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Berlin – Ukraine:
Eine Reise gegen die Ohnmacht – Teil 6

Der in Berlin Wedding lebende Fotograf Tilman Vogler berichtet von seinen Beobachtungen an der ukrainischen Grenze. Im heutigen Teil geht es um einen freiwilligen Helfer und seine Geschichte.
15. März 2022

Tag 8 – Sonntag, 06.03.2022

Ich fah­re mor­gens gegen kurz vor 9 Uhr in das benach­bar­te Dorf Strzyżów. Dort habe ich mich mit Janusz, über den ich die Fami­lie ken­nen­lern­te, ver­ab­re­det und tref­fe ihn nach dem Got­tes­dienst. Er nimmt mich mit zu sich auf sein Grund­stück. Heu­te möch­te ich von ihm erzählen.

Ich begeg­ne­te Janusz am Frei­tag am Grenz­über­gang Zosin. Er arbei­tet dort als einer der vie­len Frei­wil­li­gen. Er ist dabei 12–16 Stun­den am Tag stän­dig in Bewe­gung, koor­di­niert, schleppt, ver­teilt Essen, zeigt Leu­ten, wo sie was fin­den, küm­mert sich um den Gene­ra­tor. Und er freu­te sich sehr, mal wie­der Deutsch spre­chen zu können.

Auf sei­nem Gar­ten­grund­stück steht vor­ne eine alte Hüt­te, deren bewohn­te Zei­ten längt vor­bei sind, und dahin­ter sein Haus. Er erzählt begeis­tert von sei­nen Büschen und Pflan­zen, wie Hibis­kus und Hor­ten­si­en, und dem Gemü­se­gar­ten: der­zeit Lauch, Knob­lauch, Zwie­beln, Rosen­kohl, im Som­mer natür­lich auch Toma­ten und vie­les wei­te­re. Wir ste­hen vor zwei gro­ßen Bam­bus­bü­schen und er meint: „Wenn du hier im Dorf noch Bam­bus siehst, haben sie den von mir.“ Man merkt ihm den Enthu­si­as­mus und die Vor­freu­de auf den bevor­ste­hen­den Früh­ling an.

Oben links: Blick auf sei­nen Gemü­se­gar­ten.
Oben rechts: Klei­ne Rosen­kohl-Pflan­zen.
Unten links: Die ers­ten Blü­ten.
Unten rechts: Die hoh­len Stäm­me lässt er lie­gen, damit sich dort Mei­sen ein­nis­ten können.

Wir gehen in sein Haus, das noch nicht fer­tig ist. Zwei Jahr­zehn­te ist es her, dass er das Grund­stück gekauft hat und vor drei Jah­ren ist er in sei­ne Hei­mat zurück­ge­kom­men und wid­met sich seit­dem der Sanie­rung. Die zieht sich gera­de hin, weil er, wie er erklärt, Schwie­rig­kei­ten hat, sich für ein Heiz-Sys­tem zu ent­schei­den. Anschluss an die Gas­lei­tung oder doch lie­ber Alter­na­ti­ven? Die Fra­ge kommt mir sehr aktu­ell vor.

Zunächst führt er mich in den weit­ge­hend fer­tig­ge­stell­ten Kel­ler. Dort ste­hen Rega­le vol­ler haus­ge­mach­ter Mar­me­la­den, Kon­ser­ven, Schmalz, Säf­te, Schnaps und mehr. Er hat viel ein­ge­la­gert „für wenn der Krieg kommt“. Im Erd­ge­schoss gibt es ein Bad, Gäs­te­zim­mer, Wohn­zim­mer, Küche und die Oran­ge­rie für die Pflan­zen – eine Fei­ge scheint sich ziem­lich wohl­zu­füh­len, trotz der ein­stel­li­gen Tem­pe­ra­tu­ren im Innen­be­reich. Der Kamin macht gera­de Pro­ble­me und er heizt nur mit einer Gas­flam­me. Dar­über im ers­ten Stock, den er der­zeit nur klet­ternd über ein Gerüst erreicht, wer­den mal das Schlaf­zim­mer und eine gro­ße Ter­ras­se ent­ste­hen. Es klingt alles sehr durch­dacht, auch wenn die Din­ge Zeit brauchen.

Oben links: Janusz vor sei­nem Haus.
Oben rechts: Die Fei­ge in sei­nem Haus.
Unten links: Was­ser­ko­cher in der tem­po­rä­ren Küche.
Unten rechts: Die offe­ne Bibel, in der er täg­lich liest.

Er macht uns Kaf­fee und kocht eine Wurst als zwei­tes Früh­stück. Er hat weder Frau noch Kin­der und sagt: „Man­che Leu­te fra­gen mich, wofür ich das hier alles mache. War­um ein Haus bau­en mit Anfang 60, wenn ich doch allei­ne bin? Aber ich brau­che immer etwas zu tun. Wenn ich nur hier sit­ze und nichts tue, ster­be ich.“ Sein Lebens­stil hat etwas Abge­schie­de­nes und doch scheint er immer unter Leu­ten zu sein, ist viel in der Kir­che aktiv. In sei­nen meist ein­fa­chen Wor­ten höre ich vor allem Bescheidenheit.

Janusz ist jemand, der stän­dig in Bewe­gung ist und die Arbeit an ver­schie­de­nen Orten gehört zu sei­nem Leben dazu. Mit 15 Jah­ren ist er von Zuhau­se weg. „Ein klei­ner, schma­ler Jun­ge von 43 kg und nicht mal 1,50 Meter. Ich woll­te ein­fach weg.“ Es muss kei­ne leich­te Kind­heit gewe­sen sein, sie­ben Kin­der, der Vater war Alko­ho­li­ker. Er ging nach Ober­schle­si­en, arbei­te­te in einem Koh­le­berg­werk. Man merkt ihm sei­nen Stolz an dar­auf, dass er immer unab­hän­gig war und schon früh auf eige­nen Bei­nen stand. Irgend­wann in sei­nen 20ern begann er län­ge­re Epi­so­den unbe­zahl­ten Urlaub zu neh­men und fand eine neue Beschäf­ti­gung: er reis­te quer durch Ost­eu­ro­pa, diens­tags immer Buda­pest, don­ners­tags immer West-Ber­lin. Manch­mal hat­te er 7–10 Taschen dabei, Grenz­be­am­ten wur­de Bares zuge­steckt, die Waren dann auf dem Markt ver­kauft. Irgend­wann war er der ers­te in sei­ner Gegend, der sich einen Trab­bi kau­fen konnte.

Links: Janusz mit einer wär­men­den Tas­se Tee. Rechts: Das zwei­te Frühstück.

Kurz vor dem Fall der Mau­er ging er nach Deutsch­land, Rhein­land-Pfalz. Da er nie­man­den kann­te, arbei­te­te er erst ille­gal. Dann bekam er Hil­fe von einem Bür­ger­meis­ter und einem Pries­ter, die ihm eine Woh­nung besorg­ten. Mit Hil­fe von Freun­den folg­te eine Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung, Mini-Jobs, dann ent­schied er sich sich selbst­stän­dig zu machen. Er fing an als Gärt­ner zu arbei­ten, Autos zu waschen und sons­ti­ge Gele­gen­heits­jobs zu über­neh­men. Er arbei­te­te bei zahl­lo­sen Fami­li­en: dar­un­ter die einer bekann­ten deut­schen Nach­rich­ten­mo­de­ra­to­rin, bei Direk­to­ren ver­schie­de­ner Fir­men, bei Rei­se­bü­ro- oder Fahr­schul­in­ha­bern, Fami­li­en von Bür­ger­meis­tern und Inge­nieu­ren. Jemand, der in Dubai arbei­tet, war auch dabei.

Es kam vor, dass er über den Tisch gezo­gen, für Jobs nicht bezahlt wur­de oder er an dubio­se Gestal­ten geriet. „Ein­mal hat mir das Herz sehr stark gewa­ckelt und ich war im Kran­ken­haus. Aber Gott sei Dank ist nichts pas­siert.“ Und den­noch: immer wie­der klingt durch, wie vie­le tol­le Men­schen er ken­nen­ge­lernt hat, die ihn und sei­ne Arbeit sehr geschätzt haben. Sei­nen Rasen­mä­her habe er als Geschenk von einer Fami­lie in Deutsch­land bekom­men „weil sie jetzt einen die­ser Robo­ter haben“.

Mor­gens beim Tref­fen an der Kirche.

Zuletzt war er als Pfle­ger in Deutsch­land tätig, aber da er sich nicht imp­fen las­sen möch­te, kann er dort seit Sep­tem­ber nicht mehr arbei­ten. Da ist die­ses The­ma also wie­der, das man hier schnell ver­ges­sen kann, weil es nicht beson­ders prä­sent ist. An den Grenz­über­gän­gen gibt es meist eine Mög­lich­keit, sich tes­ten zu las­sen und eini­ge Men­schen tra­gen auch eine Mas­ke. Aber Coro­na ist dort nun ein­mal gera­de nicht das Hauptproblem.

Er sagt, er glaubt nicht an die Imp­fung. Da dreht sich mir natür­lich leicht der Magen um und wenn ich über­le­ge, wie ihm in sei­nem Alter eine Infek­ti­on zuset­zen könn­te, wird mir etwas mul­mig. Ich spü­re sein Miss­trau­en. Ich deu­te an, bei dem The­ma ziem­lich ande­rer Mei­nung zu sein, hal­te sei­ne Logik für wis­sen­schaft­lich unhalt­bar. Aber ich mer­ke auch: Er will mir hier sei­ne Mei­nung nicht auf­bin­den, kom­men­tiert auch mei­ne Mas­ke nicht, die ich tra­ge. Mei­ne Moti­va­ti­on, ihn mit gegen­tei­li­gen Argu­men­ten zu über­zeu­gen, hält sich dem­entspre­chend in Grenzen.

Blick aus dem Fens­ter sei­ner zukünf­ti­gen Küche. Wenn man genau hin­schaut, sind halb­rechts die Schorn­stei­ne des Koh­le­kraft­werks in der Ukrai­ne zu erkennen.

Von sei­nem zukünf­ti­gen Küchen­fens­ter sieht man die Ukrai­ne. Ein Koh­le­kraft­werk in der Fer­ne dient als Ori­en­tie­rungs­punkt. Ich fra­ge ihn, ob er Angst hat, dass der Krieg auch Polen erreicht. Man kann das nicht wis­sen, meint er. „Aber wenn was kommt, dann kommt was Gro­ßes. Ich habe kei­ne Angst, ich gehe von hier nicht weg.“ Auch auf die Vor­fäl­le in den Atom­kraft­wer­ke in der Ukrai­ne kommt er zu spre­chen, glaubt aber nicht, dass da etwas pas­siert, denn „Putin hat Angst, weil wenn der Wind kommt, ist er weg.“ Er wie­der­holt aber immer wie­der, dass er es ein­fach nicht weiß. Man merkt ihm einen gewis­sen Opti­mis­mus an bezüg­lich der Stär­ke der Ukrai­ne und ist froh, dass sie mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung aus Polen, Groß­bri­tan­ni­en und den USA bekommt.

Kur­zer Rück­blick auf unse­re ers­te Begeg­nung am Frei­tag an der Gren­ze: Wir unter­hiel­ten uns über einen Zeit­raum von zwei Stun­den zwi­schen sei­nen Auf­ga­ben immer wie­der minu­ten­wei­se. Wäh­rend­des­sen kamen viel­fach Kolleg*innen zu ihm, stimm­ten kurz etwas mit ihm ab – auf Pol­nisch. Und meh­re­re Male rede­te Janusz ein­fach wei­ter auf Deutsch, bis er nach weni­gen Sekun­den die ver­dutz­ten Gesich­ter sei­ner Gesprächspartner*innen bemerk­te und stopp­te. Das war für mich des­halb so bemer­kens­wert, weil ich das nicht auf sein Alter zurück­füh­re, son­dern auf die Belas­tung: ich konn­te ihm anse­hen, wie anstren­gend die Arbeit sein muss.

Er ist momen­tan so invol­viert in die Hilfs­ar­beit und über­zeugt von deren Wich­tig­keit, dass er kei­ne Zeit fin­det sich um Jobs zu küm­mern. „Ich soll­te eigent­lich mei­nen CV ver­schi­cken. Naja, viel­leicht neh­me ich mor­gen mal einen Tag frei.“

Er sagt, dass es ihm hier gut geht, er zufrie­den mit sei­nem ein­fa­chen Leben ist. „Wenn du zu viel Geld hast, dann hast du teu­re Hob­bies, dicke Autos. Wenn du hei­ra­test, hast du Kin­der, viel­leicht machst du alles falsch, dann bist du geschie­den. Und die Kin­der wis­sen nicht, wer der Vater ist. Jetzt bin ich so ganz unten und brav und ganz zufrie­den. Das ist die Geschichte.“

Fort­set­zung

Bild­re­dak­ti­on: Lia­ne Geßner

Auf die­ser Sei­te haben wir ein paar Infor­ma­tio­nen zusam­men­ge­stellt, wie man von Ber­lin und Wed­ding aus hel­fen kann. Die Sei­te wird nach und nach befüllt.

Hier könnt ihr Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4 und Teil 5 der Serie nach­le­sen.

Tilman Vogler

Tilman Vogler lebt und arbeitet als Fotograf in Berlin Wedding. Mit einem Hintergrund in Politikwissenschaften interessiert er sich für gesellschaftspolitische und persönliche Themen - am liebsten in Form von tagebuchartigen Fotoessays und Dokumentarfotografie.

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