobbies, dicke Autos. Wenn du heiratest, hast du Kinder, vielleicht machst du alles falsch, dann bist du geschieden. Und die Kinder wissen nicht, wer der Vater ist. Jetzt bin ich so ganz unten und brav und ganz zufrieden. Das ist die Geschichte.“
Bildredaktion: Liane Geßner
Auf dieser Seite haben wir ein paar Informationen zusammengestellt, wie man von Berlin und Wedding aus helfen kann. Die Seite wird nach und nach befüllt.
Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4 und Teil 5 der Serie nachlesen.