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Auf Kieztour mit Rui Fang:
Den Wedding durch chinesische Augen sehen

14. August 2025

Die Chinesen erschließen sich Berlin vor allem über chinesische Social-Media-Seiten – und dort insbesondere über Essensempfehlungen, sagt Rui Fang. Der 40-Jährige bietet Kiez-Touren für chinesischsprachige Berliner:innen und chinesische Tourist:innen an. Am liebsten führt er seine Gruppen, die im Schnitt aus rund 25 Personen bestehen, durch seine eigene Nachbarschaft. Rui, der aus der chinesischen Provinz Anhui stammt, kam schon 2002 nach Deutschland. Seit 2022 lebt er im Sprengelkiez.

„Der Wedding ist für viele Chinesen ein kulinarischer Höhepunkt in Berlin", sagt Rui. Das habe viel mit dem Erfolg des Restaurants Mr. Noodle Chen in der Willdenowstrasse 12 zu tun. Es ist die erste europäische Filiale der in China bekannten Kette Chen Xiang Gui Lanzhou Beef Noodle (陈香贵兰州牛肉面). Dass sie ausgerechnet hier aufgemacht hat, wundert Rui nicht: „In der Nähe gibt es viele neue Studierendenwohnheime – und damit ein großes chinesisches Publikum. Viele der chinesischen Bewohner haben sich noch nicht an die deutsche Küche oder das Supermarktangebot gewöhnt und schätzen Mr.Noodle Chen als ein Stück Heimat."

Die Frage, ob der Wedding mit seinen authentischen Restaurants wie Mr. Noodle Chen oder dem Lokal Lei's Küche in der Seestraße zum „Chinatown Berlins" werden könnte, wie ein Weddingweiser-Artikel kürzlich suggerierte, quittiert Rui mit einem Lachen: „Das Potenzial ist auf jeden Fall da."

Tatsächlich habe der Wedding aber schon vorher auf chinesischen Social-Media-Apps wie Xiaohongshu (Red Note) Geheimtippstatus gehabt, gibt Rui zu bedenken. Ein Grund sei etwa der Balkangrill Sarajevo, der sich direkt gegenüber von Mr. Noodle Chen befindet und schon lange regelmäßig von Chines:innen frequentiert wird. Besonders der Burek dort erinnere viele an Gerichte aus der Shanxi-Küche: „Das schmeckt wie Zuhause", hört Rui oft.

Fotos von chinesischem und bosnischem Essen: Weddingweiser

Ein weiteres Highlight für viele chinesische Gäste ist ein türkischer Imbiss auf der Luxemburger Straße, der Lammkopfsuppe anbietet – ein Gericht, das stark an westchinesische Hausmannskost erinnert. „Fast alle Chinesen, die ich kenne, kennen diesen Laden", sagt Rui. Die Betreiber:innen hätten sogar ein paar chinesische Begrüßungsfloskeln gelernt, um ihre Gäste angemessen willkommen zu heißen.

Andererseits habe der Wedding in chinesischen Onlineforen noch immer den Ruf, ein gefährliches Pflaster zu sein. Nachdem Mr. Noodle Chen zum Pilgerort geworden war, diskutierten viele online, ob man nach dem Abendessen noch allein zur U-Bahn laufen könne, „ohne sein Leben zu riskieren", erzählt Rui. „Ich gehe deshalb bei meinen Touren auch bewusst an den Leopoldplatz, den viele Chinesen für den kriminellsten Ort Berlins halten. Und dann erkläre ich, warum es dort so aussieht, wie es aussieht."

Rui spricht mit seinen Gruppen über soziale Fragen und Stadtverwaltung, über Drogenhilfe, Verdrängung und Infrastruktur. „Viele in China wissen gar nicht, wie die Verwaltung einer Stadt arbeitet oder wie öffentliche Gelder eingesetzt werden. Dass ein Ort wie der Leopoldplatz mitten in der Stadt liegt, ist für viele unverständlich – sie assoziieren das eher mit Ghettos oder Favelas, bis sie verstehen, dass hier Drogenabhängige saubere Nadeln, Spritzen oder medizinische Betreuung erhalten können."

Das Interesse an solchen Einblicken ist groß. Rui zeigt auf seinen Spaziergängen auch kulturell und geschichtlich interessante Orte wie ExRotaprint, das ehemalige Gerichtsgebäude, die Uferstudios oder die Luisenbibliothek, wo er die Geschichte des Gesundbrunnens als Heilanstalt erklärt. „Viele staunen auch über Silent Green – dass in einem alten Krematorium heute Kultur stattfindet, das ist in China, wo Kremationen die häufigste Bestattungsform sind, eher unvorstellbar."

Fotos vom Pekinger Platz: Weddingweiser

Auch der Pekinger Platz oder die Kiautschoustraße sorgen für Aha-Momente. Die koloniale Vergangenheit Deutschlands in China sei vielen Teilnehmer:innen kaum bekannt. „In China gibt es keine Erinnerungskultur wie hier. Daher ist die Geschichte nicht sehr präsent im Kopf."  

Gerade junge Chinesen haben inzwischen ihre Meinung über den Wedding geändert und ihre anfängliche Scheu abgelegt, sagt Rui. Das liegt zum einen an den regelmäßigen Besuchen bei Mr.Noodle Chen, zum anderen aber auch am Kollektiv CiLens, das im Kino Sinema Transtopia gegenüber der S-Bahn-Station Wedding aktuelle chinesische Filme zeigt.

Jede Tour endet folgerichtig mit einem gemeinsamen Essen – was jedoch nicht unbedingt chinesisch sein muss. Rui empfiehlt auch Orte wie die Theke, Dilekerei oder Julius am Nettelbeckplatz. Sein persönlicher Favorit ist jedoch das UUU in der Sprengelstraße 15 – für ein Gruppenessen ist es allerdings etwas teuer. „Abends gibt es dort chinesisches Fine Dining und hochwertiges Tea-Tasting für Kenner." Das Menü liegt bei etwa 100 Euro pro Person, geöffnet ist mittwochs bis samstags am Abend.Trotz wachsendem Angebot sieht Rui im Wedding weiterhin viel Luft nach oben: „Gesundbrunnen könnte zum Beispiel noch viel chinesische Lokale vertragen. Zwischen Mitte und Pankstraße gibt es kaum etwas." Und was sonst noch fehlt? „Ein authentischer Bubble-Tea und Pastry-Shop aus China oder Taiwan – am besten auf der Triftstraße, dann könnte man nach einem Besuch bei Sarajevo und Mr.Noodle Chen noch wie in China üblich Halt für einen Nachtisch machen. Dann wäre das China-Gefühl im Kiez perfekt."

Text/Fotos (wenn nicht anders angegeben): Fabian Peltsch

Link zum Instaprofil von Rui Fang

Fabian Peltsch

Seit Jugendtagen wollte Fabian Peltsch in immer größeren Städten leben. Vom Dorf am Bodensee arbeitete er sich langsam hoch bis nach Peking. 2013 verschlug es ihn in den Wedding, wo er endlich die Balance zwischen urbanem Wahnsinn und nachbarschaftlicher Heimeligkeit gefunden hat. Hauptberuflich schreibt er als China-Experte für das Medienhaus Table.Media und als Kulturjournalist für den Rolling Stone und den Musikexpress. Sein Hauptquartier liegt am Nordufer.

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