Die Mauer ging zum Wedding auf. Und so war der Wedding auch der erste Teil von Westberlin, den die Ostberliner nach Öffnung des Grenzübergangs an der Bornholmer Straße am 9. November 1989 erreichen konnten. In den Monaten danach wurde unser Stadtteil von Besucherinnen und Besuchern aus der DDR geflutet. Was waren die beliebtesten Ziele der DDR-Bürger im Wedding? Wo kann man diese Orte heute noch im Original bewundern? Und was kommt wieder?
Kaufhäuser
Nicht nur das KaDeWe, sondern auch die Kaufhäuser im Wedding erlebten nach der Grenzöffnung einen unvorstellbaren Zulauf aus dem Osten. Die Karstadt-Filiale am Leopoldplatz war Anfang der 90er sogar über Jahre hinweg deutschlandweit die umsatzstärkste Filiale des Kaufhauskonzerns. Heute unvorstellbar. Denn seit Jahren kämpft das Haus an der Ecke Müller-/Schulstraße ums Überleben. Mittlerweile hat der Konzern Galeria Karstadt Kaufhof Insolvenz angemeldet.
Auch von außen sieht der ehemalige Publikumsmagnet nicht mehr gut aus. Die Betonfassade ist schon so marode, dass die Besucherinnen und Besucher durch Netze vor herabfallenden Brocken geschützt werden müssen (sollte es zur Renovierung nicht einen Zuschuss vom Bezirk geben?). Aber das Warenangebot, das vor mehr als 30 Jahren manchem Ostberliner Tränen der Verzückung in die Augen und das Begrüßungsgeld (siehe unten) aus der Tasche zauberte, gibt es zum Teil heute noch. Im Erdgeschoss findet man neben Armbanduhren und der unvermeidlichen Parfümduftinsel so solide Artikel wie Geldbörsen aus Leder, haltbare Herrensocken und praktische Taschentücher aus Stoff (nachhaltig!). Folgt man den glänzenden Rolltreppen in die oberen Stockwerke, gibt es dort, seit das Nähmaschinengeschäft am Leopoldplatz einem Coffee-to-go-Laden gewichen ist, die wahrscheinlich letzte Kurzwarenabteilung des Wedding zu entdecken – und natürlich auch noch echte West-Jeans (Lewis 501).
Buchläden
Winfried Kellmann vom Buchladen Belle-et-triste in der Amsterdamer Straße widerlegt in einem Gespräch das böse Gerücht, dass es den Besuchern aus dem Osten im „Schaufenster des Westens“, wie Westberlin beschönigend genannt wurde, nur um materielle Dinge gegangen sei. „Vor unserem Laden standen die Leute geduldig Schlange, um Bücher zu bekommen, die es in der DDR nicht gab. Manche fragten mit sächsischem Dialekt „Hom se Garl Moy?“ Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass Karl May gemeint war. Wir hatten und wir haben ihn immer noch im Sortiment.“ Nicht so in der DDR: Der Abenteuerschriftsteller aus dem sächsischen Radebeul wurde von der DDR-Führung lange als „Rassist und Deutschtümler“ eingestuft und selbst seine Winnetou-Bücher wurden im Osten nur in einer kleinen Auflage gedruckt. Das Belle-et-Triste, das dieses Jahr sein 40-jähriges Bestehen feiert, hat sich seit der Wende äußerlich nicht viel verändert. Die Schlangen vor der Tür sind weg – aber drinnen gibt es nach wie vor Holzregale, Linoleumboden und sonst nichts als gute Bücher – die man jetzt allerdings auch online bestellen kann.
Unverändert, oder neu belebt, ist auch die Diskussion über Winnetou, nachdem der Ravensburger Verlag ein Winnetou-Kinderbuch nach Rassismus-Vorwürfen eingestampft hat. „Überholen ohne einzuholen“ ist eigentlich ein Slogan aus der DDR. Aber zumindest bei der Karl-May-Kritik hat Westdeutschland jetzt mit dem überwunden geglaubten Ost-Regime gleichgezogen.
Sex-Shops
„War schon ‘ne Menge los bei uns, damals.“, erinnert sich der Mann hinter der Kasse, den wir „Hans“ nennen wollen, an den Ansturm nach der Maueröffnung. Seit 1983 gibt es den „Sex-Laden“ in der Seestraße 63. Und seit Anfang an ist auch Hans dabei. „Familienbetrieb“, mehr verrät der Mann, den ich auf Mitte 50 schätze, nicht. Der Laden sieht von innen und von außen noch immer so aus, wie ein Sex-Shop in den 80ern im Westen aussehen musste: Draußen grelle Farben und blinkende Lichter, drinnen Dämmerlicht, Videokabinen, Pornohefte in abgeschabten Plastikhüllen und Sexspielzeug. „Die Ossis waren neugierig und haben viel gelacht“, erinnert sich Hans. Wo seine Kundschaft heute herkommt, frage ich ihn. „Aus aller Welt. Und aus der Nachbarschaft“, grinst er vieldeutig. „Die Kids hier aus der Ecke die freuen sich schon, wenn sie 18 werden und endlich hier rein dürfen.“ Auch deswegen gebe es den Laden noch. „Und weil wir billiger sind. Wir haben sogar Orion überlebt“, sagt er stolz und meint damit die ehemalige Filiale der Erotik-Kette „Orion“ im seit langem geschlossenen Schillerpark-Center. Nur eins hat sich in den Jahren geändert. „Die Schaufensterscheibe haben sie uns schon zwei Mal hintereinander eingeschmissen. „Jetzt haben wir sie nicht mehr erneuert, sondern nur noch geklebt. Aber wir bleiben.“
Supermärkte
Volle Regale! Das war das Versprechen, mit dem der kapitalistische Westen die unter der sozialistischen Mangelversorgung leidenden Ostberliner über die Grenze lockte. Tatsächlich boten die damaligen Westberliner Konsumtempel Bolle, EDEKA oder Kaiser‘s für sie eine ungekannte Fülle von Waren und Verlockungen. Doch damit war bald Schluss. Durch den Ansturm der Brüder und Schwestern aus dem Osten erlebten die Weddingerinnen und Weddinger zum ersten Mal seit der Luftbrücke von 1948 Lücken in der Lebensmittelversorgung. „Ganz schlimm für mich war, dass kurz vor Weihnachten nirgends mehr Dominosteine zu kriegen waren“ beschreibt Michael, ein geborener Weddinger, die traumatische Situation, die ihn auch noch nach mehr als 30 Jahren nicht loslässt. „Seitdem horte ich jedes Jahr Dominosteine, sobald es welche zu kaufen gibt.“
Wer sich anschauen möchte, wie ein Westberliner Supermarkt in den 1980er Jahren aussah, kann EDEKA Schatz in der Sprengelstraße besuchen. Die kahlen Neonröhren sind zwar durch LED-Leisten ersetzt worden. Aber sonst hebt sich die karge Original-Inneneinrichtung mit in enger Reihe stehenden Regalen und abgeschabtem Kalkputz angenehm von den Einkaufs-Erlebnis-Landschaften ab, die in anderen Filialen Einzug gehalten haben und bei denen der abblätternde Putz nur ein stylisches Gestaltungselement ist.
Die Lücken in den Regalen sind aber dort und bei anderen Supermärkten nie wieder ganz verschwunden. Dominosteine gibt es zwar überall jedes Jahr schon seit September. Aber nach Toilettenpapier (Corona) und Kindermilchpulver (Chinesen) ist es jetzt der gemeinsame Kampf der großen Handelsketten gegen die Preispolitik US-amerikanischer Süßwaren- und Getränkekonzerne wie Mars und Coca-Cola, der dazu führt, dass manche beliebte Leckerei im Angebot fehlt. Westdeutsche Kaufleute im Kampf gegen US-Imperialisten. Wenn Erich Honecker das noch erleben dürfte.
Rathaus
Auch am neuen Rathaus Wedding in der Müllerstraße, an dem sich jeder DDR-Bürger nach der Ankunft in West-Berlin 1989 sein Begrüßungsgeld von 100 D‑Mark abholen konnte, haben die mehr als 30 Jahre seit der Wende erstaunlich wenig verändert. Im Gegenteil: Es strahlt, frisch renoviert, schöner denn je, seit dort das Jobcenter Mitte eingezogen ist. Der ehemalige Stadtrat Bernd Schimmler erinnert sich in seinem Buch „Der Wedding –Vergangenheit und Veränderung“ (Verlag Walter Frey, 2022) an die herausfordernden Tage im November 1989, an dem die Berliner Verwaltung im damaligen BVV-Saal zu heute undenkbaren Höchstleistungen auflief. „Es gab (am Tag nach der Grenzöffnung) keine Schwierigkeiten, Beamte für das Wochenende zu finden, die das Begrüßungsgeld im BVV-Saal auszahlten, während sich auf dem Rathausvorplatz lange Schlangen bildeten.“ Das Geld, 1 Million DM, wurde laut Schimmler vom Finanzstadtrat persönlich in Plastiktüten von der gegenüberliegenden Berliner Bank abgeholt. Dass das rechtlich nicht ganz sauber war, fiel später auch dem Berliner Rechnungshof auf. Der damalige Finanzstadtrat versprach darauf vollmundig „Das Bezirksamt wird sich bei der nächsten Wiedervereinigung an die Kassenregeln halten.“ Wäre er heute noch im Amt, müsste er sich an seinen Worten von damals messen lassen. Denn neben dem Jobcenter, vor dem Klinkerbau des alten Rathauses Wedding in der Müllerstraße, bilden sich seit dem Frühling 2022 wieder jeden Morgen Schlangen von Menschen, die sich Geld abholen wollen. Diesmal kommen sie aus der Ukraine.
Mir hat der Artikel sehr gut gefallen. Habe an einigen Stellen lachen müssen. Toller Schreibstil!
Liebe Regine, es gibt im Wedding ja auch noch die Mauer-Gedenkstätte in der Bernauer Straße. Vielleicht willst du zum nächsten Gedenktag einen Beitrag über das Mauer-Gedenken im Wedding schreiben. Würde mich freuen.
Hi Rolf
Hätte nicht geschadet, wenn du den Platz des 9. November 1989 an S Bornholmer erwähnt hättest.
https://www.berlin.de/mauer/mauerweg/stadtroute/wollankstrasse-nordbahnhof/platz-des-9-november-1989–262939.php
Dort wurde die Berliner Mauer erstmals geöffnet, und auf dem bescheidenen Platz als Gedenkort wird auf Fototafeln und anhand von Bodenplatten in Etappen das Warten auf die Öffnung an diesem Abend gezeigt.